Die klassische Moderne gewordene alte Avantgarde und die neue Neoklassik haben nur noch selten etwas miteinander zu tun. Ein teils offensiv vertretener Konservatismus der Gefälligkeit scheint das Genre fest im Griff zu halten – vor allem, wenn das Instrument, das im Fokus steht, das Klavier ist. Umso erfreulicher, wenn sich zwei der prominenteren Vertreterinnen und Vertreter des Genres dazu entschlossen haben, dem etwas entgegenzuhalten und explizit auf vergangene Avantgarden zurückgreifen, um etwas zu schaffen, das den Ennui eventuell durchbrechen kann, ohne dabei aufzuhören, Neoklassik sein zu wollen. Da ist einmal Mischa Blanos, der sein Piano gerne mit Elektronik ergänzt, aber bislang meist im gegebenen Rahmen blieb. Eine gegen Konventionen und bürgerlichen guten Geschmack gerichtete Stinkbombe der klassischen Moderne, nämlich Eugène Ionescos absurdistisches Theaterstück La Cantatrice chauve, gab Blanos nun die Chance, einige seiner eigenen Konventionen zu überwinden. Der Soundtrack The Bald Soprano (Infiné, 18. Februar) für eine Neuinszenierung des Stücks des Rumänen Alex Bogdan bleibt im tonalen melodischen Rahmen, übersetzt und überarbeitet den Sound des Klaviers aber massiv, um aus feintrauriger Melodie zu Dröhnen und Bollern zu gelangen und wieder zurück. Was dann tatsächlich frischer klingt als alles, was Blanos bisher produziert hat, obwohl das ja nie schlecht war.

Die französische Pianistin Vanessa Wagner geht den umgekehrten Weg mit ähnlichem Erfolg. Das Klavier bleibt bei ihr unbearbeitet, der Kontakt zur Moderne und zu verschiedenen Avantgarden früherer Dekaden gelingt in der Auswahl der Kompositionen. Für Study of the Invisible (Infiné, 25. März) interpretiert Wagner in ihrer brillant-klaren analytischen Art Ambient-Kompositionen von Harold Budd oder Roger Eno, die erstaunlich neu und gar nicht mehr so gefällig klingen, wie die Erinnerung es nahelegt. Dazu kommt eher naheliegende Minimal Music, die große Outsider-Kunst von Moondog und einiger jüngere Komponist*innen. Am spannendsten sind die Transkription eines Stückes der Synthesizerpionierin Suzanne Ciani und das schwer fassbare, hochgradig geniale „Gustave Le Gray” von Caroline Shaw, das an sich nichts Besonderes macht, tonal und melodisch daherkommt und dennoch klingt wie nicht von dieser Welt.

Der in London lebende Franzose Franz Kirmann gehört ebenfalls zu den Mittlern zwischen Welten, als Teil der Neoklassik-Elektroniker Piano Interrupted, als Impresario des Nu-Disco-House-Labels Days of Being Wild und solo als Produzent gerne breitwandig-cinematischer Electronica. Die Pandemie hat auch Kirmanns Sound tendenziell intimer und kleiner, näher werden lassen. Das Tape Forget Me Not (Bytes, 1. April) verzichtet gänzlich auf Beats und spielt sich in weiten Teilen eher im Feld von synthetischem Ambient ab – und das auf sehr glückliche Weise, was Inspiration und Kreativität angeht. Weniger ist hier tatsächlich einmal mehr einiges mehr.

In der Nachsicht ist es manchmal schwer zu verstehen, aber nicht wenige Werke von Erik Satie, Camille Saint-Saëns oder Claude Debussy wurden in ihrer Zeit als deftige Provokation und unhörbarer Krach wahrgenommen. Vor allem Debussy gilt heute als der Vertreter reuelos impressionistischen Schönklangs und wird in Neoklassik und Ambient gerne als Referenz hergenommen. Auf der Tape-EP Waterpiano (Hush Hush Records) des Italieners Julian Zyklus sind Debussy und Zeitgenossen jedenfalls jederzeit präsent. Julian Zyklus kombiniert die Akustik eines präparierten Pianos mit modularsynthetisch erzeugten Sounds von Wasser, Rauschen, Tröpfeln, Wellenbrechen, Schäumen, Blubbern, Waschen.

Das wird sich Melaine Dalibert wohl so ähnlich gedacht haben. Als klassischer Pianist und Komponist mit akademischer Ausbildung hat er das Repertoire der frühen Moderne bereits inkorporiert und kann die strukturellen und atmosphärischen Ideen dieser Musiker für seine eigenen Stücke ganz locker-leicht nutzbar machen, was auf Shimmering (Ici d’ailleurs, 25. März, Vinyl Ende Mai) recht deutlich zu erhören ist. Einerseits bedienen die Stücke sämtliche Hörgewohnheiten der Neoklassik, spielen sich ganz oben auf der Max-Richter-Skala ab, zeigen aber doch meist noch eine gewisse hintergründige kompositorische Strenge, die sie vom reinen Ambient oder Soundtrack-Piano-Score unterscheiden.

Der französische Starproduzent Gabriel Legeleux schert sich erfreulich wenig um Kategorien wie Avantgarde oder Mainstream. Die aus Neoklassik und Filmkomposition abgeleitete Electronica, die er unter dem Alias Superpoze veröffentlicht, zeigt sich gänzlich unapologetisch als neue Romantik, als instrumentaler Pop aus allem, was gut funktioniert, gut war und gut bleibt. Mit ein wenig mehr Eigensinn könnte er zu einem neuen Yann Tiersen werden. Wobei, bei genauerem Hinhören sind in jedem Stück genügend Irritationen im romantischen Schönklang versteckt, um sie auf Dauer interessant zu halten. Ist das nicht schon das uralte, offene Geheimnis von gutem Pop?

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