Fragments (Hivern Discs)

Nehmen wir nur einmal „Vol de Nit“ von Marc Piñol: ein leicht ins Electroide gedrehter, straighter Beat, in kurzen Intervallabständen eingeblendete Synth-Bass-Bleeps, ein stoischer Bassbeat, der auf der letzten Achtel des Takts sitzt, und dazu ein verantwortungsvoller Umgang mit langen Hall-Fähnchen: fertig ist die Kiste, Track triggert, Track funzt. Piñol ist ein schöner Aufmacher für die als sechs EPs hintereinander veröffentlichte Serie, mit der Hivern Discs das zehnjähriges Bestehen feiert, die jetzt als Compilation erscheint. Gegründet 2008, machte das Label schon bald von sich reden. Insbesondere durch John Talabot. Er steuert ein blechern rumpelndes Stück bei, das durch seinen Willen zur Fantasmagorie und auch durch den Titel „Hivernoid“ inzwischen wahrscheinlich die Firmen-Hymne ist, die die Angestellten dann jeden Morgen bei Dienstantritt per Beatboxing feierlich runterrattern müssen.
Feierlich jedenfalls mutet dieser Sampler an mit seinen achtundzwanzig Stücke im mit einer aufgehenden, weißen Sonne vor einem lila Hintergrund gehaltenen Schuber der Agentur DR.ME. Waldens „Guerrero Del Lago“ schleicht auf gefährlichen Pfaden, die Pariser Produzentin Epsilove gibt mit „Parallel Universe Night“ ein tolles Stück Roland-Roughness rein. Weitere, besonders auffallende Stücke der Fragments: die mechanoide Kettenreaktion „Z“ von Layered Moods, die „Ich hab’ die Drums in den falschen Hals gekriegt“-Vibes von Steve Pepes „Tribalone“ und „Hypno“ von Beesmunt Soundsystem mit seinem Zug und Drang. Happy birthday!  Christoph Braun

Interstellar Funk Presents:
Artificial Dancers – Waves Of Synth (Rush Hour)

Selbstverständlich konnte der Amsterdamer DJ Olf van Elden alias Interstellar Funk, als er begonnen hat, seine erste Compilation für Rush Hour zusammenzustellen, noch nicht wissen, wie gut Artificial Dancers – Waves Of Synth zu dieser beispiellosen Ausnahmesituation passen würde, die wir derzeit erleben. Die unterkühlte Atmosphäre, die gechanteten Vocals, die technifizierte Künstlichkeit der Synthesizer Sounds der zwölf Tracks – all das klingt in einem Land knapp vor der Ausgangssperre, in dem ein neuartiges Virus grassiert, gegen das es keinen Impfstoff gibt, wie ein Soundtrack zur Zeit. Deprivation und Isolation, die Brüchigkeit des Sozialen und der Zivilisation waren bereits in den Achtzigern, der Geburtsstunde dieses Genres, aus denen auch die Mehrzahl der Stücke auf Artificial Dancers – Waves Of Synth stammt, die vorherrschenden Sujets im Synth-Wave-Kosmos. Interstellar Funk fächert dieses Universum in seine unterschiedlichen Richtungen und Spielarten auf, stellt dabei Bekanntes neben Obskures, lässt etwa das im 7“-Original recht gesuchte „Maskindans“ der norwegischen Minimal-Wave-Formation Det Glyne Triangel von 1982, das in manchem auch bereits die rund fünf Jahre später auf den Plan tretende EBM-Welle vorwegnimmt, auf die Demo-Version von „Stranger“, dem 1985er Hit der niederländischen Darkwave-Pioniere Clan Of Xymox, folgen. Gerade die Nummern aus der Anfangszeit wirken aus heutiger Perspektive nachgerade prophetisch und – insbesondere vor dem aktuellen Hintergrund – weit weniger nostalgisch als erwartet, sondern vielmehr zeitgemäß. Aber auch jüngere Tracks wie Chris & Coseys „Hybrid C“ fügen sich nahtlos ein. Ebenfalls hier erstmals auf Vinyl: „4JG“ von The Human League und Liaisons Dangereuses’ bislang nur auf VHS-Video erhältliches „Dias Cortas“. Outstanding: „Infinity Sign“ des Psyche-Mitglieds Stephen Huss und Richard Bones „Alternate Music For The Hindenberg Lounge“. Harry Schmidt 

