Woche für Woche füllen sich die Crates mit neuen Platten. Da die Übersicht behalten zu wollen, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Zum Ende jedes Monats stellt die Groove-Redaktion Alben der vergangenen vier Wochen vor, die unserer Meinung nach relevant waren. Dieses Mal mit DMX Krew, Innere Tueren, Jayda G und satten 18 weiteren Künstler*innen – ganz neutral in alphabetischer Reihenfolge.
2196 Back – Excitable, Girl (CPU)
Von digitalen Electro-Flächen bis hin zu stürmenden, wavig-trancigen Hymnen: Excitable, Girl, das Debüt von 96 Back auf Central Processing Unit, strotzt geradezu vor virtuoser Genrewanderung. Es ist erst das zweite Release des Sheffielder Produzenten, der auch in der elektronischen Musikszene in Leeds aktiv ist. Nach einem diesigen Intro („I’m Lost“) geht es direkt los. Braindance-Bomben („Matryoshka“) à la EOD werden von trancigen Balladen („Excited, Boy“) – Aril Brikha grüßt – abgelöst. Dazu: Wavige Synth-Kaskaden. 96 Back zeichnet electroide Landschaften, die sich innerhalb von Sekunden mittels nie billig wirkender Breaks in Acid-Brecher verwandeln („Ghzel Tea“, „Celsius Loss“). Zur Mitte schaltet das Album stimmungstechnisch einen Gang herunter. Die digitalen Sounds weichen organischen, sanften Flächen („Lezi ft. Happa“, „Vennsate“) – perfekt für nachtleere Autobahnen. Die ruhigen Stücke erinnern mit ihren melancholischen und gleichzeitig wachen Synths und glitchigen Beats an IDM im Stile von Plaid oder Fizzarum („Tripp’d Isle“). Zum Schluss dreht die Stimmung nochmal hoch und zelebriert das Braindance-Electro-Gewitter („Excitable, Girl“, „Seize“), bevor das Album abrupt – und etwas deplatziert – im melancholischen Klavier-Solo endet („Vennsate Reprise“).
Sprunghafte Synths, krachende Basslines und trancige Elemente – vor allem gegen Ende vermag man eine gewisse Redundanz zu verspüren; die LP hätte zwei Banger weniger gut vertragen. Dennoch schafft es 96 Back, die Grenzen von Electro aufzuweichen und das Genre weiterzudenken. Ein vielversprechender Newcomer. Shahin Essam
20Alex Ketzer – OTC (Noorden)
OTC ist ein Anti-Album. Im Gegensatz zum verbreiteten Abarbeiten eines bestimmten Themas oder einzelnen Stiles mit Spannungsbogen einer nach unten geöffneten Parabel geht der Kölner Alex Ketzer seinen ganz eigenen Weg. Er hatte wohl einfach eine erfrischend andere Vorstellung, wie (s)eine LP aussehen sollte. Fragmente statt roter Faden sind hier Programm. Nonkonformität zeigte er übrigens schon mal, nämlich auf seiner 2015er Veröffentlichung Marianne Brandt. Dreamy Electronica at its finest, entspannende Downtempo-Nachtfahrten mit eleganten Strings und sogar minimalistisches Gefrickel im Stile einiger Mego-Tracks der späten Neunziger und frühen Nullerjahre finden auf OTC also ihr Zuhause. Heraus sticht dann aber ein Stück namens „Blickdicht“, das mit hemmungsloser Rave To The Grave-Mentalität beeindruckt. Und so steht Alex Ketzers bunte elfköpfige Patchworkfamilie mit einigem Charme und ein klein bisschen Chaos vielen restriktiven Album-Ansätzen entgegen. Andreas Cevatli
19Asyncronous – The Art of Fighting in a Dream (Slow Life)
