Bewegung und Stillstand, Erfahrung und Vergessen, Tanz und Kontemplation? Die Multimedia-Arbeit Skin (Non Standard Productions) des erweiterten Duos Recent Arts konstruiert mögliche Zusammenhänge von Video, Stimme, Beat und Körper auf einerseits sehr moderne Weise, in einem hyperaktuellen Post-Techno-Sound, bezieht sich aber genauso auf die klassische Avantgarde und zeitgenössische Performancekunst. Körperpolitische Klänge zum Nicht-Tanzen. Für Tobias Freund, einen der wichtigsten Spätminimal-Produzenten aus Berlin ist das Recent Arts Projekt wohl eine spannende neue Art mit der eigenen Vergangenheit umzugehen. Es ist aber erst das Zusammenwirken mit der konzeptstarken chilenischen Videokünstlerin Valentina Berthelon und der gelegentlich zu hörenden Sängerin Barbie Williams, welches Freunds aufgeräumte Track-Konstruktionen und seinen blitzblanken Sound in eine bisher so nicht von ihm gehörte körperliche Nähe zwingt. Was bei Recent Arts aus der Dynamik eines ungewöhnlichen Duos entsteht, macht die Kanadierin Myriam Bleau auf ihrem Debütalbum Lumens & Profits (Where To Now) beinahe alleine. Für sie bietet weniger der Berliner Techno als diverse afrobritische Bassmusiken die Plattform und den Startpunkt, von dem aus sie in einem komplizierten digitalen Verfremdungsprozess die direkte Körperlichkeit der ehemaligen Clubmusik in eine indirekte aber nicht weniger einprägsame Meta-Tanzmusik verwandelt. Ein tolles Debüt, das nicht nur im Abstraktionsgrad mit den aktuellen Arbeiten von Holly Herndon oder den Visible Cloaks mithalten kann.


Stream: Recent Arts feat. Barbie Williams – Inside

Alte Leute, die ihr Ding durchziehen, einfach mit dem weitermachen was sie am besten können, sind natürlich nicht zu vernachlässigen. King Midas Sound, die gerade wieder zum Duo geschrumpfte Combo aus Kevin Martin und Roger Robinson macht wieder mal genau das, wofür das Projekt von Anfang an stand: ultradüster schleifender Dark Ambient mit Spoken Word Poetry. Solitude (Cosmo Rhythmatic) erzählt nervenkitzelnde Geschichten von Tätowierungen und Anomie, vom Versagen des Körpers und der emotionalen Isolation in einer Beziehung, von Fehlern und Bedauern, und von der Frau – der einzigen – , die man hätte doch nicht gehen lassen dürfen. Das ist ein Schwarze-Hoodie-Düstermänner Business-As-Usual auf allerhöchstem Niveau, was musikalische Qualität, Griesgrämigkeit und Robinsons überholtes Frauenbild betrifft. Da ist es durchaus bedauernswert dass Kiki Hitomi nicht mehr dabei ist. Die Frau, die man hätte doch nicht gehen lassen dürfen, die etwas Farbe, Licht und Experimentierfreude in die dystopischen, altmetallisch ächzenden, mürrischen Dubs der beiden Fusselbartträger gebracht hatte. Trotzdem: In seiner vorsätzlichen Beschränkung auf die Kernkompetenzen der Band ist Solitude kein schlechtes Album. Der Wiener Kosmopolit Christian Fennesz hat in den vergangenen Jahren vorwiegend in temporär ausgelegten Kollaborationsprojekten gearbeitet, unter anderem mit King Midas Sound und Motherboard-Dauergast Jim O’Rourke (übrigens auch ein Japan-Expat). Nach fünf Jahren Pause hat er nun wieder sein Solo-Alias Fennesz reanimiert und mit Agora (Touch) ein Album vorgelegt, das sich auf bekannte Qualitäten verlässt. Einsatz kommen also wie immer eine Gitarre, ein Laptop und eine kleine, feine Auswahl edelster Vintage-Effektgeräte. Die daraus resultierenden vier langen Stücke sind diesmal melodisch und instrumentell eher unauffällig geraten, es dauert lockere zehn Minuten bis das erste als solches erkennbare Gitarrenschrammeln einsetzt. Ansonsten wabert viel grobkörniges Flächengrau mehr oder minder rhythmisiert durch das monochrome Gesamtbild. Manchmal verdichtet sich das latente Fundament bassigen Donnergrollens zu einem leicht unbehaglichen Wall of Noise. Insgesamt wirkt das Album aber eher zurückgenommen und unauffällig, mehr ein Nachfolger des 2008er Albums Black Sea als seiner jüngeren Arbeiten.


