Als eines der „Suburban Kids with Biblical Names”, um die legendäre Songzeile der Silver Jews zu borgen, hat Jeremiah J. Carter wohl kaum eine Chance gehabt, selbst zum Verfasser von Hymnen zu werden. Hymnen allerdings der morbide zerfallenen Art am dunkleren Ende von Ambient. Auf Speak, You Also (VAKNAR, 5. August) sind die Lobgesänge noch etwas irdischer und erdiger geraten als von ihm bisher bekannt. Kein Wunder, die Stücke entstanden 2020, als der aus Nashville, Tennessee – und altem Country-Adel? – stammende Musiker gerade nach New York gezogen war, in die wütende Pandemie mit allen ihren Unsicherheiten und Bedrohungen hinein.

Dass die nordischen Orgeln gerade am besten dröhnen, sollte sich mittlerweile herumgesprochen haben. Ein sensationelles Stück wie Living Torch (Portraits GRM, 7. Juli) von einer der zentralen Protagonistinnen der neuen Orgelszene hätte ich allerdings dann doch nicht erwartet – und das noch ganz ohne Orgeleinsatz. Die Schwedin Kali Malone hat das zweiteilige Langformat während ihrer Residenz am französischen Musiklabor INA GRM für ein apartes Ensemble aus Bassklarinette, Posaune, Modularsynthesizer und Boîte à Bourdons (eine wie freundliche Hummeln klingende elektroakustische Drone-Box) geschrieben, das die Klangfarben ihrer früheren Kompositionen behutsam erweitert. Dass das Stück trotz der nur subtilen und graduellen Entwicklung so wuchtig wirkt und emotional so mitreißen kann, spricht für die Kompositionskunst Malones. Knallt wie nix Gutes.

Die Kanadierin Sarah Davachi, ebenfalls nordische Orgeldrone- und Neo-Kammermusikexpertin, setzt mit Two Sisters (Late Music, 9. September) nicht noch einen drauf, das wäre wohl zu viel des Guten. Nein, sie entwickelt ebenso subtil wie Kali Malone einen neuen Sound aus Drone und Neoklassik. Das geht von akustischen in Richtung elektrische Instrumente und wieder zurück. Den klanglichen Reichtum der Elektroakustik mit der strukturellen Einfachheit elektronischer Musik zu verbinden ist als Idee nicht gerade neu. Um es aber auf eine Weise zu machen, die nicht direkt flach oder allzu bekannt klingt, bedarf es nicht nur handwerklicher Fähigkeiten sondern Inspiration. Eine, die in den Falten und Oberflächen liegt, im verdunkelten Barock der Komposition und dem Licht der Instrumente.

In Zeiten in denen Haltung zum wohlfeilen identitätspolitischen Accessoire geworden ist, stehen die wenigen künstlerischen Zeugnisse, die wirklich so etwas wie Haltung zeigen, deutlich heraus. Die, die sich gegen etwas stellen und bei denen mehr auf dem Spiel steht als eine vorübergehende Internet-Aufregung. So ist es den russischen Künstler:innen auf der Compilation Setting Thoughts on Fire (A Sunken Mall, 8. August) hoch anzurechnen, hier ihre Namen und ihre Inspiration beigetragen zu haben. Und es ist definitiv kein Zufall, dass die Mehrzahl der Beitragenden gerade hier in dieser Kolumne öfter auftaucht – von Perila, X.Y.R. und Buttechno bis hin zu Vtgnike. Alle Einnahmen gehen an zivile Hilfsorgansationen in der Ukraine.

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