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Tapestry: 10 Kassetten, die alles besser machen

Wir kommen im Sommer an. Merkt man an den Leuten, die zuerst genervt dreinschauen und sich dann doch aufraffen, rüberkommen und sagen: „Wär’s möglich, dass ihr die Bluetoothbox ein bisschen leiser dreht?” Na ja, sorry: Sind ja Kassetten – ja, genau, nein, wusste ich auch nicht, aber dann hab’ ich diesen tollen Artikel in der Zeitung gelesen und seitdem spiel’ ich nur noch diese retroschicken Dinger ab. Was es da auch alles zu entdecken gibt: Techno, House und so weiter. Fast wie früher. Nur besser. Und zusammengetragen in Tapestry, der Kassettenkolumne bei der GROOVE.

Ben Chatwin – Verdigris (Disinter)

Letzthin bei Dune im Kino gesessen und Hans Zimmer geliebt – so ein guter Soundtrack, da kommt man sich ja wirklich vor wie in dieser wüstengroßen Verlorenheitstristesse von Timtom Schalalom. Jedenfalls, sitze da mit Nachosbröseln im Schritt, denke: Was wäre der Streifen nur ohne die Musik. Nix, das wär der. Und weil gute Musik immer in zwei Richtungen funktioniert, folgt gleich der nächste Gedankenblitzeinschlag: Was wäre, wenn man nur die Musik hört, ohne Bild und alles. Jahaa, da wird es dann kompliziert. Außer man heißt Ben Chatwin und steckt bunte Kabel in zimmergroße Blinkekästen. Plötzlich kommt bei ihm was raus, was dem Mensch der leisen Töne wenig behagt – zu viel Leidenschaft, zu viel Ergriffenheit, zu viel alles. Aber wie sagt man, im Pathos steckt auch viel Wahrheit. Und so ist das wohl beinahe ein neues Album von Bruder im Geiste Luke Abbott geworden. Man kann es hören und gerührt sein wie Menschen, die während der Passionsgeschichte auf Kirchenfenster starren, Gänsehaut bei Netflixintros bekommen. Oder high im Kino das Familienmenü wegcraven.

Sipaningkah – Langkah Suruik (Chinabot)

Endlich mal wieder: Instrumentalmusik aus der richtigen Mitte der World. Bei der greift sich der geneigte Klangmensch nach einer halben Stunde schon mal kritisch an die Schläfen, weil, jetzt kommt’s: Da kippt man richtig rein, das ist wie Trance ohne Drogen, bestimmt nicht für jeden, aber wenn man sich erstmal drauf einlässt, ja, ja. Zum Glück gibt es Chinabot, das beste Kassettenlabel für Musik aus Asien außerhalb von Asien. Die verschieben den verwöhnten Blick auf die Weltkarte, plötzlich sucht der Weißbroteuropäer nach Ländern und Städten und Orten, die kamen damals im Diercke Weltatlas erst ab Seite 250 vor. Jedenfalls google ich jetzt Sumatra, überschlage die Möglichkeiten meines Girokontos und kauf mir dann doch nur die Kassette: von Sipaningkah, einem sumatresischen oder sumatranischen Instrumentenbauer und Elektroakustiker, der – man darf es ob der Kombination schon erahnen – eher unzugängliche Musik fabriziert. Die aber genau deswegen ja wieder zugänglich ist für alle, die sich gern mal zur Mitte der World die Schläfe massieren lassen.

Welia – Object Permanence (sama)

Es gehört wieder mehr experimentiert, das ist ja der Wesenszug der großen Kunst, war er zumindest mal. Und dafür muss man Teller zerdeppern, die Möbel aus dem Fenster werfen, am besten alles niederbrennen. Weil verbrannte Erde – da war doch was – macht fruchtbare Erde. Und die braucht man, wenn man antritt mit dem Anspruch, auch mal was Eigenes zu machen, oder, oh weh, eine eigene Stimme zu finden. Jedenfalls ist das mit dem Kaputtmachen auch eine gefährliche Sache: Scherben, Rücken, verbrannte Finger, überall Gefahrenpotenzial! Welia aus Wien hat prophylaktisch den Sicherheitskatalog studiert, zieht sich den Sicherheitshelm über und greift in die Sicherheitsschublade. Um sie auszuleeren, weil: Safety, second! Also kommt da einiges zusammen für ihr Tape bei sama recordings, so ein bisschen wie bei Actress und dem letzten Engel der Geschichte. Übrigens, den gab es ja bei einem gewissen Walter Benjamin auch schon. Und der wusste ja, wohin der Wind weht, wenn der Trümmerhaufen in den Himmel wächst: in die Zukunft!