Join The Future – UK Bleep & Bass 1988-91
(Cease and Desist) 

Der in den späten Achtzigern entstandene Bleep-Sound gilt als erstes originär eigenes Clubmusik-Genre Großbritanniens. Längst gibt es Compilations, die sich Phänomenen wie indonesischem 70s-Funk widmen. Dass es bislang keine amtliche Bleep-Compilation gab, erscheint ein bisschen rätselhaft. Mit der Veröffentlichung von Join the Future: UK Bleep & Bass 1988-91 wird dieser Missstand behoben. Zu verdanken haben wir das dem Label Cease & Desist, das gerade von JD Twitch (Optimo) gegründet worden ist, und dem britischen Musikjournalisten Matt Anniss. Der hat das kürzlich erschienene Buch Join the Future – Bleep Techno and the Birth of British Bass Music geschrieben und außerdem diese hervorragende Compilation zusammengestellt. Der Titel seines Buches impliziert völlig berechtigterweise eine Kontinuität von Bleep bis zu den Bass Music-Varianten vergangener Jahre. Ohne Bleep wäre der UK-Breakbeat-Sound, der ab 1990 auf dem Fundament von Bleep aufbaute, nicht denkbar gewesen. 

Es folgten die Hardcore-Rave Jahre, Jungle, Drum’n’Bass, Dubstep und Grime. Dann kam die Post-Dubstep-Bass-Ära, und der UK-Garage-Nachfolger Bassline wäre auch noch zu nennen. Warum es diese Kontinuität gibt, lässt sich beim Hören von Join the Future: UK Bleep & Bass 1988-91 nachvollziehen. Beim Bleep-Sound fanden verschiedene Strömungen zusammen. Die Vorliebe für so bislang noch nicht gehörte Sub-Bässe hat ihren Ursprung in der gewichtigen Rolle, die Reggae und die Soundsystem-Kultur ehemaliger britischer Kolonien in England schon seit längerer Zeit spielten. In „Dub Feels Nice“ von Alfanso, hier erstmals offiziell veröffentlicht (und das in einem nie zuvor gehörten Mix), steckt zum Beispiel ganz schön viel Prince-Jammy-Digital Dancehall. Noch ganz am Anfang war damals die UK-Rap-Szene, die ebenfalls in Teilen an Bleep andockte. Und dann waren da natürlich Acid und der frühe Detroit Techno als Initialzündung.

Es ist die nordenglische Stahlstadt Sheffield, die man vor allem mit Bleep in Verbindung bringt. Dort ansässig ist das Label Warp, das in seiner Frühphase den Sound maßgeblich definierte und erfolgreich machte. Ebenso aus Sheffield kommt das einstige Industrial-/Post Punk-Duo Cabaret Voltaire. Als Acid groß wurde, zogen Stephen Mallinder und Richard H. Kirk einfach weiter und ließen ihre Vergangenheit hinter sich. Nachzuhören ist das hier auf dem Cabaret Voltaire-Track „Easy Life“. Doch auch in Yorkshire, so zum Beispiel in Bradbury, pulsierten die Bleep-Bässe, dank Unique 3. Deren 1988 beim legendären Label Chill veröffentlichter Track „Only the Beginning“ war der vermutlich erste Bleep-Track überhaupt. Dass Matt Anniss in seiner Track-Auswahl nicht an Warp vorbeikommt, liegt auf der Hand. So ist der Tuff Little Unit-Track „Join the Future“, vielleicht das größte Bleep-Anthem von allen, hier enthalten, Nightmares On Wax ist auch dabei. Eine besondere Erwähnung verdient natürlich Robert Gordon (Forgemasters, Tuff Little Unit). Ohne sein Mastering und seine Produktionsskills wäre Warp damals nicht Warp gewesen. Und so hat er auch diese Compilation gemastert – und endlich mal diesen Alfanso-Track rausgerückt. Holger Klein

Mother’s Finest (Mother’s Finest)

Mit seinen Mother’s-Finest-Partys hat sich das Team um Franklin de Costa und Miriam Schulte als gleichermaßen in sich geschlossene wie stilistisch offene Institution im Berliner Nachtleben etabliert. Die selbstbetitelte Auftakt-Compilation des dazugehörigen Labels sendet das richtige Signal zur falschen Zeit: Die Release-Party musste die Crew in der Ausweich-Location Alte Münze und nicht im vormaligen Stammclub Griessmuehle feiern. 

