Dieser Beitrag ist Teil unseres Jahresrückblicks REWIND2023. Alle Texte findet ihr hier.
Das Jahr 2023 war eines der sich verschlimmernden ökonomischen Krisen. Viele Clubs und Festivals pfeifen aus dem letzten Loch, für kleinere Artists bleiben zunehmend weniger Krumen vom großen Kuchen über. Eben jene teilen sich stattdessen Tech-Unternehmen und Musikkonzerne immer exklusiver untereinander auf – und langen dabei auch zunehmend nach den Anteilen einer Subkultur, die in diesem Jahr endgültig Anschluss an den Mainstream fand.
Plötzlich erklingt zur Primetime großer Festivals ein am Underground geschulter Sound, veröffentlichen aus Szenekontexten stammende Produzent:innen bei Major-Labels und werden zunehmend mehr Eckpfeiler der unabhängigen Musikwelt weggeschluckt. Im Jahresrückblick seiner Kolumne konkrit nimmt Kristoffer Cornils die nicht immer freiwillige Rückkehr in den Mainstream in den Blick. Und ordnet sie in noch weitreichendere musikwirtschaftliche Zusammenhänge ein.
Das Jahr 2023 wurde von dem Erscheinen einer öffentlich-rechtlichen Scooter-Dokumentation im Januar und der Veröffentlichung einer „Rhythm Is a Dancer”-inspirierten Kollaboration von Peggy Gou und Lenny Kravitz wenige Wochen vor Redaktionsschluss dieses Textes eingerahmt. Dazwischen coverte Nina Kraviz „Bailando”, kletterte ein Pseudo-Gabber-Rap-TikTok-Hit mit Ski Aggu, Joost und Otto die Charts hoch, trafen Domiziana und Blümchen für einen Feature-Track über MDMA zusammen und gab H.P. Baxxter obendrein den Resident Advisor für ein junges Publikum, indem er im Track „Berliner Luft” von Scooter ein paar Berliner Clubs aufzählte.
Rave, oder was manche darunter verstehen, ist also wieder in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Geschichte wiederholte sich damit in diesem Jahr, und das als gleich doppelte Farce: In der Rückkehr von Scooter wie auch den musikalischen Rückbezügen auf Eurodance-Smasher und deren Held:innen drückt sich die Verramschung von subkulturellen Codes und Ästhetiken aus, für die sie schon dereinst standen. Wie bereits nach dem Umbruchsjahr 1994 bis zu den letzten Zügen des Eurodance-Hypes am Ende des Jahrzehnts schöpft der Mainstream erneut sein kulturelles Kapital aus der Szene für elektronische Musik ab, um es in finanzielles umzumünzen – und im Resultat feiert Schlümpfe-Techno seine Wiederkehr.
Das alles ließe sich ignorieren wie dereinst der Siegeszug von Mehrzweckhallen-Trance oder der EDM-Hype der frühen Zehnerjahre, wenn die Grenzen sich so leicht ziehen ließen wie anno dazumal. Denn nach einem altbekannten Muster strebten auch ein paar Mitglieder der Szene bewusst nach oben: VTSS und Boys Noize kollaborierten für eine Single auf dem Major-Label Big Beat der Warner Music Group (WMG) und damit in direkter Nachbarschaft von David Guetta und Robin Schulz. Narciss und DJ Heartstring landeten mit ihrer gemeinsamen EP Why Can’t We Live Forever auf Polydor von der Universal Music Group (UMG) zwischen Billie Eilish und den Jonas Brothers.
Auch das ist per se nicht verwerflich und muss im Einzelfall auch gar nicht das Anzeichen einer irgendwie korrumpierten Integrität einzelner Personen oder gar der Szene als solcher darstellen. Ist es doch ebenso nichts Neues: Schon die Masters At Work arbeiteten sich in feiner Regelmäßigkeit an Pop-Blockbustern ab und machten das gemeinhin gut, auch ein Major-Vertrag für kredible Artists war hin und wieder drin. So etwa zum Höhepunkt des Drum’n’Bass-Hypes: Roni Sizes und Reprazents New Forms wurde von Mercury neu aufgelegt, wo die Crew um Krust noch eine Weile unter Vertrag stand, und selbst Photek veröffentlichte geschmackssichere Klassiker auf Virgin Records – es hat sie nicht verbogen.