The Art of Fighting in a Dream – ist das nicht ein wunderschöner Plattentitel? Das Berliner Label Slow Life lässt uns wissen, dass sich die erste Platte des ukrainischen Duos Asyncronous mit der Erforschung des menschlichen Schlafes beschäftigt, mit seinen Phasen, Stimmungen und metaphysischen Erfahrungen. Andererseits: Im Schlaf kämpfen zu müssen, das zählt doch zu den eher unschönen und anstrengenden Erfahrungen – man ist meist auf der Flucht und übel am Strugglen. Vermutlich beherrschen dies nur die wenigsten in Martial Arts-Eleganz. Diese Mini-LP mit ihren sechs Stücken kann dies aber, und zwar mit Sounds zwischen altmodischen Dub-Elementen, Old School-Breakbeats, Electro-Beats in Seitenlage, Kraftwerk-Melodiechen, tröpfelnden Ambient-Elementen, in Zeitlupe herumwirbelnden Tönen und pastellig-impressionistischen Farbtupfern. Von letzteren hat „Point of No Return”, das Schlussstück, reichlich. Tatsächlich, hier ist man geneigt, ins Land der Träume eintauchen zu wollen. Ansonsten ist das Debüt dieser zwei aus Kiew stammenden Produzenten aber durchaus bemerkenswert geworden. Bohdan und Leftie heißen die beiden. Bohdan ist in den letzten Jahren als Techno-Produzent in Erscheinung getreten, während Leftie eine bereits länger zurückliegende Vergangenheit als Drum & Bass-Produzent hat. Wenn man eine Weile darüber nachdenkt, kann man The Art of Fighting in a Dream tatsächlich ins Downtempo-Fach einsortieren, irgendwo in der Nähe des Howie B-Albums Music for Babies von 1996. Holger Klein
18Central – Om Dans (Help Recordings)
Central ist einer der Hauptakteure der angesagten Regelbau-Crew aus Aarhus. Seit dem altbekannten Spiel mit dem Hype um eine kleine lokale Szene, den die Posse um DJ Sports 2017 erlebte, ist auch Central ein international gefragter DJ. Sein erstes Solo-Album seit fünf Jahren birgt 60 Minuten bestes Material für die unterschiedlichsten Tanzflächen. Partystarter „Doing This“ verleiht gute Laune mit Hilfe von Ohrwurm-Akkorden, Deep Vibes für die ruhigeren Momente liefert „Milo“, während die funky Bassline von „Dancemove“ auch die Unentschlossenen wieder das Tanzbein schwingen lässt. Für sich genommen tolle Tracks, im Album-Format dann doch ein wenig eintönig. Neben dem obligatorischen Ambient Interlude „The Sleep“ fehlt hier die Abwechslung. Auch die Breakbeats, mit denen Central 2017 mit „Drive“ (ft. Erika Casier) einen Hit landete, sucht man hier vergeblich. Experimente oder Innovationen bleiben auf diesem Album leider aus. Christoph Umhau
17Dis Fig – Purge (PTP)
Lange Jahre hat man Labels wie Modern Love und ähnlichen Freunden von der britischen Insel die Krone überlassen, wenn es um sonische Abenteuer am Rande des Hardcore Continuums und weitere Bass-Exkurse ging. Erfrischender Zuwachs kommt derzeit aus New York und sammelt sich rund um das Label PTP. Dass hier etwas betulich weiter wächst, zeigt sich spätestens mit dem Album Purge der Künstlerin Felicia Chen alias Dis Fig, die damit einen Nachfolger zum digital only-Release Excerpt From An Atypical Brain Damage liefert. Irgendwo auf dem Weg zwischen New Jersey und Berlin, wo Dis Fig mittlerweile lebt, müssen ihr im besten Sinne die Zündkerzen durchgeschmort sein. Purge ist ein wahnhaftes Debüt, das zur Begrüßung rumglitcht, nur um dann zuckend wie ein Lachs, dem man noch nicht den Gnadenschlag verabreicht hat, am Boden entlang zu hüpfen. Hier fahren mal die Maschinen hoch, da wird Alarm geschlagen und an anderer Stelle einfach nur reingehauen. Besonders erwähnenswert bleiben die Kreisch-Lektionen bei „U Said U Were“, die findige Ohren sicherlich an Karen O erinnern könnten. Neben der ganzen Internet-Punk- und Digital-Goth-Ästhetik ist dementsprechend auch der unfassbar genaue Einsatz der eigenen Stimme das eigentliche Highlight von Purge. Denn Bass-Walzen bauen sich leicht, diese aber in Einklang mit himmlischen Solo-Chorälen zu bringen, ist dann schon wieder ganz große Kunst. Lars Fleischmann
16DMX Krew – Glad To Be Sad (Hypercolour)
