Das Draaimolen in Tilburg ist eines der renommiertesten Festivals für anspruchsvolle elektronische Musik in den Niederlanden. 15.000 Besucher:innen feiern vor sechs Stages zu Acts wie Eris Drew, Giant Swan oder Sandwell District. Was die Besonderheit des Draaimolen ausmacht, hat GROOVE-Redakteur Maximilian Fritz ergründet – er ist kürzlich ins Herz der Niederlande gefahren und hat sich unter anderem von Skrillex beschallen lassen.
Es ist sengend heiß an diesem Septemberwochenende in Tilburg. „Viel zu heiß für diese Jahreszeit in den Niederlanden”, wie die Shuttlefahrerin teils besorgt, teils vergnügt bemerkt, als sie das Gelände des Draaimolen ansteuert. In einem Wäldchen im Industriegebiet der 200.000-Einwohner:innen-Stadt steigt am Freitag und Samstag, was neben dem Dekmantel das wohl renommierteste Festival für anspruchsvolle elektronische Musik in unserem Nachbarland darstellt.
Horden an Raver:innen strömen in der Nachmittagshitze zum Eingang, viele davon – Klischees werden früh bestätigt – kommen auf Fahrrädern, die sie an regelrechten Batterien von Ständern abschließen. Die Kapazität des Draaimolen liegt deutlich höher, als man bei einem Blick auf das Liebhaber-Line-up erwarten würde: An die 15.000 Besucher:innen verteilen sich auf satte sechs Bühnen, in Amsterdam finden zum geschmacklich distinguierten, jährlichen Großrave etwa 10.000 Menschen zusammen. Haben Veranstalter und Publikum in Holland also schlicht einen besseren Geschmack? Diese Antwort liegt nahe, ein vergleichbares Festival in dieser Dimension mit einem derartigen Line-up fehlt hierzulande schließlich.
Nach den ersten Schritten auf dem Gelände bestätigt sich diese These auf Publikumsseite nicht wirklich: Hier versammelt sich kein homogenes Feld aus Snobs und Nerds, vielmehr wirkt das Draaimolen wie Szenetreffpunkt und Rave-Schnupperkurs in einem. Viele Holländer:innen seien mit Sicherheit aus der Peripherie angereist und hätten Lust zu feiern, wie mir eine Besucherin erzählt. Sie teilen sich die Dancefloors mit den üblichen Verdächtigen: sonnenbebrillte Kaugummikauer mit Fächern, Frauen in neonfarbenen High-Waist-Röcken und Leder-Tops, introvertierte Kopfnicker mit Label-Merch aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien.
„Noch so eine holländische Eigenheit, die manchen deutschen Festivals wortwörtlich gut zu Gesicht stünde, ruft man sich die Morgenstunden der hiesigen Festivalsaison ohne Nostalgieschleier in Erinnerung.”
Der Stimmung tut das keinen Abbruch, im Gegenteil: Jeder hier ist gewillt, sich zu verausgaben, so sehr es die Temperaturen eben zulassen, denn: Musik läuft nur bis 1 Uhr nachts, danach ist Schluss. Noch so eine holländische Eigenheit, die manchen deutschen Festivals wortwörtlich gut zu Gesicht stünde, ruft man sich die Morgenstunden der hiesigen Festivalsaison ohne Nostalgieschleier in Erinnerung.
Das ist beim Draaimolen besonders
Nun aber zum Kern des Ganzen, der Musik: Und wo soll man hier bitteschön anfangen? Nicht nur ist das Booking des Draaimolen künstlerisch extrem hochwertig, das Alleinstellungsmerkmal des Festivals liegt in b2bs, die man andernorts vergebens sucht: Eris Drew b2b Helena Hauff, Batu b2b Donato Dozzy (als „The Secret b2b” angekündigt), Darwin b2b Mala, GiGi FM b2b Quelza, KI/KI b2b Sevdaliza (als „Special Guest” angekündigt) oder auch, man lese und staune, Blawan b2b Skrillex – aber dazu später mehr.
Auch sonst ist eine ganze Armada an Acts gebucht, die das Stresslevel während des Festivals konstant hochhalten. Hinsetzen und Entspannen ist auf dem Draaimolen nicht, es sei denn, man will sich ein ums andere Mal, begleitet von mit Schnappatmung ausgestoßenen Prädikaten wie „insane”, „mental” oder „sick”, unter die Nase reiben lassen, welches Highlight man jetzt schon wieder verpasst habe.
Angesichts dieser Begleitumstände tun Mary Lake und Human Space Machine bei ihrem b2b auf der Aura Stage am Nachmittag etwas Unerwartetes: Sie lassen sich Zeit, und machen damit alles richtig. Mit intelligentem Tech-House und tieffrequenten Begleiterscheinungen – immerhin befinden wir uns auf der Nous’klaer-Bühne – bauen sie graduell Druck auf. Nebelschwaden durchwehen die schattige Stage, Ankommen scheint auf einmal möglich, rastloses Laufen im Kreis, von einer Bühne zur nächsten, plötzlich sinnlos.