„Sollen sie doch, solange die Leute es mögen.”
Es selbstständig arbeitenden Künstler:innen vorzuwerfen, ein paar Euros zu machen, während mit kleinen Labels im Rücken heutzutage nicht einmal der Aufstrich für das tägliche Brot zu verdienen ist, wäre sowieso wohlfeil. Sollen sie doch, solange die Leute es mögen. All das heißt schließlich überhaupt nicht, dass es keine spannende Musik und mit viel Herzblut organisierte Dinge gäbe, die noch an ehernen Werten festhalten.
Doch Techno boomt wieder: Für das Jahr 2019 vermeldete der IMS Business Report noch 7,3 Milliarden US-Dollar Marktvolumen des Geschäfts mit der elektronischen Musik, für das Jahr 2022 satte 11,3 Milliarden US-Dollar. Deshalb gerät es mitten in neue Wertschöpfungskriege der Musikindustrie hinein, die mit weitaus härteren Bandagen geführt werden als noch vor einem guten Vierteljahrhundert. Und deshalb wird es zunehmend schwieriger, überhaupt die Grenzen zwischen Overground und Underground zu ziehen, weil das große Geld mehr denn je durch alle Ritzen sickert und immer mehr – ob gewollt oder nicht – die kleinen Nummern miternährt.
Sellout? Aufkaufrausch!
Am Valentinstag dieses Jahres gab Schmalzgarant Billy Joel dort ein Konzert, am 21. Februar standen mit Carrie Underwood und Jimmie Allen zwei Speerspitzen des zeitgenössischen Mainstream-Country-Rocks auf der Bühne: Der Madison Square Garden (MSG) gehört mit einer Kapazität von fast 20.000 Plätzen zu den größten Veranstaltungsorten der USA, dementsprechend treten dort nur die größten Superstars auf. Zwischen Joels Konzert und dem Country-Double-Billing spielten auf der für sie viel zu großen Bühne auch drei DJs ein paar Tunes. Fünf Stunden lang liefen die CDJs heiß, hatten alle Anwesenden offensichtlich Spaß daran, und sogar die Presse fand am Tag darauf weitgehend lobende Worte für das Spektakel.
Dass an diesem 18. Februar in einer der größten Arenen dieser Welt elektronische Tanzmusik zu hören war, ist per se nichts Ungewöhnliches. Schon Steve Aoki oder David Guetta haben in der Vergangenheit ebendort ihre Tortenkanonen respektive Hitfeuerwerke gezündet, die Liste ließe sich noch um ein paar weitere EDM-Stars erweitern. Nur fällt von den drei DJs, die sich an diesem Abend an den Decks abwechselten, höchstens einer in diese Kategorie – und just er spielte im Laufe des Jahres noch weitere Gigs auf etwa dem Festival Draaimolen, Seite an Seite mit Blawan, und später auf Einladung des Labels PAN im Berghain, wohin er übrigens im Januar 2024 für ein weiteres B2B im Rahmen des CTM Festivals zurückkehren wird.
Die Trias Skrillex, Fred again.. und Four Tet repräsentiert wie keine andere, wie verworren sich mittlerweile die Zustände darstellen, wie schwammig die Grenzen zwischen Overground und Underground, Pop und Club geworden sind. Mehr noch als aus der Vergangenheit bekannt, versuchen sie trotz ihrer Größe ihre Kompatibilität im kleinen Rahmen unter Beweis zu stellen. Wie neuerdings beim Ex-Brostepper Skrillex gehört es etwa seit Beginn der Solo-Karriere des ehemaligen Ed-Sheeran-Songwriters Frederick Gibson zum System Fred again.., sich mit aus Szenekontexten kommenden Künstler:innen zu umgeben und ihre Kredibilität abzuschöpfen und obendrein noch den Sound von Burial, Jamie xx, Bicep und Overmono für seine Produktionen anzuzapfen.