25 Jahre lang macht der Engländer Ed Upton nun Musik; in dieser Zeit hat der Mann mit den langen Haaren gut 20 Alben veröffentlicht, das letzte liegt knapp zwei Jahre zurück. Erwartet man von ihm Überraschungen? Nein, bitte nicht. Auch Glad To Be Sad, das seit 2016 dritte DMX Krew-Album auf Hypercolour, weiß die Erwartungen zu erfüllen, zum Glück. Das DMX Krew-Themenfeld ist klar umrissen: Synthesizer, alte Drummachines, klassischer Electro, Italo Disco und Synth Pop. Okay, manchmal gönnt sich Ed Upton auch mal einen House- oder Acid-Track, aber das zählt doch nicht wirklich. Glad To Be Sad verrät das Thema bereits im Albumtitel: Traurigkeit und maximale Zufriedenheit bedingen einander, Melancholie erzeugt also Glück. Wer außer Ed Upton kann solch schluchzend-glückselige Melodien erschaffen, unter denen Basslines Purzelbäume schlagen? „Dark Moon” ist in dieser Kategorie einer der besten DMX-Tracks aller Zeiten, „MR10stery” steht dem in so gut wie nichts nach. Aber nein, Party-Banger für professionell arbeitende DJs hat Glad to Be Sad wiederum nicht zu bieten, wobei man zu „NP-Hard” durchaus schon mal durchs Wohnzimmer hoppeln kann. Und wie niedlich ist denn „Winter Dance”, das letzte Stück dieses Albums? Doch auch ein paar seriöse Electro-Beats hat dieses eher Synth Pop-lastige DMX Krew-Album zu bieten, „Drum Machine Pt. 2” heißt eines davon ganz pragmatisch. In einer guten Welt würde Ed Upton mit dieser LP ganz viele neue Anhänger seiner DMX Krew um sich scharen und nicht nur die alten in ihrem Glauben bestärken. Aber es gibt vielleicht ja nicht nur diese eine Welt. Bleibt die Frage: Wie schafft er es, sich derart treu zu bleiben und trotzdem nie zu enttäuschen? Holger Klein
15Feater – Socialo Blanco (Running Back Incantations)
Den EMS Synthi AKS könnte man zweifellos zu den bedeutenderen Analog-Synthesizer-Modellen zählen, die in den letzten 50 Jahren die Genese elektronischer Musik begleiteten. Brian Eno nutzte ihn als Klangquelle für seine seminalen Ambient-Alben und Jean Michel Jarre staffierte damit die luzide Weltraumvision Oxygène aus, die am 6. September 1997 in Moskau vor 3,5 Millionen Zuschauern performt wurde und bis heute als das größte Konzert der Geschichte gilt. Auch die spacigen Elemente des Pink Floyd-Sounds wären ohne den EMS-Allrounder aus Synthesizer, Sequencer und Keyboard nicht denkbar gewesen. Diese Referenzen sind wichtig, um Socialo Blanco als Album einordnen zu können. Denn die Soundsprache von Tracks wie „Yogtze“ oder „Gold Matches“ ist durch den AKS zwangsläufig irgendwie bekannt und im Nostalgischen verhaftet, passt aber gleichzeitig mit ihren viszeral instrumentierten Harmonien in den gegenwärtig so angesagten Rückgriff auf retro-modernes, bisweilen charmantes Ideengut. Angeblich ein Grower, soll man die große Begeisterung für den zweiten Feater-Release laut Pressetext erst nach dem dritten Durchgang so richtig wahrnehmen können. Dabei erschließen sich die Qualitäten eigentlich schon beim Track „Don Moneyiere“, der inmitten eines Dickichts an Oszillation mit den hypnotischen Perkussionen von Ebo Taylor, Eric Owusu und Pat Thomas eine verzerrt-rituelle Atmosphäre entwirft. Dass dieses Instrumentarium auch super sahnige Pop-Säusler abwirft, demonstriert das sommerliche „Time Million“, dem die Finnin Vilja Larjosto ihre warm durchhauchte Stimme leiht. Direkt auf Audiotape aufgenommen und gänzlich ohne digitale Nachbearbeitung, ist Daniel Meuzard mit Socialo Blanco eine gleichermaßen facettenreiche wie konsistente Produktion gelungen, die aus der Vergangenheit schöpft und neugierig auf die Zukunft von Feater macht. Nils Schlechtriemen
