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Oktober 2023: Die essenziellen Alben (Teil 1)

Acid Drones – Acid Drones (Offen Music) 

Der Name wirkt zunächst mal paradox. Acid und Drone waren lange Zeit schließlich Bezeichnungen für musikalische Aktivitäten mit geringer Berührung, sprudelnde Clubmusik hier, körpermassagetaugliche Brummorgien zu Liegetonfrequenzen da. Der Produzent Thomas Lea Clarke hat sich mit seinem Projekt Acid Drones jetzt an genau diese Verbindung gemacht. Dass die resultierende Mischung alles andere als unpassend klingt, liegt daran, dass Clarke mit seinen acht durchnummerierten Tracks, die, von der Zählform abgesehen, exakt wie sein Projekt und dessen Debütalbum betitelt sind, an eine Tradition anknüpft, die es seit den Neunzigern gibt. Der frühe Plastikman kommt einem in den Sinn, ebenso Richard D. James‘ diverse Aktivitäten in Sachen gemäßigter Acid, aus neuerer Zeit drängt sich zuallererst der 303-Poet Tin Man auf. Man könnte jetzt meckern, dass Acid Drones eine Mogelpackung sei, die weitgehend Bekanntes in neuem Schlauch feilbiete. Was auch stimmt. Clarke produziert jedoch mit so sicherer Hand, dass man schon ein säurebeständiges Herz haben muss, um innerlich nicht zumindest ein klein wenig zu lächeln. Tim Caspar Boehme

Azu Tiwaline – Fifth Dream (I.O.T Records)

Azu Tiwalines Diskographie umfasst jeweils zwei EPs auf Bristols Livity Sound und I.O.T Records aus Marseille, alle entstanden seit 2020. Auf letzterem erscheint nun auch schon ihr zweites Album nach Draw Me A Silence. Die Stücke auf diesem Debüt lebten vor allem von der sehr gelungenen Verbindung von britischer Bass Music und Einflüssen aus der traditionellen Musik ihrer Heimat Tunesien. Diese Fusion geschah auch damals schon nicht auf platte, offensichtliche Weise, aber auf Fifth Dream entfernt sich Tiwaline noch um etliche Schritte von klar erkenn- und benennbaren Genre-Spezifika. Die Stücke sind weniger von Beats getragen, was aber nicht bedeutet, dass weniger Perkussion zum Einsatz käme, die Drums werden meist nur anders als üblich eingesetzt. Abstraktion und Reduktion sind die Schlüsselbegriffe, um sich dieses Album vorstellen zu können, was definitiv nicht leicht fällt, da Tiwaline auch diese nicht wirklich neuen Techniken sehr persönlich und speziell umsetzt. Etliche Passagen wie beispielsweise in „Reptilian Waves” könnten genauso gut aus zeitgenössischer E-Musik oder wie in „Canopee Imaginaire” aus improvisiertem Jazz stammen. Andere wie „Blowing Flow” oder „Mei Long” wollen nach wie vor eindeutig (anspruchsvollere) Dancefloors beschallen, aber eben jenseits der durchdeklinierten Genre-Abende, die das Programm der meisten Clubs dominieren. Azu Tiwaline kennt auf ihrem zweiten Longplayer kaum noch Grenzen, und das ist in der Kunst fast genauso wichtig wie in der internationalen Politik. Mathias Schaffhäuser

Bella Boo – DreamySpaceyBlue (Studio Barnhus)

