Business-Techno und grünes Feiern, Sexismus und sexpositive Partys, künstliche Intelligenz und prollige Techno-Memes – im Rückblick auf das Techno-Jahr 2019 fällt vor allem auf: Es war mal wieder voller Widersprüche. Wir bringen Licht ins Dunkel und wagen uns mit unserem Jahresrückblick an eine Bestandsaufnahme. Los geht’s mit unseren zehn prägnantesten Ereignissen aus 2019 – subjektiv, und natürlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit!

1. Subkultur im Kreuzfeuer: Fusion, Mensch Meier und ein Anti-Rave-Gesetz

Collage: Mensch Meier (Presse), Playmobil (Presse) 

Polizeipräsenz und -gewalt in linken, subkulturellen Räumen ist sicherlich keine Erfindung von 2019. Dennoch scheinen die Vorfälle im vergangenen Jahr ein neues Level erreicht zu haben. Ende März drangen Zoll und Polizei in das Mensch Meier in Berlin ein. Sea-Watch hatte dort zur „Nacht der Zivilen Seenotrettung“ geladen. Der Pressemitteilung der Veranstalter*innen zufolge hätten sich die Beamten nicht als solche zu erkennen gegeben, außerdem sollen sie unverhältnismäßig viel Gewalt angewendet haben. Wie sich später herausstellte, war die Polizei – anders als sie bis dahin behauptet hatte – tatsächlich in zivil aufgetreten.

Anfang Mai sah sich die Fusion in Gefahr: Zum ersten Mal in der 22-jährigen Geschichte des Festivals war das Sicherheitskonzept von der Polizei nicht genehmigt worden. Gründe: fehlende Fluchtwege, sowie keine Notfallbeschallungsanlage. Die Polizei wollte daher „in Form einer Polizeiwache auf dem Festivalgelände Präsenz zeigen und zukünftig anlasslos das Gelände bestreifen”, schrieb der Kulturskosmos Müritz in einem Newsletter und wandte sich infolgedessen erstmals an die Öffentlichkeit. Mit Erfolg: Nachdem das Ausmaß der möglichen Pläne bei der Fusion in seiner ganzen Absurdität bekannt geworden war (Wasserwerfer, Bundeswehr, 1000 Polizist*innen), waren die Reaktionen so heftig, dass die Polizei schließlich zurückruderte. Der Nachgeschmack, der bei der ganzen Aktion bleibt, ist dennoch bitter. Wie Groove-Autorin Cristina Plett in ihrer Kolumne erörterte: „Ein Verdacht drängt sich auf: Sollte das nur eine Machtdemonstration sein?“

Auch in Frankreich könnte der Staat bald mit erstaunlicher Härte gegen Veranstalter*innen vorgehen: Am 22. Oktober wurde das neue Gesetz zur „Verstärkung der Kontrollen von Rave-Partys“ vom Senat verabschiedet. Festliche Zusammenkünfte mit Musik von bis zu 500 Personen müssen dann mindestens einen Monat im Voraus bei den Behörden angemeldet werden. Wer dagegen verstößt, hat mit bis zu 400 Sozialstunden zu rechnen, Geldstrafen bis 3750 Euro können verhängt werden, sowie das Soundsystem und Equipment beschlagnahmt werden. Damit das Gesetz in Kraft tritt, muss nach dem französischen Senat noch die Nationalversammlung zustimmen. Hier ist derzeit noch kein Termin angesetzt.

2. „The most beautiful dick“: Vakula 

Peggy Gou reagiert in einem Facebook Video auf Vakula (Screenshot)  

Wohl eher komplett ins Aus als zu den Sternen hat sich 2019 der ukrainische DJ Vakula geschossen. Das Cover zu seiner EP „Per Aspera Ad Astra“ unter dem Alias Rocco Siffredi zeigte die DJs Peggy Gou, Nastia, Nina Kraviz und The Black Madonna als Kapitäninnen im Schaltraum eines Raumschiffs – das wie ein Penis geformt war. Lächerlicher als dieses sexistische Motiv war in der Folge eigentlich nur Vakulas zugehöriger Instagrampost: „I dedicated this project to my beloved women, where we tried to portray the most beautiful dick that those girls on the cover could ever meet.“ Nachdem die Künstlerinnen ihren Unmut über das Bild und Vakulas Äußerungen zum Ausdruck gebracht hatten, ruderte dieser zurück und hat das Cover mittlerweile geändert – nicht aber, ohne sich den Kommentar „I love my ladies, my queens. All I see now is sexism in the opposite direction“ verkneifen zu können. Sigmund Freud hätte daran sicher seine helle Freude, vermutete Nastia in ihrem Konterpost. Und mehr fällt uns zu diese peinlichen Aktion auch nicht ein. 