salute – True Magic (Ninja Tune)

Der Herr Kollege Cornils hat ja schon von einem „Fred Again System” geschrieben, da wollte ich in der coronösen Nachspielzeit ja wirklich nix davon hören. Aber wie das so ist mit den großen Denkern, sie sind ihrer Zeit voraus. Und so geht es mir also im Wissen dessen mit diesem Album von salute: Es kommt zwei Jahre zu spät. Damals wäre dieses geschüttelte Euphoriegeschorle nämlich locker durchgegangen als Playlist für den Sommer, ich hätte maßlos übertrieben und auf Flohmärkten CDs von Daft Punk gekauft. Heute muss ich sagen, es ist mir ein bisserl zu blöd. Auch weil das mit der Musik generell ganz anders läuft als an der Börse, es geht ja nicht um die Time im Market, sondern das Timing für den Market. Das relativiert sich nur, weil salute vor dem Auszug in die weite Welt mal in Österreich gelebt hat. Dahingehend ist das Album bei Ninja Tune eigentlich schon wieder ein prophetisches Glaskugelwerk, das vor seiner Zeit existiert, weil: In Wien passiert alles immer erst zehn Jahre später.

Low End Activist – Airdrop (Peak Oil)

Wenn der Name erstmal neben Demdike Stare und Christoph de Babalon und Moritz von Oswald auf dem Flyer steht, muss man nicht mehr viel erklären. Dann hat man es geschafft. Und die richtigen Leute wissen, aha, wer auch immer dieser Low End Activist ist, er wird wohl eher keine Blasmusikkapelle dirigieren. Er wird eher ziemlich viele Subwoofer brauchen, um das Aktivistendasein vom Schreibtisch auf die Straße zu lenken. Also bestellt man – die Vernunft verbietet es zwar, aber das Verlangen ist zu groß – dreimal so viele Bassboxen. Der Low End Activist genießt nämlich Vorschussvertrauen, er schallert einem ohnehin nicht nur bum, bum, bum in den Solarplexus. Airdrop ist verkunstete Knappheit, also: Da war mal ein Rave, jetzt ist da der Geist, und wenn wir alle lange genug dran glauben, kommt er vielleicht wieder als Erinnerung, bei der man der jungen Generation dann voller Stolz erzählen kann, wie das damals war, 1992, in einem Warehouse irgendwo zwischen London und New York, echt unvergesslich nämlich!

Miss Jay – [untitled] (International Chrome)

Manche schieben ja den ärgsten Film, wenn es um diesen Sound geht. Da träumen gestandene Familienväter in Wochenzeitungsrezensionen von Bitches und Booties, alles aus diesem sogenannten Ghetto, das sie mal in einer tollen Noisey-Doku gesehen haben. Aber gut, man lässt denen das durchgehen, sind ja Experten. Als solcher genießt man in einer aufgeklärten Medienwelt grundsätzlich das Recht, sonntags im Ersten anzutreten. Und Gehirne aufzuschneiden, den Nahen Osten zu erklären und kreative Wortkreationen wie Booty Bass zu erfinden. Na ja, da schieb ich mir lieber ganz wertneutral diese Kassette von Miss Jay ins Tapedeck. Die hat gerade auf International Chrome veröffentlicht, der Raumsonde von Jensen Interceptor. Das ist nur erwähnenswert, weil man da mehr liefern muss als ein paar Beats mit Ballast. Zum Beispiel Footwork in der Großraumdiskothek. Lasershows im Kinderzimmer. Oder Coverartworkscherenschnitte von Trancecompilations aus den letzten Tagen der Menschheit.