Es wird sich also gewissermaßen strategisch mit fremden Federn geschmückt. Aber was ist mit Four Tet? Der ist doch immer noch „einer von uns” – oder? Irgendwie schon, klar. Und doch ist er in ähnliche Strukturen eingebettet. Während Skrillex nicht gerade im Berghain auflegt, lässt er die über sein Label Owsla veröffentlichten Releases über das zur Warner Music Group (WMG) gehörende Major-Label Atlantic vertreiben. Fred again.. steht ebendort direkt unter Vertrag. Four Tet hingegen betreibt ein Indie-Label – die Verwaltung seiner Rechte übernimmt allerdings seit Anfang 2022 der Verlag eines noch größeren Giganten als WMG: UMG.
Ebenso wie im Falle der Major-Signings von VTSS sowie Narciss & DJ Heartstring wäre es müßig, Kieran Hebden den Deal mit dem größten Musikkonzern der Welt oder seine – augenscheinlich ja recht spaßige – Zusammenarbeit mit Fred again.. und Skrillex zum Vorwurf machen. Als Beispiele verdeutlichen sie allerdings im Einzelfall, wie unentwirrbar das große Geld und die kleine Szene sich allgemein mittlerweile mischen, ob nun hinter dem DJ-Pult oder aber doch in der Buchhaltung.
Denn die sukzessive Annäherung findet auch hinter den Kulissen statt, und zwar nicht immer vollständig freiwillig. Weil UMG Ende 2022 de facto [PIAS] aufgekauft hat, ist nun der größte Musikkonzern der Welt an der Distribution von Musik auf etwa den zu fabric und XL Recordings gehörenden Labels beteiligt. Auch in anderer Hinsicht ist UMG mittlerweile sehr nah an den Fans des Underground-Sounds: Das Unternehmen hat sich in diesem Jahr stillschweigend im Online-Radio NTS eingekauft, eigentlich auch eine Bastion des Grenzgangs und der Mainstream-abgewandten Musik. Apple Music hatte es mit Beats In Space ja vorgemacht.
So sah es allerdings fast überall aus, so schwer lässt sich dem Großkapital mittlerweile entfliehen. Wer heutzutage auf Bandcamp Musik (ver-)kauft, füllt damit nach der Übernahme von Epic Games indirekt die Taschen von Songtradr, einer derzeit hemmungslos kaufwütigen Firma. Wer Tunes von etwa DJ Pierre, Kerri Chandler oder Ron Trent streamt, die über das Label King Street Sounds veröffentlicht wurden, schickt damit indirekt Mini-Geldbeträge an die von Armin van Buurens Armada Music gegründete Investmentfirma BEAT Music Fund, die in den kommenden Jahren eine halbe Milliarde US-Dollar auf den Kopf hauen will, um die Rechte an Klassikern zu erwerben und sie dem Publikum als alten Wein in neuen Schläuchen zu verkaufen.
Ein ähnliches Bild bietet sich auf dem Dancefloor. Während die mittelgroßen und kleinen Akteur:innen der Club- und Live-Branchen sowie die Festivalindustrie in diesem Jahr wegen gestiegener Kosten und verringerter Einnahmen Alarm schlugen, meldeten Firmen wie Live Nation oder hierzulande CTS Eventim echte Rekordeinnahmen und konnten Unternehmen mit Festivalspektakeln wie der Nature One im Portfolio ebenfalls auf ein gutes Geschäftsjahr zurückblicken. Es ist nicht undenkbar, dass in diesem Feld bald ebenfalls die Großen die Kleinen schlucken könnten, um noch den letzten Tropfen Profit aus ihnen zu quetschen. Präzedenzfälle dafür gibt es schon: Superstruct kaufte unter anderem das Snowbombing, schon im Vorjahr wurde die DGTL-Marke verscheuert.
Eine ähnliche Bewegung hin zur marktweiten Konsolidierung zeichnete sich ja schon in der Branche für Musikproduktion ab. InMusic kaufte Moog und die AlphaTheta Corporation (Pioneer DJ) verleibte sich Serato ein – nur zwei Beispiele einer weitreichenden Entwicklung, die kaum jemand scharfsinniger und -züngiger analysierte als Benn Jordan in einem seiner Videos. Es gab auf dem Musikmarkt noch viele andere solcher Beispiele von mehr oder minder freundlichen Übernahmen, Ein- und Aufkäufen im Verborgenen zu beobachten. Ein allgemeiner Trend ist unmöglich zu leugnen, und das Bild wird – wie sich dank einer von der Journalistin Cherie Hu erstellten Infografik leicht nachvollziehen lässt – immer verworrener. Was heißt das aber angesichts des endgültig wieder entflammten Interesses an unabhängigen Firmen und ihrem subkulturellen Kapital?