Den prekären Verhältnissen der Hauptstadt setzt Mother’s Finest aber ein musikalisches Statement entgegen, das erwartbar avanciert ausgefallen ist und dennoch vom ersten Track – einer knarzenden Ambient-ASMR-Nummer von Laurel Halo – hin zum fiebrigen Finale mit flatternden Jungle-Vibes von Violet eine polyphone Geschichte erzählt, die voller Überraschungen und Wendungen steckt.

Leibniz, Batu und Otik regeln im ersten Viertel feinsinnig das Energielevel hoch, bevor Nasty King Kurl, Karima F und Anunaku über gebrochenen und komplexen Rhythmen auf dem Dancefloor aufschlagen. Ausgehend von den hypnotischen Techno-not-Techno-Grooves von Hodge loten Franklin de Costa, Dynamo Dreesen, Nico, Carl Gari, Katatonic Silentio und Mosca ihre Visionen von Peak-Time-kompatibler Clubmusik aus, die jedoch weitgehend außerhalb des Fokus von Berlins Four-to-the-Floor-Diktat liegt. Obwohl sie doch genau dort am besten aufgehoben ist: auf dem Floor. 

Dass eine dermaßen facettenreiche, musikalisch waghalsige und hochkarätig bestückte Compilation aus monatlichen Partys in Berlin erwachsen ist, macht Hoffnung. Denn wenn der Club dermaßen als Möglichkeitsraum gedacht wird, stellen sich damit nicht allein für die Berliner Feierkultur Weichen in eine bessere, das heißt abwechslungsreichere Zukunft. Bleibt nur zu hoffen, dass Veranstaltungen wie Label den mahlenden Zähnen der kontinuierlichen Verdrängung von Clubs aus dem Stadtbilds Berlin noch lange entgehen. Kristoffer Cornils 

Still In My Arms (A Colourful Storm) 

A Colourful Storm startete im Jahr 2011 als Podcast für DJ-Mixe, die sich randständiger Musik mit Hang zum Dancefloor verschrieben hatte: Heatsick, CoH, DJ Nobu hier, Hanno Leichtmann, Chris SSG oder Joachim Nordwall dort und dazwischen umso mehr. Vor vier Jahren allerdings formierte sich A Colourful Storm als Label neu und sorgte mit Releases von unter anderem Mark und Christoph de Babalon für Aufhorchen. Still In My Arms ist die zweite Compilation seit I Won’t Have to Think About You und wurde wie der Vorgänger von den Labelbetreibern Bayu und Moopie zusammengestellt. Stand vor drei Jahren noch ruppiger (Post-)Punk und Wave unterschiedlicher Couleur und diverser Kältegrade im Zentrum, setzt Still In My Arms nun auf warme IDM-Sounds, die um die Jahrtausendwende herum veröffentlicht wurden. Der Österreicher Martin Haidinger ist gleich drei Mal – solo als Gimmik und Num Num sowie einmal in Kollaboration mit dem Toytronic-Mitbegründer Chris Cunningham unter dem Namen Abfahrt Hinwil – vertreten und nicht wenige der anderen Beiträge kommen von skandinavischen Produzenten. Personelle oder regionale Parameter scheinen bei der Zusammenstellung allerdings genauso wenig eine Rolle gespielt haben wie die musikhistorischen Fußabdrücke der zum Teil recht unbekannten Produzenten. 