V.A. – Pulse 2 (Pulse Records)

Ich tu gar nicht erst so: Von der Technoszene in Lausanne weiß ich circa so viel wie Thomas Tuchel von einer funktionierenden Viererkette. Es gibt sie natürlich, so wie es Techno und Viererketten überall gibt – das Ganze ist ja ein globales Phänomen. Aber wo genau es in dieser Stadt in der Schweiz regelmäßig bumpert, das kann und will ich euch nicht sagen. Hätte ich bis vor Kurzem gesagt. Und bin dann auf dieses Label gestoßen: Pulse Records wird, so liest man, in Lausanne gemacht, wahrscheinlich angetrieben von Schweizer Schokolade und jedenfalls von einem progressiven Ausfallschritt begleitet. Den braucht man auch, um halbwegs mitzuhalten mit dem Tempo dieser Technoszene. Die ist zwar mehrheitlich männlich, aber eben auch: ziemlich zeitgeistig. Insofern, als man die letzten zwei, drei Jahrzehnte übersprungen hat und einfach da weitermacht, wo andere 1999 bereits aufgehört haben – in der sogenannten Gegenwart.

FIN – Cleats (Hausu Mountain)

Heutzutage muss man als Künstler:in ja alles können. Vorstadtgartenzäune in Galerien aufstellen, rote Acrylquadrate auf Leinwände pinseln, Musik machen, die so klingt, als spiele man jeden Pet-Shop-Boys-Song zur gleichen Zeit ab. Fin Simonetti lehnt sich zurück, die Kanadierin hat das ja alles schon getan. Und mit Hausu Moutain bereits in einem früheren Leben ein Label gefunden, wo genau das möglich ist: Musik zu machen, über die man ohne Gewissensbissspuren „Pop” schreiben kann, sofern man davor „Experimentell” schreibt und beides mit Bindestrich verheiratet. Der Pop von FIN hat mit dem von, sagen wir, Taylor Swift nämlich nur die Verhaltensweise ihrer Fans gemein: Beide sind verrückt. In unterschiedlichen Konnotationen zwar, aber doch: verrückt! Das ist gut, weil wir ja alle ein bisschen verrückt sind. Hört man FIN, muss man sich allerdings nicht dafür schämen, deshalb und demnächst: auf den Branchenfestivals deiner Wahl zu erleben!

Zanshin – Ok Ocean (Affine)

Es gibt ja Menschen, die sagen: „Ne, also mit dem Meer, da kann ich echt gar nix anfangen, ich fahr ja lieber an den See!” Gut, bleibt ihr mal bei eurem Trinkwassertümpel. Dann gibt es nämlich mehr Platz für uns, um diese endlosen Weiten zu überblicken und dann genüsslich einen rauszulassen: Da fühlt man sich schließlich ganz klein – so als Mensch. Klar, die großen Gefühle zeigen sich bei allen unterschiedlich. Die eine starrt aufs Meer, der andere muss das kommentieren. Und wieder jemand anders macht ein Album drüber. Ist alles Ok Ocean. Und damit von oben abgesegnet. Zanshin wechselt nämlich vom schwarzen Gürtel zur schwarzen Flagge, das heißt: Piratenschiff, sieben Weltmeere, Land in Sicht. Nach tagelangem Treiben endlich Feelings wie Columbus und ein Album, für das sich Bing & Ruth ins Wellenbecken schmeißen. 

Dj Absolutely Shit – Inabiteveryoneelse (Red Laser Records)

Dj Absolutely Shit, zwei Männer, die schauen schon aus, als könnte man mit ihnen eine gute Zeit haben, in einem dieser schönen Wohnzimmerpubs, die es in England ja überall gibt. Dort würden sie einem dann bei einem Drink oder so erzählen, wie das gewesen war mit diesen Chill-out-Räumen, die es damals bei jeder Party gab. Und dass man das schon ziemlich vermisst, diese Zeit vor allem – ohne Internet und die ganze Kacke, nur Mund-zu-Mund-Messages auf Anrufbeantwortern, die ein paar Koordinaten ausgespuckt haben von geheimen Locations, wo dann nur die hinfanden, die auch wirklich hinfinden wollten, und so weiter. Wie das also mit den Chill-out-Räumen zusammenhängt, äh ja, natürlich auch, weil, wie gesagt: Es gab sie ja überall, diese Räume. Da hat man aber nicht nur Wartezimmermukke gespielt, da waren richtig gute DJs, die haben sich was getraut und Beats aufgelegt. Heute sagen manche Manctalo dazu. Weil das so nach Disco klingt und vielleicht auch nach Little Italy. Es war jedenfalls ein anderer Vibe. Deshalb nimmt man den jetzt, man kann sich ja so gut dran erinnern. Und steckt den in ein ganzes Album, 17 Tracks, eine einzigartige Reise.

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