14Jayda G – Significant Changes (Ninja Tune)
Jayda G ist schon länger keine Unbekannte mehr. Die zwischen Berlin und Vancouver pendelnde Kanadierin produziert seit einigen Jahren äußerst solide House-Nummern. Mit DJ Fett Burger begründete sie 2015 das Label Freakout Cult, mischte 2017 das Dekmantel Festival mit einem Soul- und Disco-Set auf und hat seit kurzem eine Show Residency bei BBC Radio 1. Ihr Debütalbum auf Ninja Tune ist nun ein Update des Disco-House der frühen Neunziger, und zwar ein äußerst gelungenes. Da lugen Crystal Waters und Ce Ce Peniston um die Ecke, doch die abstrakten Beats und die Deepness verorten das Werk klar in den späten Zehnern. Davon zeugt schon der Opener “Unifying The Center (Abstract)”, ein verschachtelt-verschwurbeltes Beat-Gebilde als Nebelkerzen-Einstieg in eine eigentlich sehr andere Platte. Während “Renewal (Hyla Mix)” noch verträumt daherschwebt, geht es mit “Stanley’s Get Down (No Parking on the DF)”, “Leave Room 2 Breathe” sowie später “Sunshine in the Valley” rüber zum Dancefloor. Bei “Missy Knows What’s Up” verbindet die studierte Umwelt- und Ressourcenmanagerin auch noch lässig ihre beiden Passionen: Die Vocals, die über dem düster-clubiggen House-Beat liegen, setzen sich aus einem Vortrag über den Walschutz zusammen. Tanzen und lernen, was will der*die Millennial mehr? Steffen Kolberg
13Innere Tueren – Innere Tueren (KANN)
Mit der Debüt-LP Innere Tueren schlägt der bis dato nur in Leipziger Kreisen bekannte Ergin Erteber erste Wellen jenseits der ostdeutschen Hypestadt. Auf den 15 Tracks in gerade mal 40 Minuten schafft er eine gelungene Melange aus Deep House, Ambient und Downtempo-Skizzen. Ganz in der Tradition des ortsansässigen KANN-Labels bespielt er die softere Seite des Genres, verzichtet auf ballernde Kickdrums und quietschende Synthesizer, sondern setzt den Fokus auf verspielte Melodien, vernebelte Flächen und sonnige Schwingungen. Titel wie „Oberfeld“ wären auf einer Dwig-LP nicht Fehl am Platz, doch fehlt zum großartigen Album die Vielfalt. Auf Titeln wie „Entfernungen“ und „On Starlet Ocean (III)/94 Sunrise Mix“ versucht Innere Tueren, den dahinplätschernden Downtempo-Fluss zu durchbrechen, allerdings nur mit verhaltenem Erfolg. Insgesamt ein sehr kohärentes, nicht zu aufdringliches Album, wie gemacht für die ersten Sonnenstrahlen im Görlitzer Park bei einer Jazzzigarette. Christoph Umhau
12Keys – Voltage (R.i.O.)
Seit 2010 hat sich Benedikt Frey einen beachtlichen Ruf als Mann der vielen Talente
erworben. Ob Techno, Acid, House oder Electro, seine Releases für Labels wie Mule
Electronic, Live At Robert Johnson, Nous’klaer Audio, Crème Organization, Hivern
Discs oder ESP Institute wussten stets zu überzeugen. Mit INIT, seinem Duo mit
Nadia D’Alo, hat sich der aus Pforzheim stammende Producer zwischen Synth-Pop
und Electronica positioniert. Keys, Freys neues Projekt mit Chris Cox, widmet sich
ebenfalls einem Sound, der zwar jenseits des Dancefloors situiert ist, sein Vokabular
aber dennoch aus dem Clubkontext bezieht. Mit acht radioformatkurzen Tracks
erreicht Voltage gerade mal die Laufzeit eines Minialbums, trotzdem ist das Debüt
von Keys ausgesprochen gelungen. Thematisches Zentrum des Albums ist eine
Spannung, die sich jedoch nie vollständig entlädt. Wer sich eine Schnittmenge aus
Chris & Cosey, Suicide und den Young Marble Giants vorstellen kann, hat bereits die
Hälfte des Wegs zu diesem dunkel psychedelisch grundierten, so sinister wie
verführerisch glimmenden Quiet-Storm-Leftfield-Album zurückgelegt. Für die anderen
