Foto: Jan Helge Petri (Fuchsbau).

Wie viel Idealismus und Wahnsinn braucht es, um in einem derart übersättigten Markt wie dem der Festivals noch eigene Akzente setzen zu wollen? Hält man sowas durch? Hält sich die Idee? Und was sollen das überhaupt für Aspekte sein?

Das Fuchsbau Festival sucht und findet Antworten auf diese Problematik, in diesem Jahr bereits zum siebten Mal. Sein Team, einst ein eingeschworener Haufen idealistischer bis größenwahnsinniger Teenager*innen aus dem Raum Hannover, ist inzwischen in den Strukturen eines Vereins organisiert. Gemeinsam stehen sie für etwas ein, was sie im Kontext der Feier- und insbesondere Festivalkultur allzu oft vermissen: Haltung. Nach dieser werden das Programm gestaltet und Künstler*innen ausgesucht. Das Team möchte nicht stagnieren und sich auf einer bewährten Formel ausruhen, stattdessen stets voranschreiten, neue Perspektiven finden und Horizonte erweitern. Kulturinhalte abseits von Musik sind hier Motor und nicht nur ergänzendes Beiwerk. Ein Programm mit Allradantrieb. Logisch, dass es sich inzwischen den Slogan “Das radikale Festival von nebenan” auf die Brust gegaffert hat.

Der Galeriegang mit Riesendiscokugel – Foto: Isabel Machado Rios (Fuchsbau)

Auch in diesem Jahr fand das Festival wieder auf dem Gelände der alten Ziegelei – im Raum Hannover würde man sagen “auf Zytanien”, frei nach der Selbstbezeichnung der Geländebewohner*innen – statt, einem brachliegenden Industriekomplex im niedersächsischen Hinterland. Dass diese Kulisse so verwunschen wirkt, liegt nicht nur an den kombinierten Kräften vom Fuchsbau-Team und zahlreichen Kollektiven und Freiwilligen, sondern eben auch an jenen, die sich auf Zytanien ihre heile Welt eingerichtet haben; es ist eine Art Aussteiger-Dorf, dessen Bewohner*innen alternativen Lebensformen nachgehen, in dem die ein oder andere Jägermeisterflasche als Zierstein im Mauerwerk landet.

Für das Festival war die ehemalige Ziegelei ein Glücksfall. Die vorhandene Infrastruktur ist prädestiniert für ein Festival, die Geisteshaltung des Projekts ergänzt sich einerseits mit dem Fuchsbau, andererseits reibt sie sich jedoch mit seinen Leitmotiven – Themen wie Größenwahn oder, in diesem Jahr, Supermarkt. Was zuallererst banal klingt, erwies sich als äußerst dankbarer Themenkomplex. Von praktikablen Aspekten wie einer Kooperation mit Edeka und einem daraus resultierenden Onlinesupermarkt, der einmal täglich die Abholung von bestellten Lebensmitteln anbot, oder einem Frühstücksmarkt, dessen Ausstattung eine Puppenversion des Krämerladens beinhaltete, wie einige sie sicher als Kinder hatten. Über die generelle, stets liebevolle Gestaltung des Geländes mit Bühnennamen wie “Storno”, Kühlhaus, Feinkost, als Supermarktangestellte gekleidetes Barpersonal, einer Diskokugel in einem hängenden Einkaufswagen und überdimensionalen, nachts unwirklich angestrahlten Lebensmitteln. Zu ernsthafter Auseinandersetzung mit Fragen wie: Wie konsumieren wir? Wie wird alltäglicher Konsum inszeniert? Wie konsumieren und preisen wir Identitäten an? Wie können wir nachhaltiger werden? Inwieweit die nonprofitorientierte Grundhaltung des Vereins mit prominenter Inszenierung von omnipolen Marktriesen wie Edeka zusammengehen, sei dahingestellt. Immerhin beinhaltete die Zusammenarbeit aber auch eine Führung durch die hiesige Filiale, in der die Vermarktung von alltäglich benötigten Gegenständen und Lebensmitteln kritisch betrachtet wurde.

Heiterer Diskurs – Foto: Jan Helge Petri (Fuchsbau)

Bei so viel Ernsthaftigkeit im spielerisch klingenden Thema könnte schnell die Stimmung kippen, zumal das Fuchsbau sich damit rühmt, Diskurs und Kultur gleichermaßen Bedeutung beizumessen wie dem Musikprogramm. Doch weit gefehlt; nie hat sich das Programm so organisch und rund angefühlt wie im Jahr 2019. Dies lag vielleicht an der stetigen Sorge, die Stimmung könnte buchstäblich ins Wasser fallen. Ausgerechnet zum Headliner Apparat kamen dicke Tropfen vom Himmel, die jedoch ebenso plötzlich wieder entschwanden – Entgegen aller Prophezeiungen blieben die Unwetter aus, und als sich letztlich nach diesem kurzen Schauer zum Auftakt der Himmel brach, löste sich auch jegliche Anspannung, die über dem Event lag. 