Wie das Debütalbum Once Upon A Passion erscheint auch der zweite Longplayer der schwedischen Produzentin Gabriella Borbély alias Bella Boo auf Studio Barnhus. Mit dem Titel DreamySpaceyBlue ist bereits viel gesagt: Verträumt, landschaftlich, melancholisch grundiert sind alle der zehn neuen Tracks, die wieder die unverkennbare Handschrift ihrer Urheberin tragen. Denn die Art und Weise, mit der Bella Boo dem Genre Deephouse mittels Pop-Vocals, Neo-Trance, Breakbeat, Ambient-Soundästhetik und zuweilen einem Hauch Country-Folk neues Leben einhaucht, darf getrost als Alleinstellungsmerkmal gelten. Andererseits drängt sich hier mehr als einmal der Vergleich mit den Produktionen von Matthew Herbert mit Dani Siciliano (aber auch mit Róisín Murphy), insbesondere zu Around The House (1998) auf. Mit dem maßgeblichen Unterschied, dass Borbély ihre eigene Produzentin ist und sich ihrerseits Gäste ins Studio eingeladen hat: Am Opener „Bound“ hat VAZ mitgewirkt, an der suggestiven Balearic-Midtempo-Nummer „Later” waren Bavé, Chords und Starving Yet Full beteiligt, in „Summertime“ geht Venus Anon als Cyber-Sade durch, „Orange“ und „4ever“ profitieren von Nils Jansons skandinavisch geprägten Trompetenklang. Instant-Micro-Hit: „Heartbeat/Into The Night“ – inklusive einem die Moral aufrichtenden „Keep on”-Gospelchorus! Harry Schmidt

Bored Lord – Name It! (T4T LUV NRG) 

Auf Name It! präsentiert Bored Lord, auch bekannt als DJ Daria, acht Dance-Tracks, die den Geist klassischer Techno/House/Rave-Tracks der späten Achtziger bis frühen Neunziger mit dem heutigen Tanzboden-Geist verweben. Dabei verwendet sie meist klassische Breakbeats, die sie mal mehr in die eine Richtung, mal mehr in die andere verschiebt. Wobei mit Richtungen Genres wie House, Techno, Jungle, UK Bass oder Florida Breaks/Electro gemeint sind. Die Stücke schlagen dabei einige Volten, wodurch sie den Tänzer niemals zu langweilen beginnen. Samples – denn Samples sind es, aus denen diese Musik, klassisch wie im Jetzt, mithilfe von Samplern und Romplern gefertigt wird – werden dabei Puzzle-artig zusammengesetzt. Oft kommt einem eine Stelle mehr als bekannt vor, nur woher, das ist meist schwer zu erahnen. So wirken die Tracks wie Déjà-Vus einer vergangenen Zeit, auf den modernen Dancefloor transformiert. Sie alle atmen diese tiefe, so traurige wie schöne Melancholie, die klassische Dance-Tracks seit jeher ausgezeichnet hat. Wodurch das Album natürlich mehr als perfekt auf Eris Drews und Octo Octas T4T LUV NRG-Label passt. Tim Lorenz 

Snippets findet ihr in den einschlägigen Online-Stores. 

Call Super – Eulo Cramps (Can You Feel The Sun)

Joseph Richmond-Seaton alias Call Super hat in seiner mittlerweile gut zwölf Jahre andauernden Karriere schon einige Stile als Basis für seine musikalischen Anliegen ausgewählt. Und egal, ob er, wie auf seinem Debüt, der Staircase EP von 2011, im weitesten Sinne House, oder drei Jahre später auf Depicta / Acephale II Techno als Grundlage benutzt, genregetreue Schema-F-Musik kommt dabei nie als Ergebnis heraus. Dass aus diesen clubbigen Wurzeln aber Alben wie Arpo (2017), Every Mouth Teeth Missing (2020) und jetzt Eulo Cramps resultieren würden, hätte wohl die am besten gefütterte KI nicht berechnen können. Alle drei erinnern stellenweise an die guten Aspekte von Progressive- oder Art-Rock, auf „Eulo Cramps” konkret an Bands wie Art Bears oder Henry Cow – weniger durch konkrete kompositorische Bezüge als durch Klangfarben, Experimentierfreude und nicht zuletzt die Instrumentierung mit der bei etlichen Stücken eingesetzten Klarinette – auch dieses Mal wieder von Seatons Vater David gespielt. Hinzu kommen bei einiges Songs die Stimmen von Julia Holter und Eden Samara, die sich hier ebenfalls beide eher Richtung „Moderne Klassik” als vertrauter Gefilde der elektronischen Clubmusik bewegen – letztere findet auf dem aktuellen Album noch weniger statt als auf seinen beiden noch weitaus „elektronischeren” Vorgängern. Stattdessen kreiert Call Super hier eine gelungene Fusion aus jazzigen Einflüssen, Polyrhythmik – oft getragen von Marimba-ähnlichen Sounds –, und einer kammermusikalischen, intimen Atmosphäre, wie man sie diesem Kontext nur selten hört. Mathias Schaffhäuser