bleibt dann jedes Ohr auf sich selbst gestellt. Harry Schmidt
11Lafawndah – Ancestor Boy (Concordia/Studio K7)
Lafawndah tritt nicht gern auf der Stelle. Yasmin Dubois, wie die Musikerin eigentlich heißt, hat ägyptisch-iranische Wurzeln, wuchs in Paris und Teheran auf und schrammelte als Teenager schon mal in einer mexikanischen Post-Punk-Band. Prägende Einflüsse, für die so mancher Travel-Blogger seinen ausgeleierten Pass verschleudern würde. Auf Ancestor Boy, das Dubois auf ihrem eigenen Label Concordia veröffentlicht, sublimiert sie die aufgeschnappten Stile zu einer globalisierten Form von Pop-Maximalismus, der die Beats von Arca zurück in den Pauschalurlaub schickt. Über 46 Minuten und 13 Stücke stapft sie in Siebenmeilenstiefeln um die Welt und hinterlässt dabei mehr als einen ökologischen Fußbabdruck. Scheinbar harmlose Rhythmen schlittern in ratternde Footwork-Abfolgen („Uniform”), türmen sich auf wie die rotgefärbten Haare auf dem Cover-Artwork und brechen in versöhnlich abschwellenden Outros („Parallel”, „Oasis”) in sich zusammen. Aus den Trümmern blitzt Dubois’ allzu glatt polierte Stimme und stößt über mehrere Oktaven in schwindelerregende Höhen des Frequenzbereichs. Könnte an Fatima al Qadiri erinnern. Oder an Kelela. Kein Wunder. Schließlich supportete sie ihre Warp-Kollegin 2017 auf Tour. Und an Laurel Halos Dust hat Dubois ebenso mitgewerkelt wie an der multimedialen Arbeit, die sie in diesem Jahr mit der japanischen Ambient-Künstlerin Midori Takada auf die Bühne der Londoner Barbican Hall bringt. Sound an. Welt aus. Ancestor Boy! Christoph Benkeser
10Lakker – Época (R&S)
Das irische Duo Lakker veröffentlicht mit Época sein drittes Album auf R&S. Darin wird der unverkennbare Sound zwischen schwerem IDM, treibendem Techno und dunklem Ambient entschieden weiterentwickelt: Dekonstruierte Rhythmen, akustische Samples und Vocals geben der Schwere eine erfrischende neue Nuance. Die neuen Elemente sind schon auf dem Intro-Track „Shoulder To The Bat“ versammelt: Unterwandert von einem Tribal-Beat, der sachte, aber bestimmt nach vorne drängt, hört man eine mystische Männerstimme im Duett mit einer verzerrten Akustik-Gitarre. Der Mystik-Vibe kehrt immer wieder. Seien es komplexe Rhythmen mit dramatischen Melodien („100 Bar“) oder verzerrte metallsaitige Gitarrenklänge mit eisigen Klangflächen („Calvier“): Der Sound ist vereinnahmend, schwermütig und ritualistisch. Die metallischen Klänge sind eine weitere Kontinuität des Albums, die eine entscheidende rhythmische Funktion einnehmen – abgerundet durch pointierten Bass und drückende Beats („A Juggling of Numbers“, „Dropped Shoulders“). Melodiös bewegt sich Época auf einem breiten Kontinuum von herzzerreißenden, pfeifenden Tönen über kratzige, fast romantische Violinen-Samples („A Whisper In Your Ear“) bis hin zu weiten Klangflächen („Murmuration“). Insgesamt bedient das Album ein großes Spektrum an Emotionalität. Dies erzeugt eine Überladenheit, die sich aufgrund eines fordernden und klaren roten Fadens positiv auswirkt. Und das alles mit einer technischen und kreativen Progressivität, die erkennen lässt, warum Lakker zu einem wichtigen Pfeiler des experimentellen Techno geworden sind. Shahin Essam
9Lamusa II – Sulfureo (Hivern Discs)