„Der Run auf den Underground hat nicht viel mit der eigentlichen Musik zu tun.”
Es heißt, dass es kaum ins Gewicht fällt, ob einzelne Produzent:innen freiwillig bei Majors unterschreiben oder nicht. Denn die Abhängigkeiten bestehen sowieso, mehr noch intensivieren sie sich zunehmend. Neben all den Einzelfällen des zur Situationship herangereiften Flirts von Underground und Overground stehen also im Kontext noch viel weitreichendere Veränderungen in der Musikindustrie. Statt von einem Sellout hier oder dort muss eher die Rede von einem großen Aufkaufrausch sein. Der Run auf den Underground hat nicht viel mit der eigentlichen Musik zu tun, sondern steht im Kontext eines immer aggressiveren Kampfs um Einsparungen einerseits und Marktanteile andererseits.
Angetrieben wird er von einer allgemeinen wirtschaftlichen Schlechtwetterlage. Denn obwohl Firmen wie UMG mit einem Marktwert von rund 50 Milliarden US-Dollar scheinbar gute Zeiten durchleben, sehen die Perspektiven nicht ganz so rosig aus: Inflation und andere wirtschaftliche Krisen ebenso wie geringere Wachstumsgeschwindigkeiten machen auch einer Firma wie der von Lucian Grainge Sorgen.
Downsizing und Upscaling: Das „Jahr der Effizienz”
Schon im Vorjahr standen die Zeichen auf Rezession, in diesem waren ihre Konsequenzen zu spüren. Die Schlagworte dafür, wie damit umzugehen sei, lieferte die Tech-Branche, von der die Musikindustrie seit dem Siegeszug der Streamingwirtschaft existenziell abhängig ist. Mitte März kündigte Mark Zuckerberg ein „Jahr der Effizienz” für Meta an. Was genau heißt das? Zum einen, dass sein Unternehmen innerhalb nur eines Jahres über 20.000 Stellen strich und seine Investitionen aus Bereichen wie dem sogenannten Metaversum zurückzog. Zum anderen, dass etwa bei Facebook – wir erinnern uns: bis zum Jahr 2019 begrüßte uns der Login mit den Worten „It’s free and always will be” – und Instagram ein Abo-Modell eingeführt wurde, um sich aus datenschutzrechtlichen Verpflichtungen rauszuwinden (und obendrein einen schnellen Taler zu machen). Einerseits findet also ein Downsizing statt und werden Kosten gespart, andererseits wird jede Möglichkeit genutzt, um die Einnahmen zu maximieren.
Meta ist nicht das einzige Tech-Unternehmen, das diesen Weg nahm, auch wenn es dabei am rabiatesten vorging. Auch Spotify ging ähnlich vor. Das Wort der „Effizienz” verwendeten CEO Daniel Ek und CFO Paul Vogel in einer Schalte mit Investor:innen laut Zählung der The-Verge-Kolumnistin Ariel Shapiro satte 30-mal. Insgesamt 2.300 gestrichene Stellen seit Januar sowie eine Reihe von Maßnahmen zur Profitmaximierung verdeutlichen, was genau das bedeutet: Im Musikbereich werden noch mehr Pay-to-Play-Angebote für Künstler:innen angeboten, die sich einem immer größer werdenden Konkurrenzdruck und vielleicht in Zukunft sogar vollständig ausbleibenden Ausschüttungen für ihre weniger häufig gehörten Tracks ausgesetzt sehen.
Von wegen „artist-”: Das neue System ist vielmehr „major-centric.”
