Das von Joane Hétu kuratierte Montréaler Label Mikroclimat beschränkt sich ebenfalls nicht auf Jazz, nicht mal im weitesten Sinne. Das langformatige Motile cilia (Mikroclimat) des Duos ORA aus Label Co-Betreiber Maxime Corbeil-Perron und Stephanie Castonguay spielt zum Beispiel im von Industrial und Noise her denkenden Dark Ambient mit Überschneidungen zu modernen Post-Club-Experimenten. Aber eben mit den Werkzeugen der freien Improvisation und der elektroakustischen Komposition, semi-akustisch assembliert.

Jean-François Primeau arbeitet im Kontrast dazu mit abstrakt gemachten Klängen analoger Synthese an einem kein bisschen abstrakten Projekt, nämlich der klanglichen Illustration der Tiefsee und ihrer faszinierend fremden Ökosysteme. Das passiert auf Voyages||Subaqua (Mikroclimat, 1. März) in einer adäquat faszinierenden Mischung aus virtuellen Wasserrauschen, Echolot-Pings, synthetischen Walgesängen und Wummern und Dröhnen im tiefsten Bassbereich. Ein tiefer Trip.

Wo das Montréaler Ensemble SuperMusique agiert, bleibt Pop eher außen vor. Was nicht heißen muss, dass die elektroakustischen Improvisationen von Sonne l’image (Ambiances Magnétiques) schwer verständlich oder unzugänglich wären. Mitunter sammeln sie sich sich sogar zu richtigen Songs, um dann direkt wieder in freien Freakout auszubrechen.

Die Kompositionen des US-Amerikaners Tom Johnson haben eine ähnliche Qualität. Vom Montréaler Streichquartett Quatuor Bozzini eingespielt, haben die Tom Johnson : Combinations (Collection QB) durchaus einen modernistisch neutönenden Charakter, finden aber in aller Grenztonalität doch immer wieder zu Songs von melancholischer Schönheit zusammen.

Gleiche Sprache, anderer Kontinent: Die Franzosen Bruno Duplant & Julien Héraud sind beide ursprünglich akustische Instrumentalisten, die ihre Werkzeuge der Wahl, Gitarre und Saxofon, jeweils an Grenzen gebracht haben. Vielleicht deswegen haben sie sich in den vergangenen Jahren von ihren gelernten Instrumenten weitgehend verabschiedet, um experimentelle Synthesizer-Elektronik zu machen. Besonders ausschweifend auf den beiden je 30-minütigen Teilen von Nocturne Incertain (Dissipatio). Ein mächtiges Stück freiformatiger Elektronik, das von Elektroakustik und neutönender Komposition genauso informiert ist wie von Free Improv – und doch ohne weiteres als psychedelischer Dark Ambient gehört werden kann (und sollte).

Gleicher Breitengrad, anderer Kontinent: Die in Norwegen lebende Klangkünstlerin Natasha Barrett komponiert ihre hochauflösenden elektroakustischen Soundcollagen üblicherweise für dreidimensionale Soundinstallationen, die in wohldurchdacht komplexer Anlage der Lautsprecher einen Raum spezifisch füllen und darüber hinausgehend einen Raum erst anlegen, erschaffen in Sound. Auf zwei Dimensionen Stereo reduziert, klingt Heterotopia (Persistence of Sound, 4. März) immer noch schwer beeindruckend und hin und wieder desorientierend, etwa wenn der klangliche Fokus abrupt von ganz nah (Bienen summen auf einer Blüte) zu ganz fern (Hunde bellen hinter dem nächsten Hügel) gestellt wird. Denn genau auf die Bewegung kommt es an. Das ist hochspannend zu verfolgen, sowohl live vor Ort wie auch unter dem Kopfhörer, wie es sich für dieses Album anbietet.

Die sensorische Überbeanspruchung, die RXM Reality auf sick for you (Hausu Mountain, 25. März) entfacht, funktioniert gar nicht so dramatisch anders als die extremeren Varianten von Free Jazz oder mancher Elektroakustik. Viel zu viel Information auf einmal, dabei zu wenige Möglichkeiten, die auditorischen Daten zu entschlüsseln, in einen Kontext zu heben, das führt direkt in einen Zustand kontemplativer Nervosität, eines digitalen Erhabenen – Post-Internet. Mike Meegan, der Chicagoer Produzent, der sich hinter dem Projekt verbirgt, findet die fragile Balance zwischen nervtötendem Collagen-Noise und hypermedialem Flow inzwischen mit untrüglichem Gespür. Da können sich so manche der jungen, wilden Neo-Gabber-, Nu-Digi-Hardcore-Produzent*innen noch was abschauen.

Der Italiener Furtherset arbeitet ebenfalls mit den Mitteln der Anhäufung zur Überforderung, allerdings eher im Sinne eines orchestralen Erhabenen. Die EP Auras (-OUS, 18. März) bringt das auf den Punkt und übersättigt in aller Fülle nicht. Manchmal ist es eben besser, es bei drei Stücken zu belassen, als permanent über Stunden hinweg zu ballern. Auch das etwas, das so manche Jungwilden wohl noch lernen werden.

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