Ach, schon wieder gut gemachter Surrealismus in elektronischer Musik und schon wieder Hivern Discs! Giampaolo Scapigliati, ein Italiener in Paris, gießt für sein zweites Album das Terroir von Viterbo zu Klang. An diesem Ort, bekannt für seine Schwefelquellen, ist Scapigliati aufgewachsen. Und er erinnert sich an die Plätze, Blicke, auch Gerüche in einer spukhaften Fernwirkung. Ja, das Album ist voller Gerüche, vielleicht ja auch wegen des Namens, der den Schwefel in sich trägt: Salz in „Spirale Nelle Mani“ mit seinen gekörnten Loops, Weihrauch in den langsam aufsteigenden Rauchfahnen von „Radici (Percussive)“, Rosmarin inmitten eines Bouquets von Kräutern in den skelettartigen Percussions von „Piano Inferiore“. Lamusa II macht sich so sein Zuhause nicht schön. Eher entfremdet er es sich, um sich ihm zu nähern. Und der Effekt: Da muss ich hin. Na also. Christoph Braun
8Locked Groove – Sunset Service (Hotflush)
Nach einer Reihe von EPs, die bereits keinen Hehl aus seinen belgischen Wurzeln gemacht haben, legt Locked Groove mit seinem Debütalbum nach. Und das verortet sich knietief in der Rave-Blütezeit der frühen Neunziger, als britische Bleeps und Breakbeats mit belgischem New Beat, EBM und Trance zum prägenden europäischen Rave-Sound verschmolzen. Damals also, als die Musik neu, die Drogen besser und das Gras noch grüner waren. Die unverblümte Direktheit der Tracks, die mit wenigen, aber dafür knalligen Stilmitteln geballte Euphorie generieren, macht Laune, die wie bei „Do Not Freak“ mal durch Vocal-Snippets und Piano Hooks hochgehalten wird oder mit „I am for Belgium“-Vocals, Acid Lines und schroffen Bass Drums („Eden“) direkt mit der Tür ins Haus fällt. Sunset Service ist ein Album, das außerordentlich viel Spaß macht, unabhängig davon, ob man sich die Tracks als nostalgische Memorabilien rahmen und über das Bett hängen oder einfach nur mal wieder raven möchte. Stefan Dietze
7Mario Hammer And The Lonely Robot – Définition Synematique (Cocoon)
Das neue Album von Mario Hammer And The Lonely Robot trägt den Titel Définition Synematique und besteht aus 17 Ambient-Stücken, die eine Art Gesamt-Klangwerk bilden, da sie nahtlos ineinander übergehen. Trotzdem steht jeder Song wie eine Art Eigensequenz für sich und kann deshalb auch einzeln gehört werden. Dabei bilden meist Pad-artige Klangteppiche, die im Laufe moduliert und durch weitere Sounds ergänzt werden, die Grundlage. Jedes dieser Stücke versucht, eine bestimmte Stimmung zu erzeugen beziehungsweise den Hörer*innen ein spezielles Gefühl zu exponieren. So löst sich eine bedrohliche Atmosphäre zu Beginn („Petrichor”) über tropische Umwege („Orenda”) schnell ins Hell-Träumerische auf („Verstehen”), um anschließend in deutlich ernstere und düsterere Klänge abzugleiten („Polot”), die ab dann das weitere Album bestimmen. Nur schafft es leider kaum ein Track, anhaltend musikalische Kraft zu entfalten. Da der Spannungsaufbau bisweilen hektisch wirkt, kann sich eine dichte Atmosphäre meist nicht nicht in Ruhe aufbauen. Viele sehr drahtige Synth-Klänge („Orenda”), zum Teil unangenehme Frequenzen und überzogene Arpeggien (“Koyaanisqatsi”) überanstrengen zudem die Konzentration deutlich. Lediglich “Filter Kaffe I” schafft es, ohne zu oft gehörte Pad-Modulierungen einen eigenständigen und organischen Drive zu kreieren, der mehrdimensionale Industrie- und Kellergefühle aufkommen lässt. Ansonsten wirken viele Sounds und Effekte kitschig, uninspiriert und suchen zu gewollt den spacigen Klang. Ernsthafte musikalische Reibungsflächen lassen sich bei dieser leider mittelmäßigen Veröffentlichung daher nur mit Mühe finden. Lucas Hösel
6Matmos – Plastic Anniversary (Thrill Jockey)
