Foto: Frank P. Eckert

Schwere Elektronik mit archaisch anmutender Harmonik, da ist das überwältigte „Wow!” quasi garantiert. Das geht nicht nur in Techno, wie etwa The Allegorist oder Barnt zuletzt vorgelebt haben, sondern ebenso gewichtig in experimenteller Klangexploration wie sie die spanische, in den Haag lebende Cellistin Yamila Ríos praktiziert. Ihr zweites Album Visions (Umor Rex, 10. Juni) stellt ihr gelerntes Instrument erst einmal beiseite und fokussiert auf Elektronik und Stimme. Und wie! Apokalyptische Visionen von Zerstörung und Katharsis und Ausblicke auf den Frieden im Dies- und Jenseits zwischen elysischen Feldern und halkyonischen Tagen. Aus erhebenden Chorälen in alten Tonarten und mikrotonal angezerrten Drones ensteht so etwas, das tatsächlich schwerstens beeindruckend gerät.

Mindestens ein genauso dickes Wow! gebührt Heidi Mortenson, deren jüngstes Projekt Phtalo eine geschlechtlich und auch sonst nichtbinäre Empfindsamkeit in eine Klangästhetik minimalistischer Texturen und schlanker Beats umsetzt. Das zweite Phtalo-Outing Monotone (Endless Process, 1. Juli) geriet so zur Feier der Immanenz, zu einer brillanten Ausstellung dessen, was geht, was kann, aber nicht muss. Jeder Track könnte zu genialem R’n’B, zu bodenständigem House oder freidenkerischem Techno werden. Oder auch zu experimenteller Electronica, zu überbordendem, schwelgerischen Hyperpop. Wird es aber nie vollständig, bleibt in einem fluiden Zwischenzustand, einer existenziellen Flüchtigkeit und Unverfügbarkeit, die vielleicht die Essenz des Pop darstellt, vielleicht aber doch etwas komplett Abseitiges. Jedenfalls etwas Geniales.

Free Radicals (Infiné, 10. Juni), die beeindruckende erste gemeinsame EP der französisch-tunesischen Beat-Radikalist*innen Deena Abdelwahed und Basile3, wildert metaphorisch ebenfalls im Bereich der Biochemie. Lebenswissenschaftliches aus der Physiologie in reduzierten, minimalistischen Stolperbeats maximaler Eindrücklichkeit, die sich in „Hyaluron” (ein Zucker-Polymer) annähernd gerade in ultimative Sweetness aufschwingen dürfen.

Ebenfalls durchwegs Wow!-fähig sind die Splitterbeat-Noise Attacken, die auf Labels wie dem chinesischen SVBKVLT gefahren werden. Einer deren Vorantreiber in Sachen Sounddesign und experimentellem Weiterdenken von IDM und Glitch ist der in Shanghai ansässige Osheyack. Dessen zweites Album Intimate Publics (SVBKVLT, 8. Juni) setzt allerdings nur zum kleineren Teil auf kleinteilige Terrorbeats und Subbass-Attacken. Stattdessen Rekonstruktionen von Clubmusiken und urbanen Vaporstandards. So könnte, ja müsste der EDM- und R’n’B-Mainstream der Zukunft klingen. Wenn es ihn nicht schon gäbe, als Feedback-Loop im Kabelsalat von Osheyacks Brain-Hardware.

Wenn die dänische Grande Dame der Vokalimprovisation Randi Pontoppidan ihre Stimme in den Mix wirft, ist ein interessantes Ergebnis praktisch garantiert. Mit dem Pianisten Povl Kristian hat sie mit Life In Life (Chant Records, 6. Mai) eine subtil elektronische Variation ihrer Kunst bereitet, die nicht zuletzt wegen des Klangs des Grand Piano mehrheitsfähig im Sinne von Neoklassik klingt und um so viel spannender als der neoromantische Alltag.

Das norwegische Duo Propan nimmt die Stimmen zum Anlass für sehr freies Experimentieren in Elektroakustik, Improv und Elektronik. In Kombination mit den nicht mal grob annähernd neoklassisch verwendeten, akustischen „Propanions” aus Strings, Holz- und Blechbläsern entsteht auf dem auf den Punkt betitelten Swagger (Sofa/Femme Brutal, 25. Mai, Vinyl erst am 8. August) eine ausufernde wie radikal-freie Klangästhetik des ungehemmten Spiels, die doch erstaunlich oft in songhaftem Pop oder Postrock endet, nur um im nächsten Atemzug dann wieder in klirrende Einzelteile auseinanderzufallen. Großer Spaß in ernstzunehmend großer, ernster Musik.

Die New Yorker Künstlerin Kristin Oppenheim ist für minimalistische wie immersive Installationen bekannt, in denen Sound eine wesentliche Rolle spielt. Mit der menschlichen Stimme als entscheidendem, be-stimmendem Element. Der zweite Teil ihrer gesammelten Sound-Art-Retrospektive des Berliner Labels INFO fokussiert noch einmal explizit ihre Stimmarbeiten. Voices Fill My Head – Collected Sound Works 1993 – 1999 (INFO, 9. Juni) versammelt Arbeiten für Oppenheims Solostimme ohne weitere Instrumente und praktisch unbearbeitet, aber den ganzen (Stereo)Raum nutzend. Sehr beeindruckend, wie weit sie mit so wenig kommt.

1
2
3
4
5
6
7
Vorheriger ArtikelSonic Territories 2022: Das Line-up steht, gewinnt Tickets!
Nächster ArtikelTom: Trackpremiere von „Lose Yourself feat. Rose“