Boreal Massif verlängern dieses Gefühl. Eine Stunde lang spielen Pessimist und Reuben Kramer ein Live-Set, das mit dem Album We All Have An Impact die bislang einzige Veröffentlichung des Duos von 2019 spiegelt. Dub, Dubstep und schweres Drumming bringen die Sandkörner der Doppel-Live-Bühne The Chapel zum Zittern. Hier sitzen viele der Gäste, zwischen weißer und schwarzer Kapelle, die abwechselnd von experimentellen oder poppigen Acts bespielt werden. Tracks wie „Angel Of Dub” wollen nirgends hin und kontrastieren den dominierenden Clubsound, genau wie Kiebitze, die in Grüppchen zusammenhocken, aus denen die eine oder andere Graswolke aufsteigt.
„Nach etwa einer Stunde ertönen erste Acid-Lines, der Floor ertrinkt im Nebel und geht aus diesem als Big-Room-Club hervor, in dem am Ende fokussierte Breaks regieren.”
Um 19 Uhr, zur Hälfte des Sets von Boreal Massif, beginnt das oben erwähnte Secret b2b. Donato Dozzy, der mit seiner Rundglasbrille und den markanten Koteletten wie eine Erscheinung über der Aura Stage thront, erkennt man schon beim Passieren der hohen Zäune, die den Eingang des Floors säumen. Neben ihm steht der Bristoler Batu. Die beiden Künstler spielen sich vor monolithischer Steingarten-Kulisse über Generationen hinweg die Bälle zu und harmonieren dabei erstaunlich gut. Nach etwa einer Stunde ertönen erste Acid-Lines, der Floor ertrinkt im Nebel und geht aus diesem als Big-Room-Club hervor, in dem am Ende fokussierte Breaks regieren. Ein gelungenes Set ohne große Überraschungsmomente, bei dem das b2b-Konzept des Draaimolen aber doch aufgeht.
Blick auf die Uhr: Es ist halb 10. Die Dunkelheit bricht allmählich über das Festival herein, und die Veranstaltung zeigt ein anderes Gesicht. Die mit hochprofessioneller Liebe gestalteten Bühnen machen nun erst so richtig Sinn und könnten es produktionstechnisch mit dem ein oder anderen EDM-Festival durchaus aufnehmen, nur dass hier ein schnörkelloser, geradliniger Geschmack regiert. Keine Ornamente, keine Tribals, die visuelle Kraft liegt in der schieren Dimension der LED-Würfel und Lichtspektakel. The Pit, kuratiert von Blawan und Pariah, bildet da eine Ausnahme. Über ihr schwebt eine Drohne, und blitzt scheinbar wahllos in die Menge, während in der Grube mit dem Klassesoundsystem ein weiteres gehyptes b2b seinen Lauf nimmt.
Bodies statt Bangarang
Das erste und bislang einzige Mal sah ich Skrillex auf dem Rock Im Park 2012 – fragt nicht. Damals noch mit Headbang-optimiertem Sidecut auf einem Raumschiff in der Mitte der Bühne, von dem aus er Brostep-Banger à la „Bangarang” in die geifernde Menge feuerte. Diese Zeiten sind passé. Nun spielt Sonny John Moore – wenn er nicht gerade mit seinen Bros Four Tet und Fred again.. tourt – auf Festivals wie dem Draaimolen an der Seite von Acts wie Blawan oder im Rahmen der PAN-Nacht auch im Berghain.
Gleich zu Beginn läuft Blawans Klassiker „Why They Hide Their Bodies Under My Garage”, anschließend tauchen die beiden in ein undurchsichtiges Gemisch aus brachialem Rap und Trap ein, man wähnt sich phasenweise auf einem amerikanischen Mega-Rave, auf dem alles geht. „Skrillex hatte vielleicht nicht die besten, aber garantiert die lautesten Tracks”, lässt ein Besucher den Auftritt am nächsten Tag Revue passieren.
Die akustische Überwältigungsstrategie, die Integration von Popmusik in Rave-Kontexte ohne den Ansatz eines ironischen Augenzwinkerns, überträgt sich ohne Reibungsverluste aufs Publikum: In den ersten Reihen offenbaren sich Bewegungsabläufe zwischen Rockkonzert und Rave, besonders jüngere Tänzer:innen haben ihre helle Freude an diesem Set in der Manier eines aufgeputschten Feten-DJs: „All killers, no fillers” ist die Devise. Später im Set schnappt sich Skrillex ein Mikrofon und bedankt sich jovial beim Publikum, allen anderen anwesenden DJs und den Organisator:innen des Festivals, davor oder danach läuft noch ein Edit (?) von Fishers „Losing It”.
