Geht es um die wohlige Immersion in schwermütige Nostalgie und cinematische Breite, ist der italienische Soundtrackproduzent Alessandro Baris eine Top-Adresse, vor allem live. Als Soloarbeit mit einigen prägnanten Gastauftritten ist die Mini-LP Sintesi (Otono Records, 7. Juni) allerdings tatsächlich so etwas wie ein Debüt. Ein extrem ausgefeiltes und gereiftes allerdings.
Die meisterlich-geisterlich wirbelnden Erinnerungsschleifen der Loopworks 2 (Discrepant, 20. Mai) des Istanbuler Produzenten, bildenden Künstlers und Politikwissenschaftlers Koray Kantarcıoğlu tauchen die Welt dann endgültig in sehnsüchtige Familienurlaubs-Nostalgie aus Achtziger-Samples. Aber Vorsicht, diese Schleifen haben scharfe Kanten, diese Bosporus-Vapor-Nostalgie will immer tiefer hineinziehen in ihre erstarrte, verzauberte Unterwelt aus Melancholie und Erinnerung.
Wo wir bei schleifender Erinnerungskultur sind, darf ein neues Album von Richard Chartiers queerem wie morbidem Nostalgie-Darkness-Projekt PINKCOURTESYPHONE nicht fehlen. All Intensive Purposes (Room40, 10. Juni) treibt die Sampleverwischung in einen Zustand jenseits von Schlaflosigkeit und Übermüdung geschuldeter Euphorie. Ein Zustand, in dem die Geister langsam ungeduldig werden, die unscharfen Ränder der Wahrnehmung besetzen in fröstelndem Unbehagen.
Dass im Jazz, selbst in dessen klanglich konservativeren, akustischen Varianten, immer was ging in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten, ist in der Ambivalenz von nach vorne Sehen und die Tradition Beachten immer schon angelegt gewesen. Dass die immer wieder aufs Neue tollen Dinge, die so entstehen, plötzlich unglaublich mehrheitsfähig scheinen, ist tatsächlich ein recht neues Phänomen der letzten Handvoll Jahre, wodurch eher traditionell gestimmte Musiker*innen wie Angel Bat David, Alabaster de Plume, oder Ben LaMar Gay plötzlich zu Popstars wurden und in experimentellen oder popnahen Konstellationen weit außerhalb des Jazz im traditionellen Verständnis arbeiteten. Aber sie machen eben immer noch Jazz. Wie der letztgenannte Ben LaMar Gay mit dem Chicagoer Kollektiv RedGreenBlue. Deren Debütalbum The End and The Beginning (International Anthem, 3. Juni) ist ein Rundum-Sorglos-Paket in Sachen modal-melodischer wie energetisch ausschweifender Jazz, das keineswegs offen lässt, was heute in der Stilrichtung noch geht. Und vor allem nicht, warum die üblicherweise im Moment aus Live-Situationen und Jam-Sessions entstehende Musik ausgerechnet in Zeiten der konzertanten Einschränkungen wieder erstarkte.
Beim Leipziger Philipp Rumsch Ensemble ist der Ausbruch aus den traditionellen Formen des Jazz unter Erhaltung des Gelernten sogar noch offensichtlicher. Die digitale Mini-LP µ: of transfiguration x resonance (Nynode Intermedia, 27. Mai), Remix, Bearbeitung und Neuinterpretation des pandemischen µ: of anxiety x discernment, scheut keine elektronischen Netzwerke, verbindet sich mit der delikaten Sound Art von Jana Irmert ebenso glatt und leichtgängig wie mit dem Grobraum-Pop-Techno von Apparat-Produzent Shramm. Die feinsinnig reduzierten, klassischem Jazz etwas näheren Interpretationen von Friederike Bernhardt und dem elektroakustischen Streichertrio Toechter fallen deswegen ebensowenig aus dem Netz heraus.
Der Tontechniker, Multiinstrumentalist und Elektroniker Giuseppe Ielasi aus Mailand agiert international, was Arbeit und Genre angeht, meist in einem hybriden Dreieck aus Improvisation, Komposition und Algorithmen. Für das selbst für einen versatilen Musiker wie ihn ungewöhnliche Minialbum The Prospect (12K, 24. Juni) hat er den Jazzer in sich entdeckt. Zwei langformatige Stücke als Soloimprovisation auf E-Gitarre an Röhrenverstärker, sonst nichts. Typisch ist der schlanke Minimalismus, die raumliebende und Licht und Luft lassende Struktur der Stücke, die sehr frei und experimentell wie harmonisch und zugänglich sind.
Das Montréaler Schlagzeug-Elektronik-Eigenbau-Instrumente-Quartett Architek Percussion geht Jazz von der energetischen und motorischen Seite an, mit einem Repertoire, das von der klassischen Avantgarde John Cages über moderne Neoklassik wie Nico Muhly zu rasanten Neutönern und Improvisiertem reicht. Auf Six Changes (Architek Percussion/Centrediscs, 3. Juni) kulminiert das in kraftstrotzendem, von Minimal Music, Fourth World und Fusion gleichermaßen inspiriertem Postrock. Mit Potenzial zum Hit, vor allem live – hoffentlich bald.
Akustisch hergestellte Elektronik und spirituelle Drones: das Brüsseler Duo Razen bringt auf Regression (Marionette, 15. Juni) so einiges zusammen, was sehr gut zusammengehören kann, aber dann doch seltener als erwartet wirklich zusammenfindet. Nicht so bei Brecht Ameel und Kim Delcour, die schrägliche Dudelsäcke, mittelalterlflohmarktreife Holzbläser, Leiern und holziges Geklöppel in ein neues, brillantes Licht setzen. Analoge Improvisationskunst in archaischer Tonalität und kratzig-leuchtender Produktion. Ein spannendes wie seltsam seltenes Unterfangen.