Insbesondere das von Spotify angekündigte, ab Anfang nächsten Jahres greifende Ausschüttungsmodell repräsentiert wie kein zweites die neue Effizienzgeilheit im Tech-Sektor wie auch der Musikindustrie. Nachdem führende Stimmen des Business wie der UMG-CEO Lucian Grainge ab Anfang dieses Jahres immer lauter ein „artist-centric-”Modell forderten, lag der Geruch nach Revolution oder zumindest einer handfesten Reform der Tantiemenausschüttungen im Raum. Die große Umverteilung fand dann allerdings nur nach oben statt. Das zeigte sich, als Deezer in Frankreich zuerst sein „artist-centric”-Modell ausrollte. Das bewiesen erst recht die Ankündigungen von Änderungen bei Spotify ab Anfang nächsten Jahres.
Ob bei Deezer oder eben Spotify: Der vom Kleinvieh in der Streaming-Ökonomie produzierte Mist wird zu großen Heuballen zusammengerollt, die mundgerecht an große Superstars und ihre Labels weiterverfüttert werden. Von wegen „artist-”: Das neue System ist vielmehr „major-centric” – und die Plattformen sparen bei dem Ganzen vermutlich fröhlich mit. Auch das ist Geschichte, die sich wiederholt: Die Streaming-Unternehmen und die Big Three – UMG, Sony Music Entertainment (SME) und WMG – hatten damals erst die sonderbaren Konditionen für die Ausschüttung von Geldern unter sich ausgehandelt, an die sich nun alle halten müssen. Die BR-Doku-Serie Dirty Little Secrets vollzog das in diesem Jahr am Beispiel Spotifys anschaulich nach.
Noch hat Tidal – das bereits Anfang des Jahres verkündete, gemeinsam mit UMG an einem ähnlichen Modell zu arbeiten – nicht nachgezogen. Auch andere Streaming-Anbieter wie Apple Music oder Amazon halten sich bedeckt. Der Druck auf sie wächst allerdings, sind sie doch von denen abhängig, die durch die Neustrukturierung der Verteilungsmodalitäten – um ein wirklich neues Modell handelt es sich keineswegs – bevorzugt behandelt werden. Wenn sie dem Beispiel Deezers und Spotifys folgen, dann sicherlich nicht im Sinne der Künstler:innen, die angeblich im Zentrum stehen sollen.
„Unternehmen nehmen nicht einmal Rücksicht auf ihre Belegschaften. Sie werden das umso weniger in Hinblick auf eine Szene tun, für die sich nur konjunkturzyklisch interessieren.”
Auf eben jenen, oder genauer gesagt den mittelgroßen und kleineren unter ihnen, lastet deshalb umso mehr Druck, eine Schippe draufzulegen, wenn sie überhaupt etwas aus dem Streaming-Geschäft verdienen wollen. Die lohnenswerten ins Töpfchen, die brotlose Kunst ins Kröpfchen: Auf eine Art war dies schon immer die leitende Losung der Musikindustrie, spätestens in diesem Jahr wurde der Selektionsprozess allerdings noch rigider. Ob die Tech-Unternehmen oder die großen Musikkonzerne wie UMG: Sie alle weiten ihre Macht und Einflussnahme aus, ein Entkommen gibt es vor ihnen nur schwerlich.
Der Sellout wird damit immer mehr zur logischen Konsequenz. Die Frage ist nur: Müssen jetzt wirklich alle dieses Spiel mitspielen? Und wie lange wird es überhaupt gehen?
Rückzug in den Underground?
Wir wissen aus den Neunzigern und den Nullerjahren, wie es ausgeht, wenn die Alkohol- und Tabakkonzerne ebenso wie die Medienunternehmen ihr Interesse an der Szene verlieren. Das jüngste Beispiel für einen Cashout ist die Einstellung der Red Bull Music Academy (RBMA) im Jahr 2019. Über 21 Jahre hinweg, das heißt vom Ende der einen Boom-Phase bis zum Beginn der nächsten, hielt die von einer Marketingagentur für den Wachmachbrausegiganten geleitete Akademie der Szene die Stange. Beziehungsweise, je nach Betrachtungsweise, infiltrierte sie erfolgreich ihre Infrastrukturen.
