Der New Yorker Fusselbart und Obermelancholiker Jacob Long alias Earthen Sea zieht Kraft und Inspiration seiner Stücke von Beginn an aus abstrahiertem Dub und Dub Techno, ohne wirklich danach zu klingen. Das gilt für sein Lockdown-Album Ghost Poems (Kranky, 18. März) natürlich erst recht. Die eher ungeraden Beats haben jede Vordergründigkeit verloren, sie gehen im Rauschen und Wabern der sanft anbrandenden Rhodes-Flächen auf. Souverän im Timing gesetzte Clicks verleihen den an sich so einfachen Sounds weitere atmosphärische Tiefe. Immer auf der Seite des Schönen und Unauffälligen ist Ghost Poems dennoch viel mehr nur ein weiteres hübsches, aber tendenziell belangloses Ambient-Album. Um so Weniges, immer so Ahnliches zu etwas Bleibendem und Tiefem zu formen, braucht es schon immense Kunstfertigkeit und Handwerk.

Was den Kreis schließt zum dritten Tape des Muzan-Editions-Winter-Batch. Der japanische Produzent Doltz ist ansonsten für geradlinig tiefen wie dubnahen Techno bekannt, macht auf Asa (Muzan Editions, 25. Februar) vorsichtige Schritte hin zu nicht weniger tiefen, nicht weniger skrupulös abgewogen und präzise produzierten Soundscapes für die späteren Stunden der Nacht.

Der griechische Produzent Dimitris Papadatos wurde als Jay Glass Dubs mit Edits und Dubs etwa von Sade zur großen Nummer im globalen Technobusiness. Sein Interesse lag aber jederzeit hörbar bei durchaus abseitigen und experimentellen Klängen. Sein jüngstes Projekt Wild Terrier Orchestra, ein Trio mit der griechischen Vokalistin und Flötistin Foteini Korre und der Elektronik-plus-Stimme-Avantgardistin Cruel Diagonals aus Los Angeles stellt in zwei 22-minütigen Stücken mal eben richtig, was eventuell an kommerziellen Missverständnissen herumschwirren könnte. EVEN THE CHIMERA (Haunter Records, 25 März) ist eine Soundcollage und eine freie Improvisation über einen Text eines griechischen Surrealisten. Alte und neue Avantgarde treffen sich hier auf das Ergiebigste. In diesen zwei Tracks ist mehr Interessantes drin als in so manchem als definitiv angesehenen Großwerk etablierter Konventionen-Zertrümmerer. 

Der zurzeit in den USA lebende staatenlose Weltbürger Alex Zhang Hungtai ist ebenfalls ein Garant für kompromisslose Experimente bei maximaler Zugänglichkeit und mit seinem auf Eis gelegten Projekt Dirty Beaches zudem noch der ultimative Maßstab dafür, wie cool ein Rockabilly-Saxofon werden kann. Mit dem Kanadier Pierre Guérineau, dem Partner von Marie Davidson bei Essaie Pas und L’Œil Nu, hat Hungtai für den Soundtrack zu I Was a Simple Man (ÉDITIONS APPÆRENT, 21. März) ein besonders üppig wucherndes Beispiel seiner Arbeitsweise  vorgelegt. Die perfekte Vertonung dieser Geistergeschichte in der überbordenden Natur Hawaiis.

Nicolás Jaar könnte ebenfalls ein Vorbild für diese Art von Freiheit zur Suche, des Ausprobierens, des Auseinandernehmens und wieder Zusammensetzens darstellen. Auch er fing an mit einer Rekonstruktion von Dub, House und Techno, um später bei völlig freien, weitgehend unberechenbaren Soundkonstruktionen anzukommen, die doch immer einen vage hintergründigen Popappeal in sich tragen. Jaar hat sich zudem als Integrationsfigur für andere Experimentator*innen etabliert, mit einem Sinn für passende Kombinationen sehr weit über Szenen, Genres und Ländergrenzen hinweg. Weavings (Other People/Unsound, 25. Februar) ist so ein Ding. Virtuelle Zusammenführung von Live-Improvisationen für das Unsound Festival im polnische Krakau 2020 und 2021. In den Stücken werden die Streams von 15 Künstlerinnen und Künstlern, die von Noise zu traditionellem Jazz zu freier Improvisation zu Post-Club-Elektronik reichen, von Jaar zusammengeführt und verwoben zu einem hochspannenden, sonisch überreichen und doch sparsam und effektvoll besetzen virtuellen Erlebnisraum, in dem sich leicht unheimliche Erfahrungen ebenso machen lassen wie die purer Schönheit.