Apparat – Foto: Jan Helge Petri (Fuchsbau)

Noch in der ersten Nacht entfaltete das wohlkuratierte Lineup, eigentlich eher ein äußerst homogenes Ensemble verschiedenster Disziplinen, seine Sogwirkung. Die Feinkost-Stage erschien bis weit in die Dunkelheit taghell, was keine*n von den Tänzer*innen zu stören schien, bis ein plötzlicher Lichtwechsel zu den schönsten Visuals des Festivals der Menge einen ersten frenetischen Jubel entlockte. Die tagsüber eher nüchtern erscheinenden Regale mit überdimensionalen Pappmache-Lebensmitteln wirkten vom Beamer angestrahlt wie bunt zuckende Schaufensterauslagen, deren Sättigungsfilter im Fotobearbeitungsprogramm auf Anschlag gezogen wurde. Ein besonderes Schmankerl war die “Disconudel”, eine spirelliförmige Helix, deren Spiegelflächen Licht unkontrolliert über die Tanzfläche reflektierten. Im komplett dusteren Storno lieferte der queere Saxofonist Bendik Giske derweil eine Varieté-Performance mit hypnotischen Soundflächen, denen das Publikum andächtig lauschte. Highlight des Abends war Avalon Emerson. “All I need” skandierte das Vocalsample von Cristian Varelas “Dulces Sueños” auf dem Höhepunkt ihres Sets, und bestätigend gingen die Bewegungswellen durch das gesamte Publikum der Feinkost-Bühne, das sich zu ihren Spielarten von Techno und Acid verausgabte.

Der Samstag präsentierte sich erst einmal fröhlicher. Die Stimmung war nun gänzlich ausgelassen, das Publikum folgte gebannt den zahlreichen Diskussionsrunden und Lesungen, insbesondere Max Czollek konnte mit seinen Eingebungen zu Desintegration wider der deutschen Erinnerungskultur weit über 200 Menschen auf die Wiese zwischen Hauptbühne und Sektbar locken. Die Sektbar indes war der Geheimtipp des Festivals: An der Front wurden Besucher*innen mit perligen Kaltgetränken beglückt, die Rückseite bot einen durch Kühlhausartige Plastikvorhänge betretbaren Hexenkessel, in dem ein lokales Kollektiv fast rund um die Uhr die Laune mit House- und Discohits anheizte. Faithless’ “I cant get no Sleep” avancierte dort zu einem Publikumsliebling – ausgerechnet am Nachmittag.

Ebenso großer Beliebtheit erfreute sich die Fashionshow am frühen Abend; getragen vom Gedanken der Nachhaltigkeit geprägt hatte sich das Team gegen generelles Merchandise und stattdessen für ein aus Second Hand-Kleidung geschneidertes, eigens gegründetes Modelabel entschieden. Die Kreationen wurden von einer Gruppe quietschfideler Seniorinnen präsentiert, die sichtlich stolz Jacken mit der Aufschrift “Granny Power” trugen. In der Nacht bestachen musikalische Kontraste. Während das Hannoveraner DJ-Duo Felice und Flowo vom Label Turnland Records der Freihimmel-Feinkostabteilung mit erneut discoiden Vibes den passenden Sound zur bunten Optik bescherten, wurde es im Storno zum Set von DJ Stingray besonders stickig. Die Detroiter Legende, mit seinen über zwei Metern wahrscheinlich auch ohne das Markenzeichen der Sturmmaske eine einschüchternde Erscheinung, stand nahezu unbewegt am Mischpult, einzig die streikenden Plattenspieler entlockten ihm kurz hektische, aber geradezu mechanisch wirkende Bewegungen. Sein in-sich-ruhen konterkarierte indes völlig mit der Mixtur aus Early Electro, Detroit Techno und Ausflügen ins Bass-Genre, Stakkato-Visuals mit glitchig eingefügten Supermarkt- und Lebensmittellogos gaben zwar eine ulkige Note, unterstrichen aber die Hektik des Sets. Wenn die Visuals denn überhaupt sichtbar waren, streckenweise nahmen üppige Nebelfanfaren den Tanzenden Sicht und Luft. All das kumulierte in völlige Ekstase, als Stingray einen Tempowechsel in trappigere Sounds vornahm und ein Tänzer seine Wasserflasche im Takt versprühte.

Dee Diggs beim Closing – Foto: Jan Helge Petri (Fuchsbau)

Dem Sonntag blieb eine positive Katerstimmung, geschwächt, aber beseelt vom Erlebten. Die New Yorker Dj Dee Diggs lieferte ein äußerst expressives Closing, in dem House-Belter wie Grand High Wizards Aretha Franklin huldigendes “Mary Mary” auf Queere Vogueing-Hits wie Scissor Sisters “Let’s have a Kiki” trafen und sich zahlreiche weitere Einflüsse aus Disco und Hip-Hop fanden. Viele der Besucher*innen räumten bereits am Vormittag ihre Zelte, und über dem gesamten Gelände hing eine gewisse Wehmut, verbunden mit der Frage, wie es in Zukunft mit dem Fuchsbau Festival weitergehen wird. Schon im Vorfeld sah sich das Team gezwungen, sich in einem emotionalen Spendenappell an die Öffentlichkeit zu wenden, wichtige Förderungen waren dem Projekt verwehrt geblieben und hinterließen ein Loch in der Finanzierung. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Festival, das eben nicht nur eines der vielen, sondern ein ganz besonderes voller Herzblut und Persönlichkeit ist, auch in Zukunft einen Raum hat. Dessen Bedeutung in Zeiten eines wiedererstarkenden politischen Interesses und Jugendbewegungen wie Fridays for Future eigentlich nur wachsen kann. Denn auch wenn in diesem Jahr einiges auf der Kippe stand – das Fuchsbau Festival hat sich noch nie so rund angefühlt wie in diesem Jahr.

Hoffentlich nicht die Losung fürs Nächste Jahr – Foto: Jan Helge Petri (Fuchsbau)

Der Fuchsbau e.V. kann nach wie vor mit Spenden unterstützt werden.

Transparenzhinweis: Der Autor hat als Teil eines lokalen Kollektivs eine Bühne mit aufgebaut, betreut und bespielt.

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