Wie lange gibt es eigentlich schon Plastik? Interessante Frage. Das Jubiläum im Titel von Matmos’ jüngstem Album verweist aber vielmehr auf das Jubiläum des Duos als Band und Paar: 25 Jahre sind und musizieren Drew Daniel und M.C. Schmidt jetzt zusammen. Plastic Anniversary begeht diesen Anlass mit einem runden Konzept. Wie Konzepte auch in der Vergangenheit gern ihre Tonträger zierten und die Klänge oft von „außermusikalischen“ Quellen herrührten. Diesmal stammen alle Klänge von Objekten aus Kunststoff. Dinge, auf denen man herumklopfen, an denen man herumreiben oder auch solche, in die man ganz gewöhnlich hineinblasen kann. Eine komplette Bläsersektion aus Kunststoff ist etwa im Titelstück versammelt. Das klingt auf entspannte Weise verspielt. Schrille Frequenzen entlocken sie ihren „Instrumenten“ kaum, man einigt sich eher auf schrullig-gelassene Collagen mit in der Regel großzügig bemessenen harmonischen und melodischen Anteilen. Eine besinnlich-exzentrische Feier. Tim Caspar Boehme
5Max D – Many Any (1432 R)
Max D macht Future Times, das Label aus Washington, D.C. Für sein Album Many Any jedoch geht er zur futurologischen Archäologie der Ortskolleg*innen von 1432 R. Entsprechend reiche Schätze aus diversen Gegenwarten, Vergangenheiten, Zukünften vermag Many Any zu heben. Wo „I Think Our Souls Are Other People“ zackig die Electro-Historie aufmischt, reminisziert „Shoutout Seefeel“ ebenjene britische Analog-Digital-Band und schenkt diesem Sound der Neunziger noch ein paar Messsignale aus der Himmelsbeobachtung. Überhaupt: Max D erlaubt sich zwar Vielfalt in Tempi und Atmosphären. „Lullabiological“ ist Dubtechno mit Silberwölkchen und rosagoldenen Reflexen; „Snow Melting“ hingegen mit seinen Tropfgeräuschen und frühlingserwachenden Vogelunterhaltungen oder die Stimmen mit hohem Widerhall in „Boo Sneeze“ Konkrete Musik aus Feldaufnahmen. Und die Downbeats von „Stik“ und „Cuz It’s The Way“ erzählen etwas von der Liebe zum Hip Hop. Der Rahmen bleibt jedoch Retrofuturismus: Clings, Clangs, Pfade von der tiefsten Zukunft hin zu Vergangenheiten, die sich noch offenbaren werden. Und damit macht Max D sein Many Any erzählerisch verbindlich. Christoph Braun
4Nihar – Chrysalis (Jacktone)
Techno aus San Francisco fristet ja immer noch eher eine Randexistenz. An solchen Rändern können dafür umso interessantere ausgefranste Dinge entstehen. Nihar Bhatt, Produzent, DJ und Mitgründer des Labels Left Hand Path, knüpft auf seinem Debütalbum Chrysalis an dunklere Traditionen des Genres an, mit Verneigungen in Richtung Industrial, eher tribalistisch pochenden als geradlinig den Viervierteltakt nachzeichnenden Rhythmen und der einen oder anderen vorbeiwehenden Ambient-Fläche. Statt Routinen zu bedienen, rührt er seine Elemente immer wieder mit einer unvorhersehbaren Kantigkeit zusammen, die trotz aller schroffen Zutaten meistens ziemlich freundlich klingt. Eine Verwandtschaft zu Künstlern seines Labels wie Russell E.L. Butler ist durchaus zu erkennen, wobei die „Schmetterlingspuppe“ (so der Titel auf Deutsch) bei Nihar insgesamt zarter heranwächst. Groß und stark genug für die Tanzfläche ist sie allemal. Tim Caspar Boehme
3Rian Treanor – Ataxia (Planet Mu)
Ataxie ist ein medizinischer Sammelbegriff für verschiedene Störungen der Bewegungskoordination. Und Ataxia, das Debütalbum von Rian Treanor, ist Tanzmusik, bei der man schon mal ins Stolpern geraten kann. Es zielt auf die Körperkontrolle seiner Hörer*innen vor allem, weil seine Tracks so komplex gebaut sind: Andauernde rhythmische Verschiebungen und Synkopierungen können Beine und Synapsen gleichermaßen verknoten. Treanors produktionstechnische Ambitionen führen sich im Sounddesign fort: Klanglich ist Ataxia ein Ereignis, messerscharf produziert, dabei aber trotzdem punchy. So etwas wie