Dass Jazz in freien wie traditionellen, spirituellen, modalen wie modernen, orchestralen wie kammermusikalischen Varianten gerade wieder allgegenwärtig scheint und in die Aufmerksamkeit des Mainstream gerät, ist ein Trend, der sich schon seit fünf, sechs Jahren weltweit manifestiert, aber paradoxerweise in den Jahren der Pandemie noch intensiver wurde, trotz oder vielleicht gerade wegen des Mangels an Live-Aufführungen vor Publikum. Eine Labelgründung wie der Ansible Editions kommt daher genau zur rechten Zeit. Und sie zeigt, wie ungeahnt weit, wie tief und stark die Möglichkeiten von Jazz gerade und immer noch sind – selbst dann, wenn nur eine bestimmte lokale Szene mit dem Kondensationskern Nick Storring in nur einer bestimmten Stadt (Toronto) in nur einem Land (Kanada) näher betrachtet wird.
Das geht aus von der von Siebziger-Funk, Fusion-Jazz und Prog inspirierten Debüt-EP 727 / 16 (Ansible Editions, 25. März) des Trios High Alpine Hut Network bis hin zum kleinteiligen, zwischen harsch und frei quietschendem Ausbruch und schwebendem Dark-Ambient-Drone changierenden Soundkonzentrat Future Moons (Ansible Editions, 25. März) von Adams, Dunn & Haas zum eher traditionell, klassisch-modern agierenden The Brodie West Quintet auf Meadow of Dreams (Ansible Editions, 25. März).
Das Tania Gill Quartet, das die Torontoer Pianistin, die unter anderem auch im Brodie West Quintet spielt, um sich geschart hat, bedient sich ebenfalls bei den bewährten und zur Zeit definitiv wieder höchst erfolgreichen Modellen des Modern Jazz. Disappearing Curiosities (Tania Gill/Riparian Media, 11. März).
Die Pariser Bon Voyage Organisation von fünf und mehr exzellenten Instrumentalisten unter der Leitung von Adrien Durand geht auf (Loin des) Rivages (L’invitation Musicale, 4. März) von den Höhepunkten und Hochzeiten des spirituellen Jazz und der Fusion der Sechziger und Siebziger aus, um zu einer Definition von Jazz als zeitgenössischer Clubmusik zu gelangen. Etwas, das knapp vor Proto-House, knapp nach Instrumental Hip Hop und inmitten von Nu Disco und organischem Drum’n’Bass spielt, ohne diese zu kopieren oder die jeweiligen Klischees zu bedienen. Entspannte jazzige Grooves, die nichts beweisen müssen und genau deswegen ganz vorne spielen.
Wenn einem gestandenen Freejazzer und Buch-Autor zum Thema wie dem in Vancouver lebenden Eldritch Priest die absolute Freiheit zu langweilig wird oder zu selbstbezogen, wie der altgriechische Titel Omphaloskepsis (Halocline Trance, 4. März) andeutet, was kann passieren? In diesem Fall die Suche nach neuen Ausdrucksformen im Bewährten, der elektrischen Gitarre. Das fast einstündige Stück geht vom cleanen Twang der röhrenverstärkten Vintage-Gitarre aus, bleibt in einem relativ melodischen tonalen Rahmen und bricht doch immer aus in elektronisch bearbeitete Loops, in Feedback und Krach, findet sich aber immer wieder in einem größeren Zusammenhang. Definitiv eine der erfreulichen Möglichkeiten einer „Nabelschau”, wie der Begriff der Omphaloskepsis üblicherweise übersetzt wird. Erfreulich, interessant und konsequent, dass so etwas auf dem ansonsten eher für ergebnisoffene, gerne queere R’n’B- und Pop-Entwürfe bekannten Label des Halocline-Trance-Kollektivs aus Ontario erscheint.
Ebenfalls Kanada, andere Stadt (Montréal), ähnliche Szene, gleiches Instrument: Bernard Falaise improvisiert-komponiert (komponisiert?) ebenfalls an der um allerlei Pedale und Gadgets modifizierten und erweiterten elektrischen Solo-Gitarre. G(o) Sol(o) (Ambiances Magnétiques, 28. Februar) bedient sich ebenfalls gerne bei Feedback und röhrenverstärktem Krachen und Scheppern, findet aber ebenso leicht zu Wohlklang in langen Drones.
Ebenfalls Kanada, andere Stadt (Winnipeg, Manitoba), andere Szene: die transglobal arbeitende Sound-Art-Produzentin Crys Cole hat mit der knapp halbstündigen, schön doppeldeutig betitelten Radioauftragsarbeit A Piece of Work (Second Editions, 4. März) eine Collage von Feldaufnahmen von Orten des Übergangs wie Bahnhöfen, Flughäfen, Transitstrecken gebastelt, so hört es sich zumindest manchmal an. In der Abfolge und Montage werden diese konkreten Noise-Partikel allerdings zu einer abstrakten Reise um den Globus, zu einer virtuellen Welt, in der viel passiert, ohne dass je klar wird, was eigentlich genau passiert. Ein experimenteller Trip an die Enden der Welt(en), der nirgendwo ankommen muss. Sehr interessant und mit jedem Hören wieder anders neu.
Joane Hétu ist seit den Achtzigern in zahlreichen, immer wechselnden Bands und Ensembles der Post-Rock- und Jazz-Szene Montréals aktiv. Vor allem in der Rolle einer Vermittlerin zwischen experimentellen Musiker*innen, die eben nicht nur, nicht pur Jazz oder Prog oder kaustische Elektroakustik machen wollen. Tags (Ambiances Magnétiques), eine Zusammenstellung von Solostücken oder „Waisenkindern”, wie sie es nennt, ist damit eine eher untypische Ausnahme im Repertoire, zeigt aber schon ziemlich gut, was noch so an Potenzial im freien Teil von Jazz und verwandten experimentellen Genres schlummert.
Die thematischen Cluster, die sich hin und wieder aus dem mal absichtlich gesuchten, mal eher zufällig und glücklich scharfgestellten Fokus auf bestimmte Szenezusammenhänge und Länder ergeben, beschränken sich gerade nicht nur auf Jazz. Im frankophonen Teil Kanadas arbeitet etwa der Komponist Isaiah Ceccarelli an einer hochinteressanten Transformation neutönender Orchestermusik in großer Besetzung zu minimal und intim wirkenden, mitunter sogar Dark-Ambient-nahen elegischen Drones, die ohne jegliche Nostalgie nach der Disruption auskommen, die sich die Neue Musik einmal vorgenommen hatte, und dennoch nicht zu neoklassischer Einfalt drängen. Toute clarté m’est obscure (Ambiances Magnétiques) kommt so bei einer rauen, schartigen Schönheit an, wie sie etwa Pan Daijing vom Noise herkommend vor Kurzem ganz ähnlich für sich definiert hat.