Die immer gut unvorhersehbare japanische Berlinerin Midori Hirano beherrscht (selbstverständlich) die Stimmung Potenziometer-bedienter Synthesizer-Schrankwände nicht weniger als das neoklassische Klavier oder elektroakustische Drones. Unter ihrem Zweitalias MimiCof produziert sie digital-elektronische Produktions- und Denkweisen aus. Die Arbeit mit dem analogen Vintage-Tischgerät Synthi 100 der Electronic Music Studios ist damit doch schon wieder etwas Neues und Spezielles. Hirano liefert mit Distant Symphony (Karlrecords, 10. Juni), auf dem Synthi 100 von Radio Belgrade, dem ersten von insgesamt nur etwa 30 hergestellten Exemplaren, eingespielt, souveräne Experimentierkunst zwischen klassischer Spektraldrehung, Glitterspray und Hüllkurven-Grooves.

Die kasachische, in Italien lebende Pianistin und Komponistin für Klavier Angelina Yershova hat ihre extrem beeindruckenden instrumentalen Fähigkeiten in den vergangenen Jahren zunehmend in den Dienst von eher elektronischen Stücken zwischen Track und Song gestellt. Auf Time For Change (Twin Paradox, 24. Juni), einer Kollaboration mit dem Italiener Ynaktera, hat sie diesen Trend noch etwas intensiviert. Wenn das Piano noch zu hören ist, dann im Glitch fragmentiert als digital dekonstruierte Neoklassik, die ebenso gut im dekonstruierten Club laufen könnte. Eine interessante, neue Richtung, die vielleicht sogar damit beginnen könnte, den allfälligen Trend der klavierigen Neoklassik zur Auflösung in Beliebigkeit oder Ambient umzukehren.

Gabriel Prokofiev, Träger eines prominenten Namens und zeitgenössischer Komponist im vollen Bewusstsein des Gewichts und Ernstes, der mit seiner Familiengeschichte einhergeht, hat für die Ballettmusik HOWL! (Oscillate, 10 Juni) sein bisheriges Instrument der Wahl, das Piano, komplett außen vor gelassen, erfindet stattdessen Allen Ginsbergs legendäres Beat-Langgedicht instrumental und in tänzerischer Bewegung neu auf einem Vintage-Synthesizer, dem ARP Odyssey, mit sparsamster akustischer Begleitung.

Und wenn dann nichts mehr geht, brummt uns das Baldrian Quartett in den Schlaf. Entschlummern sollst du, sollst entschlummern (bRUit, 10. Juni) desavouiert den heiligen Ernst der improvisierten Neuen Musik wie den der alten Neuen Musik in der kongenialen Aufführungspraxis der frei improvisierten Synthesizerkompositionen der Frieda Bertelsohn Martholdy aus dem späten 19. Jahrhundert in Form eines zeitgenössischen Streichquartetts – selbstverständlich ohne Streicher.

Der ehemals Düsseldorfer und nun Berliner Orson Hentschel hat sich mit einer guten Handvoll Veröffentlichungen ebenfalls eine gewisse Aura des geheimnisvollen und unnahbaren Auteurs in Sachen schwerer Post-IDM-Electronica aufbauen können. Sein multimedial gedachtes Album Heavy Light (Denovali, 27. Mai) wird von angepassten Visuals und einer speziell konzipierten, immersiven Liveshow begleitet werden. Die noch immer mächtig brodelnde Schwergewichtselektronik macht allerdings rein akustisch bereits Eindruck genug.

Jan Jelineks vier EPs auf dem leider verschiedenen Frankfurter Label Klang Elektronik unter dem Alias Farben waren seinerzeit eine kleine Sensation. Feinsinniger und besser produziert hatte man minimalen Click-House bis dahin, wir reden von der Jahrtausendwende, nicht gehört, und subtiler geradlinig groovend ebenfalls nicht. Schon 2002 gab es ebenfalls auf Klang Elektronik die Compilation textstar, die die gesuchten EPs noch einmal auf Vinyl und als CD zur Verfügung stellte und heute ebenfalls vergriffen und nur noch teuer gebraucht zu haben ist. Die neu gemasterte und erweiterte textstar+ (Faitiche, 3. Juni) kommt also zur rechten Zeit, um dem Geheimnis der verschütteten Kanäle von Sound zu Text zu Bild noch einmal nachzuspüren.

Unmittelbar in die Beine geht die DNM EP (More Time Records, 17. Mai) des Produzenten Bryte aus Accra, Ghana. Ein erneut tolles Beispiel dafür, wie eine afrikanische Sichtweise auf reichlich Bekanntes – hier Vocal House, EDM und Reggaeton – zu etwas Frischem werden kann. In diesem Fall noch kombiniert mit einem untrüglichen Gespür für Hooks. Und „Honda” auf „Anaconda” zu reimen muss man erst mal bringen (können).

Das kleine, aber global sehr umtriebige Londoner Label GODDEZZ hat sich zum zweijährigen Jubiläum eine in mehrerlei Hinsicht ungewöhnliche Compilation geleistet. Denn TARAXIA (GODDEZZ, 24. Juni) bedient die bislang vorherrschenden, äußerst tanzbaren Sounds des Labels von Nu-Rave bis Post-Techno entschieden überhaupt nicht, sondern bevorzugt Ambient und ruhige, beatlose Electronica, gerne aus voll entwickeltem Dub-Hintergrund – was oft liebenswert nostalgisch nach Neunziger-Chill-Out-Space und Kräuterzigaretten duftet, aber doch ganz jetzig ankommt und sich perfekt zwischen Neo-New Age und wieder hip gewordene ASMR-Sounds setzt. Ebenfalls nicht so üblich für ein aufstrebendes Label, zumal ein britisches, ist die konsequente Vermeidung von prominenten Namen und etablierten Künstler*innen – der Avantgarde-Cellist Oliver Coates, auch kein Haushaltsname im Nu-Rave, mag hier die kleine Ausnahme sein. Ein sympathischer Move wie das kleine, gelbe Schlüsselblümchen in Name und Cover, für die Botaniker*in in uns allen.

Die ISAN Demonstration Tapes (Morr Music, 27. Mai) des gleichnamigen britischen Duos laden direkt zum Vergleich ein. Wie hat sich Chill-Out, IDM und Dub-Electronica in den frühen Neunzigern tatsächlich angehört? Diese frühen Demos von ISAN führen es ungefiltert und ungeschönt vor. Nämlich ganz schön toll und charmant in der manchmal noch etwas unbeholfenen Frische. Die Einnahmen des digitalen Albums gehen übrigens an die internationale medizinische Hilfsorganisation Médecins Sans Frontières.

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