Besonders bemerkenswert ist ein potentieller Neuanfang, wenn man wie Liz Harris schon einmal ein ganzes Genre (neu)erfunden hat. Der von Hall und Pedalecho ins unendliche verwaschene Sound einer elektrischen Gitarre und einer Stimme, welchen Harris mit ihrem Soloprojekt Grouper etablierte, wurde im Laufe der Jahre zum definitiven Ambient für Leute die qua Indie-Rock Sozialisation keinen Ambient mögen. Auf der ersten LP After Its Own Death / Walking In A Spiral Towards The House (Self-Released, Grouper Bandcamp) unter ihrem neuen Alias Nivhek braucht Harris nur wenige ihrer bewährt-beliebten Effektgeräte. Die beiden episch ausgebreiteten, jeweils zweigeteilten Stücke explorieren stattdessen das Zusammenspiel von Analogsynthesizern, glockigen Keyboardsounds, einer unverzerrten E-Gitarre und Harris‘ wie immer diskret im Hintergrund verweilenden Stimme. Im Rahmen der Soundkoordinaten, die Harris bisher bespielt hat, ist das definitiv neu und aufregend. Aber das ist hier gar nicht entscheidend. Es sind einfach die überragende ästhetische Qualität und in sich gekehrte Schönheit, die die Stücke so unverwechselbar und herausragend machen. Also genau die Qualitäten, die Harris‘ Musik schon immer auszeichneten.


Stream: Nivhek – After It’s Own Death (Side A)

Der japanische Produzent Meitei / 冥丁 kommt aus der Crate-Digger Szene Hiroshimas. Seine wenigen Releases spielen allerdings weit jenseits dieser Hip-Hop Sozialisation mit Jazz, Soul, Easy Listening und Library Music. Allenfalls seine Sampling-Skills erinnern an seine Instrumental-Hip-Hop Peers aus den USA. Meitei spürt einer spezifisch japanischen Historie nach, immer auf der Suche nach den verlorenen Geistern und Spuren der lokalen Geschichte. Er nennt es die verlorengegangene japanische „Gestimmtheit“, die er nachfühlen und wiederbeleben möchte. Mit der digitalen EP Meido und dem grandios abgefahrenen Tape Kwaidan, einer Art Vertonung der gleichnamigen Geistergeschichtensammlung, die für japanische Kinder und Erwachsene ähnlich kulturfundierend und weitgelesen ist wie Grimms Märchen im Westen, hat Meitei kurzerhand Dark Ambient neu erfunden und dessen Wurzeln aus Industrial in japanische Folk-Tradition umgepflanzt. Meiteis erstes Vinylrelease Komachi (Métron Records) eiert – nach dem Wabi-Sabi Prinzip – unrund und unsymmetrisch durch immer nur annähernd wiederholte Gedächtnisloops Japans (Tempelglocken, Wasserläufe, Holz-auf-Holz Klöppeln, Wind und Wetter, aber auch alte Folksongs und historische Synthesizer), die eher ein Atmen als einen echten Rhythmus ergeben. Meitei macht das aber auf eine Weise, die unmittelbarer und direkter zugänglich wirkt als noch auf Kwaidan. Eine gänzlich eigenständige, mal an avancierte Soundtracks, mal an konkrete Klangcollagen erinnernde Klangreise durch düstere Erinnerungs- und Gespensterwelten, die doch wunderlich wunderschön sind.