Was die beiden zwei Stunden lang abziehen, erfüllt seinen Zweck. Ihr Set wurde schon im Vorhinein zum Gesprächsthema Nummer eins hochstilisiert und mit Sicherheit am gespanntesten erwartet. Das Fetischisieren von kommerzieller Strahlkraft und musikalischer Simplizität erreichte damit einen vorläufigen Höhepunkt, der noch lange nicht das Ende darstellen dürfte. Blawan bezeichnete das b2b auf seinen Socials anschließend als „das locker irrste, unterhaltsamste, zum Nachdenken anregendste und schlicht allerkrasseste Set, das er je gespielt hat.” Nun denn.
Auf dem Festivalgelände zurechtfinden
Auch am zweiten Tag glüht das Festivalgelände. Die ersten Acts beginnen um 12 Uhr zu Mittag. Mit inzwischen besserer Orientierung manövriert es sich leichter als am Eröffnungstag, und man akzeptiert bereitwilliger, dass man nicht auf sechs Hochzeiten gleichzeitig tanzen kann. Nick Léon und DJ Python spielen ab 15 Uhr auf der riesigen Strangelove-Bühne, die in der Nachmittagshitze ihr volles Potenzial naturgemäß noch nicht entfaltet, betont perkussiven House. Drei Stunden später, bei I. Jordan b2b Sherelle, hat die Festivaldynamik an Fahrt aufgenommen. Sherelle heizt sie mit Mikrofonansagen weiter an, während die beiden mit schnellen Edits einen anderen, obgleich ebenfalls poppigen Weg einschlagen wie Blawan und Skrillex am Vortag.
„Im Getümmel tanzen zwei Männer, mindestens in ihren Fünfzigern, nippen an ihrem Bier aus 200-Milliliter-Plastikbechern und erfreuen sich mit kindlicher Neugierde an den für sie mutmaßlich neuartigen Tönen.”
Ganz anderes wird dazwischen im Pit geboten. Dort unten, wo es zwischen den Boxentürmen nochmal heißer sein dürfte als auf den anderen Bühnen, lässt Rhyw mit seinem Liveset tiefe Bassfrequenzen auf die wippende Crowd los. Im Getümmel tanzen zwei Männer, mindestens in ihren Fünfzigern, nippen an ihrem Bier aus 200-Milliliter-Plastikbechern und erfreuen sich mit kindlicher Neugierde an den für sie mutmaßlich neuartigen Tönen. In Deutschland weitestgehend undenkbar.
Noch während der letzten Töne von Rhyw, der eines der stärksten Sets des Festivals spielt, wird umgebaut. Giant Swan spielen ihr Liveset nicht von der Booth aus, sondern suchen als Zwei-Mann-Rave-Kapelle die Nähe des Publikums. Schon kurz nach den ersten Kickdrums sind sie aus der Ferne nicht mehr auszumachen, verschmelzen mit ihrer Mischung aus Techno und Screamo mit einem Meer aus teils halbnackten Körpern, das ihre Rockstarposen dankbar annimmt.
Wer puristischen Techno der alten Schule sucht, wird auf dem Draaimolen ebenfalls fündig. The Tunnel heißt die Bühne der Wahl. Sie zieht sich in die Länge, rechts und links vom Dancefloor grenzen die Ausläufer des Waldes an. Die werden gebraucht: Sowohl bei James Ruskin b2b Julie als auch beim Liveset von Sandwell District ist es so voll, dass sich Leute durchs Dickicht schlagen, um vorwärts oder zurückzukommen. Das führt zu der ein oder anderen unfreiwilligen Turneinlage. Über den Tanzenden hängen riesige Quader, die in verschiedenen Farben erstrahlen; besonders bei Nacht steht hier die eindrucksvollste Bühne des Festivals, zu der Sandwell District den perfekten Soundtrack liefern: Kristalline Hats prasseln, die Tracks treiben während dieser 75 Minuten so unablässig, dass man an einen Bühnenwechsel gar nicht denkt. Und auch der Sound, etwa 20 Meter von der Booth entfernt, entfaltet sich in der Schneise druckvoll.
Das Closing des Draaimolen bietet, wie könnte es anders sein, interessante Optionen. Helena Hauff spielt etwa b2b mit Eris Drew. Jane Fitz allerdings auch mit Konduku, und weil die Aura Stage dem Festival am stärksten ihren Stempel aufgedrückt hat, macht es nur Sinn, es dort ausklingen zu lassen. Länger als angekündigt, bis nach 1 Uhr, legen die beiden zusammen auf. Das Duo versteht sich perfekt darauf, peu à peu die Intensität zu erhöhen, weshalb das Ende des Festivals umso mehr schmerzt.
Das tut es auch, weil es in Holland fast schon selbstverständlich erscheint, dass Events dieser Größenordnung mit einer ähnlichen Liebe zum Detail geplant werden wie die ersten Raves kleiner Kollektive – in musikalischer, dekorativer und produktionstechnischer Hinsicht. Wer denkt, Festivals mit Wachstumsabsicht verlieren zwangsläufig ihren Anspruch, sollte sich auf dem Draaimolen vom Gegenteil überzeugen. Vorausgesetzt, man kann sich für eine Stage entscheiden.