Dario Zenker – Reflection (Ilian Tape)

Mit einer eleganten Jazz-Hi-Hat startet Dario Zenker „ASM 61 Gate”, den ersten Track seiner neuen Doppel-LP Reflections. Schnell formt der sich über sphärische Flächen und treibende Minimalbeats hin zum perfekten Einstieg in die Nacht. Wie ein guter Geschichtenerzähler entwickelt Zenker über zwölf Kompositionen seine technoide Handschrift weiter. Dabei ist durchaus nicht alles offensichtlich, Überraschungen sind inkludiert. „Ear 660 Cruise” treibt ein vertrackter Double-Bass an, der auf großen Soundsystemen seine Wirkung entfalten dürfte. Der Ilian-Tape-Mitbegründer beherrscht die Kunst, Überflüssiges wegzulassen und mit Bass, Drum und Sphären die Crowd zum Abheben zu bringen. Einen Future Sound of Jazz bietet „Quantized Rise” – der Rhythmus startet gebrochen, um sich immer weiter im Loop zur Einheit zu formen. Broken, und doch Unity! Zu den Favoriten gehören Tunes wie „Output Reflection” – stripped down auf wesentliche Ingredienzien – eine Trommel, Bass, eine leichte Prise Acid. Auch die längste Nacht endet, und so leuchtet „Fade Forum” gegen Ende des Albums wie die aufgehende, bald gleißende Sonne am Horizont. Der Downsizer „The 600 Prophets” schließt Reflections und lockt, einen weiteren Durchlauf zu starten. Liron Klangwart

David August – VĪS (99Chants) 

Beipackzettel sind ja ganz nett bei neu aufgelegten Platten, die vor 42 Jahren rauskamen, weil dann der betreffende veteran producer erzählen kann, wieso das damals nichts wurde mit dem großen Hit oder Durchbruch, aber dass er sich total freue, wenn die jungen Leute heute seine Platten hören und so weiter. Alles andere ist überbauliche Klugscheißerei, so nötig wie die Bild am Sonntag. Aber hey, kein falscher Stolz: Ist ja toll, wenn man während den letzten paar Jahren Zeit hatte, sich mit Quantenphysik und religiöser Mystik auseinanderzusetzen. Sowas kommt bei Kolleg:innen der Kunscht bestimmt gut an. Die verstehen dann wie im Fall von VĪS, dem aktuellen Album von David August auf 99Chants, auch sicher den Zusammenhang. Früher konnte man sich aus dem gleichen Grund den Kram von Kranky kaufen: Zusammenhänge verstehen, wo keine sind. Ist ja nie verkehrt. Vor allem, wenn man die ausufernden Erkenntnisse in einem weltumspannenden Zyklus auf zwei oder mehr Vinylscheiben ritzen lässt. Soll schließlich als Statement durchgehen – die Platte, die Zeilen, einfach alles. Und weil August den Pop vor ein paar Jahren aus seinem Notizbüchlein gestrichen hat, ist das jetzt so. Ein Beipackzettel mit Musik. Die Zusammenhänge kann man sich dann zusammenhängen. Christoph Benkeser

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