eine eigene musikalische Idee bleibt jedoch auf der Strecke. Treanor manövriert zwischen Garage, Techno und Footwork, bedient sich dabei aber bei Klangentwürfen, wie sie so unterschiedliche Artists wie Jlin, Lorenzo Senni oder Gábor Lázár bereits formuliert haben. Offensichtlicher Einfluss sind auch SND bzw. Mark Fell, was schon deshalb naheliegt, weil Treanor dessen Sohn ist. Während der Papa aber schon längst im White Cube angekommen ist, will der Sohn noch Raven gehen. Die hyperaktiven Stücke seines Debüts schielen schon qua Tempo und Intensität eindeutig in Richtung Peaktime. Womit man wieder beim körperlichen Kontrollverlust wäre: ‘Lose Control’ ist schließlich nicht nur so etwas wie ein Imperativ des Floors, sondern auch der dieses Albums. Weil Treanors Musik aber so wahnsinnig kontrolliert wirkt, gleicht sein Album eher einer handwerklichen Leistungsshow, der man bewundernd zuhört, zu der man aber nicht unbedingt ausrasten möchte. In diesem Punkt stellt Treanor sich gewissermaßen selbst ein Bein: So kann man natürlich auch ins Stolpern geraten. Christian Blumberg
2STL – Nautic Nebulous (Something)
Seit den frühen Nullerjahren erschienen von Stephan Laubner über fünfzig Alben, und seine EPs braucht man gar nicht exakt zu beziffern, um zu erkennen, dass dieser Künstler eher wenig Probleme mit musikalischen Einfällen hat. Nautic Nebulous spiegelt diese ausgeprägte Kreativität auf Albumlänge geballt wider, hier treffen Old School-Beats nicht auf New School-Sounds oder Sonstiges, sondern auf No-School, auf Eigenheit und Persönlichkeit. Gerade die Melodien und Harmonien auf Nautic Nebulous besitzen weit mehr Komplexität als das, was gängigerweise über Housebeats passiert, und sie lassen mutmaßen, dass Laubner auch Neue Musik und Prog Rock vertraut sind. Wobei nichts gewollt oder poserhaft wirkt, alle Elemente verbinden sich zu einem stimmigen Ganzen, was hier bedeutet: einer gewissen Rauheit und sympathischen Grantigkeit. Das Album ist weniger moody als If Time Would Move Backwards, seine letztjährige EP auf Solar Phenomena, und auch weniger dubbig als At Disconnected Moments, sein Album auf Smallville von 2014. Gerade die Downbeat-Stücke wie der Opener „Here We Go“, das funky-holprige „Chebyshev Fold“ oder das tolle „He Knows The Score“ leben von dieser Stimmungslage und der Verbindung von coolen Breakbeats und eher kontextfremden musikalischen Strukturen und Sounds. Und die House-Tracks bewahrt Laubners Herangehensweise vor der häufig alles erstarren lassenden Selbstreferentialität vieler Produktionen. Mathias Schaffhäuser
1Zaliva D – Forsaken (Knekelhuis)
Mitte der 1970er Jahre entstand das Genre Industrial als Reaktion auf die Kontrollgesellschaft und deren zerstörte Lebenswelten. Im Augenblick wird wieder viel Industrial publiziert. Oft klingt er nach Zeitgeist, nicht nach Haltung. Eine Ausnahme: Zaliva D aus Peking. Seit 2003 erschaffen der Musiker Li Chao und die visuelle Künstlerin Aisin-Gioro Yuanjin Dark Ambient und Industrial, der absolut auf die politischen und ökologischen Zustände ihrer Heimat reagiert. Bis dato war alles nur digital erhältlich. Nun brachte das niederländische Label Knekelhuis mit Forsaken ein Album in die Plattenläden, das vielen Produzent*innen unter dem Deckmantel Industrial zeigt, wie gefühlte Bedrohung klingt. Sieben gespenstische Tracks zwischen Techno, Tribal und Industrial, die mit manischen Vocals, Mantra-Gemurmel, harten Kicks und asiatischen Klangtraditionen tanzen und das kalte Herz einer ‘demokratischen Diktatur’ fesselnd in Klang übersetzen. Michael Leuffen