3. KFC-Testimonial als Hühnchen-DJ 

Ein Clip vom diesjährigen Ultra Music Festival in Miami sorgte für Furore. Zu sehen war ein Mann mit Colonel-Sanders-Maske, der für die Fast-Food-Kette Kentucky Fried Chicken für fünf Minuten ein Stück Musik auflegte, dessen Drop durch ein Hühnergackern angekündigt und von der Zeile „finger lickin’ good“ abgerundet wurde. Schlimm fanden das offenkundig nicht nur das zur Salzsäule erstarrte Publikum des Festivals, welches vermutlich lieber den nachfolgenden Auftritt sehen wollte, sondern ebenso alle auf allen sozialen Kanälen und sogar internationale Publikationen wie Pitchfork und Mixmag, die dem anderthalb Minuten langen Video eigens Artikel widmeten. Groove-Autor Kristoffer Cornils beleuchtete den Clip auch in seiner konkrit-Kolumne zum Thema „Peggy Gou, KFC und RBMA – Drei Aufreger, ein Problem“.

4. Berghain: Bändchen statt Stempel 

Das Berghain-Bändchen (Foto: Alexis Waltz)

Mit der Einführung der neuen Einlassbändchen verabschiedete sich das Berliner Berghain von seinen traditionellen Stempeln und damit auf gewisse Art auch von einem Stück kunstvoller Clubgeschichte. Die Entscheidung dafür war aller Wahrscheinlichkeit nach nicht rein ästhetischer Natur: Ab dem 1. Januar 2020 tritt die Kassensicherungsverordnung in Kraft und damit die Belegpflicht, was bedeutet, dass bei jedem Kaufvorgang ein Kassenbon an den*die Käufer*in auszuhändigen ist.

Den größeren Aufreger verursachte das Berghain allerdings mit einer Neuerung in der Einlasspolitik: Seit Anfang September müssen Gäste bei Wiedereinlass fünf Euro zahlen. Damit reiht sich der Club in eine Einlasspolitik ein, die einige andere Berliner Clubs bei Weekender-Veranstaltungen bereits seit längerer Zeit praktizieren. Auf Facebook regte sich daraufhin jedoch Protest: Einige Berghain-Fans forderten Stammgäste an einem Wochenende zu einem kollektiven Berghain-Boykott auf – vermutlich nicht ganz ohne Ironie.

5. Das Aus des Nachtdigital 

Leo & Michel nach ihrem Closing-Set auf dem Nachtdigital 2019 (Foto: Christian Rothe)

Aus die Maus, Schicht im Schacht: Nach 22 Jahren fand im August 2019 das letzte Nachtdigital statt. Wohl kaum ein Festival im deutschsprachigen Raum hatte eine so treue Gefolgschaft. Entsprechend emotional war das Finale am Sonntag nachmittag, bei dem Woody, Robag Wruhme und die Festivalmitgründer Leo & Michel Classics von Stardust oder Depeche Mode zum besten gaben. So einzigartig war das Nachti unter anderem, weil keine professionelle Firma hinter dem Festival stand, sondern ein informelles Feierkollektiv, das sich in den späten Neunzigern in einem benachbarten Dorf gefunden hatte. Das erste Nachdigital fand auf dem Bauernhof der Familie von jemandem aus der Gruppe statt. Ein paar Jahre später tummelten sich internationale Größen wie Koze oder Ricardo Villalobos hinter den Decks. „Wie bei jeder Party zählen das Publikum und das Team dahinter”, schrieb Cristina Plett in unserem Nachbericht: „Herzliche Menschen, die einfach nur Lust auf gute Laune und Feiern haben. Besonders beim Klub Animadiso jeden Samstag wurde das ersichtlich; in diesem Jahr gab es zu Weißwurst und Oktoberfest-Hits ein musikalisches Frühschoppen, später einen Technoparade durchs Dorf. Wo auf anderen Festivals vielleicht schief geguckt werden würde, stürzten sich hier alle mit in die Polonäse. Sogar die Anwohner*innen aus Olganitz freuten sich mit. Es ist eine Unprätentiösität, die in allen Aspekten des Festivals ersichtlich wurde. Ein Schullandheim an einem kleinen, algigen See konnte sich da schonmal anfühlen wie die sächsische Riviera. Kein Wunder, dass beim letzten Set der Nachtdigital-Gründer MON am Sonntagabend einige Tränen flossen.”

6. Her Damit!-Insolvenz

Foto: Konrad Lembcke (Ausschnitt)

Im Februar berichteten wir, dass das Her Damit! und das 7001 Festival Insolvenz angemeldet hatten. Genauer gesagt: die Firma, die beide Festivals veranstaltet hatte. Der Aufruhr war groß. Der Beitrag wurde tausende Male angeklickt, unzählig oft geteilt und eifrig kommentiert. In Kommentaren und direkten Nachrichten an uns berichteten weitere Mitarbeiter*innen von ausstehenden Gehaltszahlungen – die zum Teil schon mehrere Jahre zurückliegen. Wir sind den Vorwürfen nachgegangen. Ein Eindruck verdichtete sich: Die Macherin des Her Damit! hat seit 2014 Festivals betrieben und Mitarbeiter*innen und Dienstleister nicht oder nur zum Teil bezahlt; das hieß es immer wieder. Groove-Autorin Cristina Plett hat versucht, die Geschichte des Her Damit-Festivals zu rekonstruieren und dafür mit 14 unabhängigen Quellen gesprochen.

