burger
burger
burger

[REWIND 2024]: Die Szene ist der Sargnagel im Berliner Clubsterben

- Advertisement -
- Advertisement -

Dieser Text ist Teil unseres Jahresrückblicks. Alle Texte findet ihr hier.

Berliner Clubs sperren zu, man nennt es Clubsterben. Watergate, Renate, Loophole und so weiter. Die Liste von Technoclubs, die zuletzt ihr Ende angekündigt oder bereits hinter sich haben, ist länger als die Berghainschlange. Dadurch verliere die Bundeshauptstadt ihre Seele, keucht es aus den Kulturspalten. Und manche fragen sich: Ist die Party bald vorbei?

Die Schuldigen am Sterbebett sind längst gefunden: Pandemie, Inflation, steigende Mieten. Schließlich stimmt es, die Stadt ist teurer als früher. Und: Die Jungen, die angeblich anders feiern, feiern wirklich anders. Außerdem nehmen Baurecht wie Klimawandel die Clubs in den Schwitzkasten.

Das könnte man so stehenlassen. Dagegen protestieren. Auf die letzten Barrikaden gehen. Wäre da nicht die sogenannte Szene, die sich zuletzt in Widersprüche verstrickt hat.

Hier treffen sich Menschen, die von sich behaupten, progressiv und links und weltoffen zu sein. Ein paar glitzern sich eine Regenbogenfahne auf die Wange. Und gemeinsam reicht man sich im gegenseitigen Einverständnis die Hand.

Um sie gleich wieder abzuhacken.

Die Zersetzung von innen

Denn mittlerweile ist es nicht mehr damit getan, sich freitagabends zwölf Teile reinzuballern, um sorglos durchs Wochenende zu grinsen. Man muss jetzt zur Peaktime politisch mitreden. Davon hat man zwar keine Ahnung. Aber easy, die eigene Moralvorstellung ist der Maßstab.

Man hat da nämlich was gesehen – auf TikTok, bei Insta. Ist ja egal, weil: Andere Sichtweisen, vielleicht sogar mal so etwas wie Ambiguitätstoleranz, das hat da sowieso keinen Platz.

Also löst man jetzt die großen Konflikte der Menschheit zwischen zwei Nasen. Ist doch alles kristallklar: Bist du nicht für mich, bist du gegen mich. Und weil niemand mehr eine politische Meinung hat, sondern eine politische Meinung ist, wird jede Abweichung zum Angriff auf die eigene Person.

Alles zersetzt sich (Bild: DALL-E)

Zwischen Unwissen, Unvermögen und lange verschwiegenem Antisemitismus schrumpft damit der Raum fürs Feiern. Viele flüchten vor dieser Dynamik. Andere nutzen den Club aber weiterhin. Als Ort des selbstbezogenen Standpunkts, denn: Der Dancefloor, der ist jetzt bitteschön politisch!

Jetzt lösen wir den großen Konflikt

Erfahrene Kulturlobbyist:innen und Bullshitbingo-erprobte Clubkultur-Anträge lieben diesen Trick. Alles schön überpolitisieren! Das bringt ein Problem mit sich: den Zwang zur Positionierung in Konflikten, an deren Lösung die gesamte Weltgeschichte seit Jahrzehnten scheitert.

So heißt man sich dann willkommen in der sogenannten Clubkultur. Der Ort, an dem man Clubs boykottiert, Künstler:innen unter Druck setzt, ein „Klima der Angst” schafft – weil man meint, auf der richtigen Seite zu stehen.

Weil man meint, auf einer Seite stehen zu müssen.

Ein letzter Ausweg?

Die sogenannte Szene zersetzt sich durch den Druck, sich ständig zu positionieren. Und auch wenn Corona, Inflation und Gentrifizierung echte Probleme sind, die dafür sorgen, dass es immer weniger Clubs gibt. Man müsste sich als sogenannte Szene schon mal die Frage gönnen: Ist es wirklich so super, immer nur „staatliche Förderungen” und „Freiräume” zu fordern? Oder wägt man auch mal ab, was man eigentlich damit anstellt?

Die Clubkultur war einmal dafür da, Unterschiede zu feiern, nicht zu bekämpfen. Davon sind wir heute weit entfernt. Doch zwischen den wirtschaftlichen Zwängen und dem inneren Zerfall steht sie heute vor der Herausforderung, sich selbst neu zu erfinden – oder im ständigen Bedürfnis nach Virtue signaling zu ersticken.

Vielleicht braucht es dafür keine neuen Räume, sondern eine neue Haltung. Eine, die wieder Platz für echte Vielfalt schafft. Und eine, in der man sich vor den Spiegel stellt, sich ansieht und dann ehrlich fragt: Geht es hier noch ums Feiern – oder nur noch darum, recht zu haben?

Zukunft der Clubkultur?

Die Berliner Clubkultur, die als unverzichtbarer Teil der Stadt gilt, sogar Kulturerbe ist. Sie könnte tatsächlich ihre Seele verlieren. Wenn sie weiterhin nur über ihre äußeren Probleme schimpft. Und auf ihre eigenen, inneren vergisst.

Wie also tun? Vielleicht liegt die Antwort in einer Rückbesinnung auf die Ursprünge der Clubszene: Gemeinschaft statt Spaltung, Eskapismus statt Dogmatismus, Ambiguität statt Absolutheit. Clubs könnten Orte sein, an denen man zusammenkommt. Nicht um sich moralisch abzuheben, sondern um Unterschiede zu erleben – und vielleicht sogar zu feiern.

Das bedeutet auch, Verantwortung zu übernehmen – für die eigene Szene, die eigenen Werte und die eigene Kultur. Gleichzeitig bedeutet es, loszulassen: von der Angst, Fehler zu machen, und von der Illusion, jede politische Frage auf der Tanzfläche auszuhandeln.

Berlin könnte dann wieder das werden, was es einmal war: eine Stadt, die sich durch Vielfalt auszeichnet und durch Mut. Für mehr Meinungen. Und weniger Moral.

In diesem Text

Weiterlesen

Features

[REWIND2024]: Ist das Ritual der Clubnacht noch zeitgemäß?

Hohe Preise, leere Taschen, mediokre Musik, politische Zerwürfnisse – wo steht die Clubkultur am Ende eines ernüchternden Jahres? Die GROOVE-Redaktion lässt das Jahr 2024 Revue passieren.

[REWIND 2024]: Gibt es keine Solidarität in der Clubkultur?

Aslice ist tot. Clubs sperren zu. Und die Techno-Szene postet Herz-Emojis. Dabei bräuchte Clubkultur mehr als solidarische Selbstdarstellung.

Cardopusher: „Humor steckt in allem, was ich tue”

Luis Garbàn fusioniert lateinamerikanische Rhythmen mit futuristischen Klängen. Wie er dazu kam, erfahrt ihr in unserem Porträt.