Zwischen Berlin und Rom sucht indes das Kollektiv Melantónia neue Wege, um Erfahrungen elektronischer Clubmusik in nichtakademische Elektroakustik und Sound Art zu setzen. Auf der exzellent kuratierten Compilation Variierende Töne Vol. I  (Melantónia, 17. Juni) – nach einer EP im vergangenen Jahr erst die zweite Veröffentlichung des Labels überhaupt – finden sich demgemäß ähnlich wie bei GODDEZZ vorwiegend junge, noch nicht bekannte Namen, die frei agieren können und von subtilen, auf Field Recordings basierenden Drones zu dunkler Electronica einiges möglich machen. Ein Versprechen.

Der gelernte Jazzer und Berliner Däne Rolf Hansen, vielleicht besser als Postrocker Il Tempo Gigante bekannt, begibt sich solo unter Eigennamen auf eher suchende Pfade, die ausprobierend, suchend ausloten, was sich mit seinem Instrument, der elektrischen Gitarre, noch so alles anstellen lässt. Durchaus innerhalb der Konventionen der experimentellen Klangforschung von Free Improv oder Elektroakustik, aber doch mit klar anderen Zielen, nämlich im Rahmen von etwas zu bleiben, das noch Postrock oder Pop ist, aber doch etwas anderes zu machen als darin üblich. Das zweite Album unter diesen instabilen, schwankenden, aber äußerst vielversprechenden Vorzeichen, Tableau (Karaoke Kalk, 24. Juni), nimmt sich entsprechend Zeit und viele Freiheiten. Nicht alles muss irgendwo ankommen. Das Mäandern und Umherschweifen ist spannend genug.

Die Sounds, die die Italienerin Flavia Massimo ihrem Cello entlockt, sind direkt, voll klar da und lassen doch keine Eindeutigkeit zu. Sie sind akustisch, elektronisch, improvisiert, atonal, melodisch, harmonisch, knarzend, verzerrt zugleich, sie sind Songs und Komposition und Noise, Hintergrund und Vordergrund, sie sind neben vielem tatsächlich, was der Titel des Debütalbums besagt: Glitch (Audiobulb, 8. Juni), aber nur wenn der Begriff im weitestmöglichen Sinn verstanden wird, nicht nur als digitales Fehlergeräusch. Eine mögliche Neuigkeit der Neuen Musik und eine Redefinition des guten alten Glitch, hier könnte sie liegen. Der Eindruck des Neuen, größer könnte er kaum werden.

Delikate wie diskrete Sound Art in der Zone Hellgrau. Wo von Gerade-Noch-Musik und Nur-Noch-Sound noch schwebende Staubteilchen übrig bleiben. Solche Klänge entziehen sich bewusst der üblichen Aufmerksamkeitsökonomie elektronischer Musik, aber ganz befreit und unabhängig sind sie davon nie, können es nicht werden. Es gibt in den Mischzonen von Kunst, Akademie, Diskurs und Musik ebenso Gezeiten, Hypes, Booms und Flauten wie überall sonst. Zur Zeit sieht es tatsächlich mal wieder eher üppig aus in der Welt der kargen Klänge. Beispiel: They Can Never Burn the Stars (SIGE Records, 27. Juni), der US-Amerikanerin Chloe Alexandra Thompson, eine Arbeit, die viele, wenn nicht alle formalen Kriterien für ernste Klangkunst erfüllt und doch unmittelbar ästhetisch überzeugt, sogar überwältigt, vor allem im extremen Bassfrequenzenmassaker des viertelstündigen „Touch Modality”, das ab einer gewissen Lautstärke vom Immersiven ins Unheimliche, ja Bedrohliche zu kippen droht, die Balance aber doch halten kann.

Die Australierin Alexandra Spence betreibt ihre Sound-Studien am Strand. Das digitale Album Blue Waves, Green Waves (Room40, 24. Juni) nimmt die Klänge am Rande der Ozeane auf und formt sie in allerfeinste elektronische Wellensignale. Ernsthaft und leicht, komplex und tiefes Hören belohnend, aber auch als Ambient funktional, ist es ein wenig schade, dass diese formidable Arbeit nicht auf einem adäquaten Tonträgerformat erscheint.

Der Franzose mit dem schwermütig sprechenden Alias Mondkopf hat die dröhnende Schädel-Schwere, die Dämonen der Schlaflosigkeit und mitternächtlichen Gedankenmühlen bereits im Namen verewigt. Er kann aber auch etwas leichter. Auf Spring Stories (Miasmah, 3. Juni) zeigen sich Risse im festen Geflecht aus Drone, Doom Metal, Dark Jazz und Postrock. Und das sind ja bekanntlich genau die Stellen, wo das Licht reinkommt.

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