Electronica und Pop sollen aber nicht zu kurz kommen zwischen all den in Nischen quietschenden Freiheiten. Die Kölner Produzentin Sandilé, die sich für ihr Vocal-Pop-Projekt das nicht gerade seltene Alias Z genommen hat, nimmt sich ähnliche Freiheiten in der Produktion ihrer etwas weniger funktionalen und offeneren Tunes heraus, die sie auf Unreasonable Since (Organic Music/ODB, 24. März) versammelt. Die bassige Grundierung, die Vintage-Breaks und der trockene Humor der rauen Lo-Fi-Edits und Deep-House-Jams, mit denen sie bekannt wurde, sind weiterhin vorhanden. Sie sind allerdings durch einen Melancholie-Filter sedimentiert und erstmals mit Sandilés Vocals zu Song-Tracks aufgefüllt. Diese können mit Frühneunziger-Flavor zu slammendem Vogue-House werden, der die (hoffentlich) unvergessenen Blaze oder The It beschwört, aber ebenso leicht zu Neo-Trip-Hop oder sogar in Pop-Mainstream-Nähe schwebt – wäre da nicht der von Schwermut gedämpfte Überschwang, der die Dancefloor-Energie in milde, traurige Songs verfestigt.

Auf der weltumarmend optimistischen LP Private Paradise (Pacific Rhythm, 31. März) des Kaliforniers Sudi Wachspress alias Space Ghost hat Melancholie ebenfalls einen Platz, aber sie ist eingebettet in und milde gemacht durch ein überaus sonniges Gemüt. Eine warmherzige Erinnerung an eine Auszeit, einen Urlaub vom Alltäglichen in einer sonnenwarmen Hippie-Heterotopie ohne Rassismus, Homophobie, Pandemie oder selbstoptimierendes Konkurrenzdenken. Umgesetzt in freundlichstmögliche Electronica an der Grenze zu Slow House und Hip Hop. So hört sich Hoffnung an.

Die Wiederbereinigung des Berliner Trios Bodi Bill nach fast zehn Jahren Pause schlägt ebenfalls vor, tief hoffnungsvolle wie energetische Melancholie als Heilung für dunkle Zeiten in Betracht zu ziehen. Zwischenzeitlich auf zwei Mitglieder geschrumpft, haben sie als The/Das eine houseaffine Popmusik kultiviert, die schon im Namen eine Hommage an The It darstellt. Auf I Love U I Do (Sinnbus 25. März)  sind die Beats weniger gerade, weniger House als freundliche Electronica. Man ist halt älter geworden (sichtbar), hat jetzt Familie und Kinder, hat jetzt eine Zukunft und eine Vergangenheit – eine, die House und Techno nie vergessen hat, aber eben doch über den Club hinausschaut. Mit der Fähigkeit zur Selbstironie – siehe Video. Ohne je sicher zu sein, dass der eigene Weg der richtige war, ob das alles noch gut werden kann. So gesehen ist House als Pop eben ein tief humanes, ja, humanistisches Projekt.

Allerspätestens seit den Großwerken der vergangenes Jahr verstorbenen SOPHIE sollte allen klar sein, dass sogar der artifiziellste Avatar-Hyper-Pop ein humanistisches Projekt sein kann. Und PC Music, das Label, das vielleicht am stärksten mit der Metapher des Hyperrealen in Klang und Bild arbeitet, hat sich in den vergangenen Jahren in vieler Hinsicht spielerisch extremisiert und experimentalisiert. Hypernormality (PC Music, 11. März) des Franzosen Nicolas Petitfrère alias Ö ist für diese Entwicklung exemplarisch. Der Produzent von Mainstream-Größen wie Charli XCX hommagiert mit der EP gleichermaßen SOPHIE als Produzent*in und Ikone wie dem IDM der Neunziger, im Soundgewand der Zwanziger des neuen Jahrtausends allerdings. Hier kommt keine Nostalgie auf.

Kann es gelingen, die Komplexitäten avanciert intersektionaler Identitätspolitik zu lockeren Electro-Pop-Tracks zu formen und dennoch keine Kurzschlüsse zu provozieren und polemische Vereinfachungen zu meiden? Das belgische Duo Charlotte Adigéry & Bolis Pupul beantwortet dies überaus cool mit dem lässig wie selbstverständlich hingeworfenen, brillanten Album Topical Dancer (DEEWEE, 4. März) bereits im Titel mit fehlendem „r” – nicht (nur) tropische Tänze, sondern auch thematische sind hier zu finden. Sie beleuchten die Absurditäten von Herkunft und Zugehörigkeit, von Gruppen und Territorien, Familie und Heimat auf hochinteressante Weise, eben nicht zu mahnender Pädagogik vereinfacht, sondern launig-lässig fordernd, ohne etwas zu fordern. Genau das auf den Punkt zu bringen, macht das Album zu einer der definitiven Popmusiken der Zwanziger.

Das Electro-Pop-Projekt der Irin Constance Keane verschiebt die Komplexitäten von Repräsentation und Identität nach innen. Fears führt spärlich ausgeleuchtet von blauvioletter Melancholie auf einen Weg in die Introversion und aus ihr heraus. Eine zart tänzelnde Bewegung, die wie auf der Single 16 (TULLE, 10. März) einen feinsinnigen Song ganz unauffällig vorbeirauschen lässt, bevor man überhaupt merkt, wie grandios er eigentlich ist. Also ein Repeat-Kandidat.

Ebenso False Alarm (RVNG Intl.), die erste, so unauffällig sensationelle Single der amerikanischen Pop-Außenseiterin Diatom Deli auf einem größeren Label. Weniger ist hier ebenfalls unglaublich viel mehr. Hoffentlich mit folgendem Album.

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