Auf dem Luzerner Experimentierfeld Hallow Ground lassen sich derartige Erfahrungen ebenfalls regelmäßig machen. Das von Remo Seeland betriebene Label hat sich mit Epiphanies (Hallow Ground, 25. März) nun erstmals eine ausladende Kompilation gegönnt, die nicht dem üblichen Schema eines jährlichen Überblicks oder eines Rückblicks folgend unzusammenhängende Stücke versammelt, sondern hier einem vorgegebenen Thema nachspürt, nämlich der Offenbarung, im psychologischen wie religiösen Sinn. Die Umsetzungen von assozierten Labelkünstler*innen und einem erweiterten Label-Freundeskreis finden ihre Epiphanien vorwiegend in elektroakustischen, mikrotonalen Drones, generell in Feinheiten, nicht in grober Katharsis. Pfingsten ist halt nicht Ostern. In dieser Güte und Dichte ist so etwas ganz selten zu hören.

Die Kopenhagener Produzentin Linn Hvid alias ANA FOSCA agiert ähnlich frei und unvorhersehbar – und das im durchaus gerne mal eng eingegrenzten und energisch verteidigten Territorium von Death Industrial und Power Noise. Der disruptive Dub und die unendlich verzerrten Vocals von Poised At The Edge Of Structure (The Helen Scarsdale Agency, 18. März) sind nicht nur auf Überwältigung hin gestrickt, sie fügen sich zu Song-Tracks von fragilem Eigenleben, hin und wieder nahezu harmonisch. Vielleicht das Verbindungsglied zwischen dem Kopenhagener Posh-Isolation-Zusammenhang und Avantgarde-Goth-Superstar Anna von Hausswolff.

Der Kopenhagener Loke Rahbeck hat unter dem Alias Croatian Amor ein immer hochspannendes, ambivalentes, aber nicht unbedingt negatives Verhältnis von experimenteller Elektronik zum Hyperpop-Mainstream hergestellt. In jüngerer Zeit gingen die Veröffentlichungen seines mit Christian „Vanity Productions” Stadsgaard betriebenen Labels Posh Isolation vermehrt in Richtung Ambient, behielten dabei allerdings ihren quirligen und tendenziell unvorhersehbaren Charakter bei. Remember Rainbow Bridge (Posh Isolation, 25. März) bestätigt diesen Eindruck auf wiederum leicht andere Weise. Was Post-Club-Melancholie war, wird zu Wieder-im-Club-Euphorie, zu maximalistischem Break-Techno und experimentellstmöglicher Welt und Körper umarmender Electronica. Alles kein Widerspruch, und selbstverständlich sind ruhige Episoden und leichter Schwermut noch immer möglich. In der Nachhaltigkeit von Arrangement, Trackaufbau und Inhalt ein früher Anwärter auf den beweglichsten, wenn nicht schönsten Motherboard-Favoriten des noch jungen Jahres.

Die verzauberten Nachtfahrten zwischen Kopenhagen und Berlin, die Najaaraq Vestbirk alias Courtesy vorwiegend analog-synthetisch produziert, laden ebenfalls ein zum melancholischen Mitschwelgen, vor allem wenn noch elegische Vocals in die wubbernden Soundwellen hineinwehen. Die 4-Track-EP Night Journeys (Kulør, 25. März) ist so etwas wie die perfekte elektronische Popmusik für schlaflos zergrübelte Nächte, wenn die Clubs geschlossen haben, das Leben stillsteht und doch irgendwie weitergeht, vielleicht sogar besser als je zuvor.

Auf Vestbirks bzw. Courtesys interessantem Label Kulør erscheint übrigens nicht nur Musik aus vorwiegend Dänemark, sondern ebenso allerlei Kunst wie das edel-triste Fotobuch Leben (Kulør, 28. Januar) von Daniel Hjorth, der das Kopenhagener Stadtleben der vergangenen Jahre in spätwinterlich blassen Farben festhielt.

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