Stream: King Midas Sound – You Disappear

Drew Daniel und MC Schmidt feiern den Fünfundzwanzigsten ihres Duoprojekts Matmos zusammen mit einem ganz anderen Jubiläum: der Entdeckung und Entwicklung künstlicher Polymere, also Plaste und Elaste, vor ziemlich genau 180 Jahren. Plastic Anniversary (Thrill Jockey) sampelt sich kopfstark informiert von Konzeptkunst und Avantgarde durch die diversen Ausformungen und Aggregatzustände von Plastik und Gummi, Folien, Weich- und Hartschäumen. Darin führen sie Sample-Glitch und IDM, das Genre, das sie einst erfunden haben, ins Jahr 2019. Und wie schon bei ihren früheren Arbeiten vergisst man den etwas simplen Witz der Platte, Plastikmusik aus Plastiksounds zu fabrizieren ganz schnell, überwältigt von der schieren Menge skurriler Klangideen, der farbenfrohen Vielfalt und der mitunter derben Körperlichkeit der Sounds.


Video: Matmos – Breaking Bread

Dem musikalischen Mäandern des Jan Jelinek dicht zu folgen, ist eine gute Idee. Die Konstante in Jelineks Schaffen ist eine sehr eigenwillige Form von psychedelischem Exzess. Ein präzise geplanter Kontrollverlust der abstrakt, immer kontrolliert und wohlorientiert, ziemlich deutsch über die Stränge schlägt. Diese Musik ist ein Hippie mit korrekt frisiertem Haar und großraumbürotauglichem Business-Outfit. Wie zielsicher er diese Idee schon in seinen frühesten Arbeiten verfolgt hat zeigt die Wiederauflage seines Gramm-Albums Personal Rock (Faitiche/Faitback, VÖ 5. April), das die 1999 noch ganz frische Glitch-Ästhetik sirrender Festplatten und stolpernder CD-Laufwerke zu Glitch-untypischer Psych-Electronica verwischte. Seither hat Jelinek seinen Ansatz in verschiedensten Genres ausformuliert, von Minimal-House (Farben), kosmischer Krautsynthesizerelektronik (unter eigenem Namen) zu „Stockhausen und Eimert drehen im WDR Studio für akustische Kunst an einem Potentiometer“-Neutönen (als Ursula Bogner und als Gesellschaft Zur Emanzipation Des Samples). Sein idiosynkratischer Zugriff auf Klang war dabei immer unverkennbar. Dies ist in seinem Duoprojekt mit dem Japaner Naoyuki Arashi nicht anders. Asuna & Jan Jelinek verdichten auf Signals Bulletin (Faitiche) gefundene und analogsynthetische Klänge zu erdig kosmischen Ambient-Loops. Der spezifische Beitrag Asunas dürfte eine in Jelinek-Produktionen zuletzt nicht mehr so oft gehörte Wärme und Pop-Affinität sein. Der Hamburger Marc Richter hat ebenfalls ein unnachahmliches und über die Jahre perfektioniertes Talent dafür, puren Sound seltsam und unheimlich werden zu lassen. Richters Alias Black To Comm steht für unnachgiebige aber doch zugängliche Klangexperimente, die subtile Spuren von so etwas ähnlichem wie Pop in sich tragen. Auf Seven Horses For Seven Kings (Thrill Jockey) sind es unterschwellige Erinnerungen an die monophone, von Holz- und Blechbläsern dominierte Musik des späten Mittelalters und ihre moderne Remodellierungen in Soundtracks und Gothic Rock. Diese werden von Richter zu mikrotonal zerrenden und mitunter sehr düsteren Dekonstruktionen Neuer Musik überführt. Neue Musik allerdings, die bei rumänischen Blasorchestern, bulgarischen Frauenchören, Doom-Metal, spirituellem Jazz und den Master Musicians of Jajouka genau hingehört hat. Diese Überlagerungen und Verzerrungen sind gerne anstrengend und über-überwältigend, als atonaler Postrock aber immens unterhaltsam.


