Der hyperproduktive Saxofonist Sam Gendel ist ebenfalls eine Integrationsfigur, die über den Rand der freien Improvisation hinaus nicht nur harsche Elektroakustik und Noise beherrscht, sondern sich nicht weniger gerne in Ambient und Schönklang bettet. Live in Texas (Unseen Worlds, 29. Juli) setzt dann eher auf Konfrontation, denn die Aufnahmen sind bei privaten Konzerten, an öffentlichen Orten, in spontanen Sessions entstanden, im Sound sehr roh und lo-fi, immer auf Kommunikation und Kontakt mit dem Publikum aus, das eventuell nur aus einer Handvoll Menschen, elektrischen und realen Zikaden, zufällig vorbeikommenden Passanten oder vorbeifahrenden Autos bestand.

In eher akademischen kompositorischen oder improvisatorischen Zusammenhängen ist das Akkordeon ebenfalls ein Außenseiter-Instrument, noch dazu im Solobetrieb. Der Kanadier Joseph Petric hat sich allerdings zum Lebenswerk gemacht, genau das zu ändern und das Schifferklavier als Ausdrucksform der alten Musik wie der modernen Komposition zu etablieren. Auf Seen (Redshift Records, 12. August) mit Stücken zeitgenössischer Komponisten aus Elektroakustik und Elektronik. Also eine hochinteressante doppelte Verschiebung von elektronisch zu akustisch, neu zu alt zu neu.

In Montreal gedeihen nicht nur Elektroakustik und neuer Jazz prächtig, auch der gute alte Postrock erlebt hier noch einen goldenen Frühherbst. Wenn dann noch wie bei Esmerine, der wechselnd besetzten Kombo von Rebecca Foon und Bruce Cawdrone, Instrumentalist:innen, die mit beiden Welten vertraut sind, zusammenkommen, kann ein Album wie Everything Was Forever Until It Was No More (Constellation Records, 26. August) entstehen, das im melancholisch gewendeten Pathos direkt vertraut und heimelig wirkt, aber doch genug überraschende Wendungen und Zerrungen enthält, um über den Wiedererkennungseffekt hinaus zu überzeugen.

Jason Köhnens kleines Bandprojekt MANSUR mit Dimitry El-Demerdashi an der Oud und Vokalistin Martina Horváth arbeitet indes weiter an einer imaginären Folklore in elektronischer Archaik. Sie schreiben eine vorgestellte Tradition fort, die sich aus den Erfahrungen der Mitglieder zusammensetzt, von Doom- und Symphonic Metal zu schamanistisch-rituellen tibetanischen Klängen – ebenfalls imaginär – zu Meta-Jazz-Lounge-Noir-Elektronik aus Kreta, 250 vor Christus. Aber eben nicht als postmodern-zitative Sample-Beliebigkeit, sondern als Einfühlung in etwas, das es vielleicht nicht, aber vielleicht doch gegeben haben könnte. Wird jedenfalls mit jedem Release spannender.

Unerwartet spannend und inspiriert hören sich auch die Fantasiereisen des Detroiters Rod „Deepchord” Modell und des Londoner Produzenten Ario Farahani an. Als Mystic AM beschwören sie auf ihrem Debüt Cardamom & Laudanum (Astral Industries, 17. Juli) einen imaginären, zutiefst psychedelischen Orient herauf, der gleichzeitig mythisch und archaisch klingt, aber doch unvermindert modern und jetzt. Also eine Art von Rückverzauberung, wie sie im Glücksfall von Dark Ambient gelingen kann. Das ist weit weg vom Dub-Techno, mit dem vor allem Modell üblicherweise assoziiert wird. Klar, er hat das Genre pioniert und mitdefiniert, aber inspirativ und künstlerisch wie produktionstechnisch war er selten so weit vorne wie hier und jetzt mit Mystic AM. Ebenfalls eine Erwähnung wert ist die Tatsache, dass Farahani für sein Ambient-Label Astral Industries von Beginn an auf Vinyl setzte und es noch immer tut, sodass alle Veröffentlichungen hochgradig kollektibel werden. Zumindest für Menschen, die Ambient auf Vinyl für eine gute Idee halten und hochwertige Pressungen in Klappcover mit seriell wiedererkennbarem Cover-Design zu schätzen wissen.

Avancierte Menschenfreundlichkeit als positiv verstandene Harmlosigkeit. Vielleicht braucht unsere Zeit der gefühlten wie allzu realen Dauerkrisen die Electronica des B. Fleischmann nötiger denn je. Seit über 20 Jahren fest in den IDM-Neunzigern und dem britischen Chill-Out verankert, produziert der Wiener regelmäßig und von konstant hoher Qualität nicht nur für den freien Markt, sondern ebenso gerne für Film, Theater, Radio und andere Auftragskünste. Etwas mehr als ein Dutzend dieser Stücke sind nun auf Music for Shared Rooms (Morr Music, 12. August) versammelt. Denn so einfach und nett die Stücke auf den ersten Eindruck daherkommen, dumm oder naiv sind sie nie. Sondern sich sehr wohl dessen bewusst, was in der Welt so vorgeht. Nur resultiert dieses Bewusstsein nicht in Pessimismus, Aggression oder Weltschmerz. Im Gegenteil, Fleischmanns Arbeiten setzen dem ganzen gesammelten Mist da draußen ein Stück Klang gewordenen Humanismus entgegen.

Sowieso scheint Freundlichkeit ohne Hintergedanken in Electronica gerade wieder ein kleiner Trend zu werden. Etwa auf der EP Nocturne Thunder (Bytes, 15. Juli) von James Vellas Modular-Live-Elektronik-Projekt A Lily. Hier baut die offensive Freundlichkeit tatsächlich auf ein tiefergehendes Konzept. Einerseits als wenig nostalgische Erinnerung an das, was am Neunziger-Rave und -Chill-Out positiv und zukunftsfähig war, andererseits als Erinnerung daran, was Harmonie in stürmischen Zeiten bedeuten kann.

Ein freundlicher Glücksfall ebenso das in Covid-Isolation produzierte Xia Ye (Shy People, 31. August) des chinesischen Produzenten Night Swimmer. Es ist sein erstes international erhältliches Album auf Vinyl und gleichzeitig das Debüt des Post-Covid-Labels Shy People aus Peking. He Dengke aus Wuhan, der sich hinter dem Alias verbirgt, mischt unironisch rekonstruierte Splitter von Sinopop, chinesischer Klassik und Filmsoundtracks in Loops und tiefenentspannte Grooves zwischen Ambient, Electronica und Cosmic. An der Oberfläche klingt es wie eine der respektvolleren Fourth-World-Einarbeitungen exotischer Klänge in moderne Elektronik, es folgt allerdings einer anderen funktionalen Logik, verhält sich zu seinen Klangobjekten eher wie Vaporwave – ohne den ätzenden Sarkasmus allerdings, der viele frühe Vapor-Aneignungen auszeichnet. Emotional und inhaltlich ist Xia Ye eher ein Gegenstück zur anti-nostalgischen Dekonstruktion der Vergangenheit, die der Japaner Meitei / 冥丁 für sein Kulturerbe macht. Also global und universell, zugleich lokal und spezifisch.

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