Lern- und Workshop-Angebote, Aufnahme-Sessions sowie Plätze im Radio und sogar Veröffentlichungen über das hauseigene Label sowie nicht zuletzt Zuverdienste durch Live-Auftritte unter dem Bullen-Banner bot RBMA aufstrebenden Künstler:innen. Dann jedoch wurde der Stecker gezogen, und all das fiel mit einem Schlag weg, kaum ein Jahr, bevor die Welt in den ersten Lockdown ging und sich die bereits brodelnde Wertschöpfungskrise noch zuspitzte.
Privatwirtschaftliche Marketingkampagnen wie RBMA wurden immer zwiespältig diskutiert, letztlich aber schien das Gute – immerhin ein bisschen Geld und Aufmerksamkeit, mehr Togetherness und hey, guten Journalismus gab es obendrein – das Schlechte zu überwiegen. Nur ist das Gute eben wenig wert, wenn es sich nur kurzzeitig auf den eigentlichen Strukturen bequem macht, statt aus ihnen heraus entwickelt zu werden. Dasselbe lässt sich, nur in viel weitreichenderem Ausmaß, über die neue Liebelei von Overground und Underground sagen.
Denn es geht weniger darum, dass Dance Music eben gerade am Puls der Zeit entlangbounct und ein paar Firmen daran mitverdienen wollen wie dereinst noch in den Neunzigern. Damals stand ein Crash kurz bevor, anders als heute sah ihn aber kaum jemand kommen, es waren goldene Zeiten. Heutzutage jedoch kämpfen die Unternehmen mit harten Bandagen um Marktanteile und Profitmaximierung. Ob nun bei Amazon, WMG, Native Instruments, SoundCloud, Bandcamp/Songtradr oder anderswo: Sie nehmen dabei nicht einmal Rücksicht auf ihre Belegschaften. Sie werden das umso weniger in Hinblick auf eine Szene tun, für die sich nur konjunkturzyklisch interessieren.
Menschen feuern, die Konkurrenz aufkaufen und ansonsten jedem noch so hitzigen Hype – NFTs, Techno, oder KI, wen interessiert das schon! – nachlaufen, es könnte ja was bei herumkommen: Das ist das Gebot der Stunde im „Jahr der Effizienz”, dem mit Blick auf die weltweiten wirtschaftlichen Entwicklungen noch einige weitere folgen könnten. Durch seinen Boom-Faktor gerät Techno mitten in diesen Strudel – und zwar in Zeiten, in denen die Szene ökonomisch selbst immer weiter in Bedrängnis gerät. Die Frage, die sich stellt, lautet nicht, ob sie den Hype übersteht. Sondern zu welchem Preis.
„Der große Run auf die kleine Boom-Szene wird kein nachhaltiger sein.”
Denn, klar: Gute, innovative Musik, die sich nicht den Gesetzen des Marktes unterwirft, wird es immer geben, und auch das Jahr 2023 war voll davon. Viele Clubs werden stehenbleiben und ihr gewohntes Ding durchziehen, wenngleich eine Reihe von Schließungen und im Verhältnis dazu eher wenige Neueröffnungen während dieses Jahres einen Abwärtstrend analog zur Festivalkrise aufzeigen. Alternativen zur Streaming-Dominanz von Spotify oder dem Marketplace-(Quasi-)Monopol von Bandcamp in der Szene sind in Arbeit (und viele Mailorder und Plattenläden laufen weiter!), aber wird das dauerhaft die Kundschaft abholen?
Es gibt durchaus Akteur:innen, die aus der jetzigen Situation ihren Profit zu schlagen verstehen, genauso aber solche, die sich all dem bewusst und manchmal sogar erfolgreich entziehen. Weil der Run aufs große Geld in der kleinen Szene allerdings die grundlegenden Infrastrukturen assimiliert, wird der Hype-wider-Willen zur existenziellen Belastungsprobe. Der Rückzug in den Underground ist kaum möglich und verspräche obendrein eine noch dringlichere Prekarität. Ob sich indes mit anderen Stellschrauben an der Situation etwas ändern lassen kann, bleibt vorerst unklar. Was aber, das ist aus der Vergangenheit bestens bekannt, feststeht: Der große Run auf die kleine Boom-Szene wird kein nachhaltiger sein, und die kommenden Jahre werden deshalb entscheidend.