Stream: Black To Comm – Fly On You

Hirnerweiternde bis hirnerweichende kosmische Synthesizer-Exkursionen sind die heimliche Leidenschaft des Ståle Storløkken, der sich ansonsten als Keyboarder in diversen norwegischen Free Improv- und Jazz-Combos wie Supersilent, Elephant 9 und dem Trondheim Jazz Orchestra verdingt, und dort von konfrontativ atonalen Clustern bis zu mainstreamiger Jazztradition alles liefern kann, was das Projekt erfordert. Solo macht er sich in The Haze of Sleeplessness (Hubro) auf eine Reise ins Innere der analogen Schaltkreise. Im Genre ist ja nicht immer klar, wer die Kontrolle hat und eigentlich wen spielt, der Mensch die Maschine oder umgekehrt. Bei einem so versierten Musiker-Musiker wie Storløkken ist die Sache aber ziemlich eindeutig. Beim anonym mysteriösen Newcomer Aarp schon weniger. Der produziert als The Wanderer feinherbe Electronica. Auf der Mini-LP Novae Gemmae (Infiné) stürzt er sich allerdings rückhaltlos in die Arpeggio-Hüllkurven analoger Modularsynthesizer. Das ist nicht gerade originell, aber ziemlich perfekt umgesetzt, auf einem erstaunlichem Niveau für ein Debüt. Vielleicht ist es ja gerade der unbekannte Grad an Kontrollverlust, der solche Musik nach all den Jahren noch eine nicht unbeträchtliche Faszination verleiht. Die schwedisch-finnische Soundartistin Marja Ahti geht auf Vegetal Negatives (Hallow Ground) einen Schritt über die Synthesizer-Klassik hinaus, sie wandert weiter schwergängiges Gelände. Sie kombiniert Synthesizermonophonie alter Schule auf Vintage-Geräten von Buchla und ARP mit Field Recordings aus abgelegenen Gegenden. Die Kombination einsam und verlassen wirkender Sinustöne mit Feldaufnahmen definitiv einsamer und verlassener Orte führt zu einem erstaunlichen Effekt von Reichtum in Kargheit.


Stream Marja Ahti – Symbiogenesis

Der polnische Pianist Kuba Kapsa ist gleichermaßen im freien Jazz wie in der geordneten traditionellen Big Band zu Hause. Als Bandleader seines gleichnamigen Ensembles wildert er allerdings eher in Gefilden des Postrock und der Minimal Music, mit einem starken Hang zu den kirmesmusikalischen Ausfällen von Yann Tiersen. Alleine gibt er sich auf Supersonic Moth (Denovali) nochmal ganz anders. Improvisiert wirkende, aber offenbar komplett durchkomponierte orange-blaue Noten, pastellige bis melancholisch-elegische Solopiano Stücke, die einem behutsamen Soundprocessing unterzogen wurden. Das Klavier klingt leise und schmal wie bei Otto A. Totland, die fragmentarischen Melodien simpel und archaisch wie bei Erik Satie oder Roedelius, der Flow ist der von Tracks, wie bei LTO oder Kelly Moran. Zusammen also ordentlich zeitgeistig. Wenn das Neoklassik ist, hat das Genre eventuell eine Zukunft.


Stream: Kuba Kapsa – Unspoken Is Better

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