Im Zentrum stehen stattdessen klangliche Verbindungslinien: Ein Faible für melancholische Untertöne zieht sich ebenso durch die Produktionen wie ein lockerer Umgang mit Rhythmen und raumklanglicher Deepness. Derweil aktuell eine neue Generation von Produzent*innen IDM und Electronica wieder für sich entdecken und dabei vor allem auf die offensichtlichen Stifterfiguren des Genres Bezug nehmen, finden sich hier Kleinode aus einem Wasserscheidenmoment elektronischer Musik versammelt: Nach der ersten Hochphase von IDM und noch vor allen Verwässerungserscheinungen durch Hybridgenres wie Folktronica träumten Tracks wie diese zehn noch einmal in strahlenden Farben von einer transhumanistischen, digitalisierten Zukunft. Dass die nun anders aussieht als damals erwartet, macht die freundlichen Klänge von damals nur umso willkommener. Auch weil das Sequencing der Compilation nahezu perfekt ist, von wohlig wohlenden Anfängstönen ausgehend langsam mehr Drive aufnimmt und nach einigen (beinahe-)tanzbaren Tracks in elegisch gebrochenen Tönen verklingt. Eine weitere Überraschung aus dem Hause A Colourful Storm, das langsam aber sicher zu einem der wichtigsten Labels für randständige Musik mit Hang zum Dancefloor avanciert. Kristoffer Cornils 

Velvet Desert Music Vol. 2 (Kompakt) 

Das Interessante an der kompakt’schen Compilationreihe Velvet Desert Music ist vor allem, daß Jörg Burger hier Homogenität in ganz unterschiedlichen Ecken findet. Stilistisch steckt wie bei der ersten Ausgabe auch auf Velvet Desert Music Vol. 2 vor allem viel Kraut, Dub und auch etwas Wave und Disco drin, und ja, immer auch eine Prise Spaghetti-Western. Aber trotzdem sind die 14 Tracks der Compilation komplett in sich schlüssig und ergeben einen deepen und konsisten Hörfluß. Mit Superpitcher, Sascha Funke, Rebolledo oder Michael Mayer finden sich viele alte Bekannte aus dem Kompakt-Umfeld, aber auch neue Projekte wie Mount Obsidian (Cubenx) oder Golden Bug and The Limiñanas, mit einem sehr krautigen Schuber inkl. französischer Vocals. Pluramon, um den es lange still war, hat ebenfalls einen Auftritt mit den vergleichsweise verspielten, postrockigen Sounds von „Dragon Slayer“ im Jörg Burger Remix. Das alles formt sich zu einer sehr atmosphärischen Zusammenstellung, die der Pop Ambient-Reihe in nichts darin nachsteht, einen stimmigen gemeinsamen Nenner in unterschiedlichsten Mikrokosmen zu finden. Stefan Dietze 

Der Wien Sampler (Goldgelb) 

Gut, besser, Goldgelb – das 2017 gegründete Wiener Tape-Label pflügt zum Frühlingsbeginn durch den Donau-Underground, lüftet den kalten Zigarettenmief aus Kellergewölben und sät mit Der Wien Sampler neun Tracks von neun verschiedenen Künstler*innen, die aus der Szene für angewandte Puristen mit obskurem Shit im Nebenfach entsprungen sind. Für Labelboss Julian Klien, der als Akrüül selbst die Erde umwühlt, geht’s um das Treibende, um die Immersion, um den Groove im Groove. Deshalb kratzt der Sampler im Sounduniversum zwischen Selbstfindungszeremonie in der Burning Man-Wüste, Trommelworkshop auf Bali und Bring-Your-Own-Mat-Ambient-Partys unter Kastanienbäumen in der Praterallee. Was Conny Frischauf, Geier aus Stahl, Ende Nie und  aus den Maschinen klopfen, lässt Niklas Wandt vor lauter Geilheit mit drei Liter Sanitizer übergießen, bevor er sich am Badestrand selbst mariniert. Wer wissen will, wo die richtig geilen Schwammerln aus dem Boden sprießen, kann mit Luca Carlotta beim „Sehnenscheiden Dub“ durch den Bio-Bewegungsparcour im nächsten Naherholungsgebiet sporteln, mit Blacklight Cameloen durch’s K-Hole schlüpfen und Speek sei dank am Dancefloor rumeiern. Wien verlässt man hier nur barfuß durch die Hintertüre. Christoph Benkeser

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