7. Nina Kraviz: Cornrow-Gate

Nina Kraviz’ Inta-Post (Screenshot) 

Nina Kraviz handelte sich mit ihrem Cornrows-Foto einen ziemlichen Shitstorm ein und stieß eine Debatte um das Thema „cultural appropriation“ oder auf deutsch „kulturellen Aneignung“ an. Im Verlauf dieser Debatte geriet die DJ auch für die Verwendung des Wortes „Ghetto“ in ihrem Clubhit „Ghetto Kraviz“ in die Kritik. Warum es keinen umgekehrten Rassismus gibt – und warum es trotzdem falsch ist, der DJ direkt Rassismus vorzuwerfen, kommentierte Groove-Redakteurin Laura Aha.

8. RIP: Clubsterben

Collage: Amazon Tower (Presse), Farbfernseher

Auch 2019 musste sich die Szene wieder von einigen liebgewonnenen Orten verabschieden: In Berlin ist seit Ende Januar das Chalet geschlossen. Ende April wurde der Berliner Arena Club in eine Eventlocation umgewandelt, das St. Georg im Gebäude des Ritter Butzke musste dem Bau von Büro-Lofts weichen. Im Mai schloss der Farbfernseher in Kreuzberg nach 10 Jahren. Im Juni wurde der neue Bebauungsplan für das RAW-Gelände in Friedrichshain beschlossen, der zwar die Bars und kulturellen Einrichtungen des sogenannten „soziokulturellen Ls“ erhalten soll, durch die Genehmigung der Bebauung der restlichen 52.000 Quadratmeter aber Clubs wie den Suicide Circus, das Urban Spree und die Konzerthalle Astra möglicherweise bedroht. 

Ende des Jahres muss zudem der Berliner Kulturort Rummels Bucht das Gelände in der Rummelburger Bucht infolge des im April beschlossenen Bebauungsplan für das Ostkreuz/Rummelburger See verlassen. Auf dem Gelände sollen teure Wohnungen, Gewerbeflächen und ein Aquarium entstehen. Die Zukunft des KitKatClubs, sowie des zugehörigen Sage Clubs scheint ungewiss ist. In München musste das Mixed Munich Arts (MMA) schließen, in Dresden der TBA Club, die Distillery in Leipzig muss künftig ihren Standort verlassen, der Ludwigshafener Loft Club gab seine Schließung für Juli 2020 bekannt. In Frankreich schloss die Institution Concrete, das von den Betreiber*innen initiierte Dehors Brut musste infolge eines Todesfalls kurz nach der Eröffnung bereits wieder schließen. 

9. DJs werden Influencer*innen – und fahren Auto

Ellen Allien im VW T-Roc R Spot (Screenshot)

Was in anderen Genres längst gang und gäbe ist, erreicht nach und nach auch die Techno-Szene: DJs werden Influencer*innen und offensichtliches Marketing und Brand-Partnerships werden selbstverständlich auf den eigenen Kanälen platziert – logisch, bei der immer prekärer werdenden Musikindustrie müssen andere Geldquellen zwangsläufig her. Auffällig scheint trotzdem die Entwicklung, dass nun auch Produkte beworben werden, die eigentlich mit der Szene so gar nichts zu tun haben – wie zum Beispiel Autos: Peggy Gou kollaborierte mit Porsche, Ellen Allien mit VW. Nachtleben und DJ-Lifestyle werden als subversives Lebensgefühl vermarktet, die Musik als Emotionsträger unterlegt. 

10. Bye Bye RBMA

Flying Lotus 2013 auf der RBMA (Foto: Tom Butler/ Red Bull Content Pool)  

Mit dem Ende der Red Bull Music Academy und Red Bull Radio Ende Oktober ging auf gewisse Art auch eine Ära zu Ende: Nach 21 Jahren wurde der Betrieb in seiner bisherigen Form eingestellt. Music Academy und Radio wurden von Red Bull betrieben, für die kreative und kuratorische Arbeit war die Beratungsfirma Yadastar zuständig. Yadastar gab auf seinem Twitterkanal bekannt, dass die Zusammenarbeit mit Red Bull einvernehmlich aufgekündigt wurde. Unabhängig von der RBMA und dem Red Bull Radio betreibt Red Bull weiterhin das Programm Red Bull Music. Im Zuge der Schließung wurde das Archiv Ende Oktober mit über 500 Künstler*innen-Interviews frei zugänglich zur Verfügung gestellt.

Vorheriger ArtikelElectronic Beats Podcast: DJ & Multitalent Cinthie im Interview
Nächster Artikel[REWIND2019]: Sind sexpositive Partys im Mainstream angekommen?