Stream: Meitei – Kawanabe Kyosai Pt.II

Die musikalische Japan-Affinität des US-amerikanischen Duos Visible Cloaks ist unüberhörbar. Ihre Liebe zum elektronischen Postpunk der Achtziger, zum abstrakten „Neo Geo“-J-Wave von Ryūichi Sakamoto und Haroumi Hosonos „Non Standard“-Synthpop. So war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis sie mit „echten“ Japanern kollaborieren würden. Und das ist definitiv eine gute Idee, denn der seit den frühen Achtzigern aktive Soundtrack- und Ambient Produzent Yoshio Ojima und die Klassik-Pianistin Satsuki Shibano, die sich auf das Werk des Proto-Ambient Komponisten Erik Satie spezialisiert hat, verleihen der architektonischen Strenge und glatten Hi-Tech Präzision der Visible Cloakschen Electronica eine gehörige Portion Wärme und Nahbarkeit. Serenitatem (FRKWYS, VÖ 5. April) ist ein weiteres Highlight in der tollen FRKWYS-Kollaborationsserie von RVNG Intl. und kann mit der zum Instant-Klassiker gewordenen Zusammenarbeit von Kaitlyn Aurelia Smith und Suzanne Ciani auf dem Label 2016 mithalten. Die deutsch-japanische Freundschaft des Münchner SVS Records-Labelmachers Benedikt Brachtel mit DJ Ground aus Osaka ist, was die Beatarbeit angeht, zupackender und konventioneller gestrickt. Die Amanogawa EP (SVS Records) des Bartellow San Ground San-Projekts poltert aber auf ihre Weise ebenso überzeugend durch improvisierte Beats im 2019er Kraut-Proto-House Style. Taylor Deupree und sein Label 12K sind seit vielen Jahren ebenfalls eng mit der japanischen Elektronik-Kultur und ihren Künstler*innen verbandelt. So lebt der US-Amerikaner Corey Fuller seit geraumer Zeit in Tokio und spielt dort in der Ambient-Combo Illuha. Sein Soloalbum Break (12K), das allerzartesten und tatsächlich recht Japan-typischen Ambient aus Field Recordings, analoger Wärme und softdigitalem Glitch fabriziert, ist ein positives Beispiel für die respektvolle Aneignung einer fremden Kultur und eines der feinstofflichsten und feinsten Ambient-Alben des Jahres, so viel ist jetzt schon klar. Das Duo Stephen Vitiello & Taylor Deupree verfolgt eine vergleichbar quasi-japanische Ästhetik jenseits von Perfektion und Symmetrie seit Langem. In den Live-Improvisationen Fridmann Variations (12K) flirren digital geschnittene Field Recordings, herbei improvisierte glückliche Zufallssounds und leichte Elektroakustik frei und unabhängig, komplett amelodisch und arrhythmisch durch einen intim kleinen, warmen Raum aus purem Klang. Weiter von Song und Track entfernt geht kaum.


Video: Visible Cloaks, Yoshio Ojima & Satsuki Shibano – Stratum

Es mag für manche(n) Tänzer*innen wie Produzent*innen mit fortschreitendem Alter nicht mehr so abwegig sein, den Club und die zugehörigen funktionalen Tracks hinter sich zu lassen. Die tief in den Körper eingeschriebenen Erfahrungen dieser Sounds je vergessen zu können, ist allerdings praktisch unmöglich, wie sich an einigen neueren Arbeiten ehemals klar im Techno oder Hardcore Continuum situierten Produzenten heraushören lässt. Zum Beispiel am superfetten Triple-Album IMOW / BTWN / DROGI (Recognition, VÖ 18. März) des Polen Jacek Sienkiewicz. Der macht seit zwanzig Jahren Techno-Techno und Minimal-Techno, übersetzt diese aber seit Neuestem in Freistil-Elektronik zwischen Dub, Dark Ambient und IDM, hier stilistisch fein säuberlich aufgeteilt in die drei Album-Tripel, wenn auch nicht unbedingt in der angegebenen Reihenfolge. Sienkiewiczs Stücke fühlen sich immer noch nach Techno an, verzichten aber auf gerade (oder überhaupt) Beats und Loops. Die irischen Techno-Produzenten Arad und Eomac alias Lakker haben sich inzwischen auf andere Art weit vom Club entfernt. Das fünfte Album des Duos, Época (R&S), setzt verstärkt auf dysfunktionale Beats und zerhackte und verfremdete Stimmen. Ein cinematisch-dramatischer Sound der mal den Trip-Hop der Neunziger wiederbelebt (und zugleich dekonstruiert), mal mit Burial im beginnenden Graupelschauer auf den letzten Nachtbus wartet. Dort lungert James Parker a.k.a. Logos schon länger herum. Der britische Drum & Bass- und Dubstep-Erneuerer (mit dem auch am aktuellen Album beteiligten langjährigen Kollaborationspartner Mumdance) bewegt sich auf Imperial Flood (Different Circles, VÖ 12. April) in traumlogischer Sicherheit zwischen dystopischen Post-Club Sounds, verstolperten Beatresten, ihr Geheimnis nicht preisgeben wollenden Disruptionssounds und discokugelglitzernden Flächen. Dark Ambient mit der Attitüde und Roughness von Grime.


Stream: Logos – Arrival (T2 Mix)

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