Missing Love (InFiné, 6. Juli), das dramatische letzte Stück des letztjährigen Albums von Leonie Pernet, traute sich ebenfalls, dem Elend tief in die Augen zu schauen, ohne zu blinzeln. Die Remixe von Jennifer Cardini & Damon Jee nehmen da erst mal ein wenig Pathos heraus, übersetzen den Außendruck von Konflikten, Rassismus und Gewalt, der das Stück durchzieht, in Energie für den Dancefloor.

Zugängliche zeitgenössische Komposition oder radikale, aber spielerische Freiheit der Improvisation auf ungewöhnlichen bis sperrigen Instrumenten haben immer einen gewissen eigenwilligen Charme. Allein schon aufgrund der Entscheidung, einen weniger oft beschrittenen Pfad gehen zu wollen, ohne die Kommunikation mit dem Rest der Welt abbrechen zu wollen. Das französische Duo Lila Bazooka aus Sophie Bernado am Fagott, Céline Grangey an den Maschinen und dem japanischen Shô-Minimalisten Ko Ishikawa als Gast bringt das perfekt auf den Punkt. Freie Musik aus Elektronik, Mundorgel, Stimme und Bassklarinette, die auf Arashiyama (Ayler Records, 1. Juni) doch in beinahe postrockende Songs – im Sinne von Colin Stetson, Bendik Giske oder Gareth Davis – konvergiert, aus denen sie dann wiederum nur zu gerne ausbricht.

Die kanadische Komponistin Parisa Sabet macht auf A Cup of Sins (Redshift Records, 26. August) eine ähnlich bunte Wundertüte auf. Zeitgenössische Liedkomposition für kleines Ensemble oder Kammermusik mit modernistischen Ausbrüchen wechseln sich mit beinahe groovenden Stücken, die Sabets musikalische Kindheit im Iran mitdenken, ab. Höchst dynamisch, doch immer am unteren Ende der Volumenskala. Eine eindrucksvolle Werkschau, die demonstriert, was bei komplett klassischer Herangehensweise an Komposition noch alles geht. Also rein akustische Klänge, noch nicht mal elektroakustisch reproduziert, sondern für die konzertante Aufführung, für theaternahe Live-Situationen gemacht.

Das polnische Duo Nanook Of The North gründete sich 2018, um die die legendäre Filmdokumentation gleichen Namens noch einmal zu vertonen, mit neoklassisch inspiriertem Dark Ambient und mit großem Erfolg. Interessant, dass sie für die spannungsgeladene Elektroakustik von Heide (Denovali, 24. Juni) ihren Projektnamen behielten. Die plastischen, cinematischen, aber hier nicht direkt funktional filmbegleitend gedachten Sounds aus Elektronik und Violine werden von einer Mezzosopranistin noch weiter dramatisiert. So sind sie ebenfalls wie gemacht für eine Live-Interpretation im ganz großen philharmonischen Rahmen.

Der New Yorker Gryphon Rue ist recht neu im Elektronik-Business, sonst eher in einem multimedialen Kunstzusammenhang unterwegs, hat in der schon lange nicht mehr kleinen und immer noch wachsenden Welt der Analog- und Modular-Synthesizer-Szene aber ziemlich sofort bleibenden Eindruck hinterlassen. Den guten Ruf dürfte das experimentelle, in Pop wie in Improv greifende Tape A Spirit Appears to a Pair of Lovers (Not Not Fun, 26. August) noch stabilisieren. Ähnlich den Stars des Genres wie Caterina Barbieri nutzt er den Synthesizer nicht unbedingt für Ambient oder Clubsounds, sondern für etwas dazwischen, das suchend, ausprobierend auch mal Spitzen, Kanten, Verzerrung und Noise zulässt und doch zu einer Trackstruktur zurückfindet – ohne dass man anfangs ahnt, wie er wohl enden wird.

In dieser Herangehensweise an Freiheit und Synthesizer ähnelt der erwähnte Gryphon Rue stark dem ebenfalls in New York lebenden und arbeitenden Mario Diaz de León. Dieser ist als Vermittler zwischen orchestraler Neoklassik und minimalen Synthesizerklängen bekannt geworden, kann aber auch Industrial, Improv, Noise (als Oneirogen und im Trio Bloodmist), Bombast und derben Metal (bei Luminous Vault). Seine Soloarbeit Heart Thread (Denovali, 29. Juli), zwei langformatige Stücke im Mini-LP Format, findet diesen minimalistischen Maximalsound einmal über Software, über MAX-Patches, die kristalline Spitzen generieren, die ungefähr gleich weit von Dub-Chords und IDM-Glitch entfernt sind, und anderseits als Orchesterwerk, das ebendiese Spitzen ganz organisch akustisch spielt.

In Toronto und darüber hinaus ist der gut vernetzte Nick Storring eine Integrationsfigur, die freie Improvisation, Elektroakustik und zeitgenössische Komposition miteinander kommunizieren lässt und vielleicht schwer Vermittelbares, aber doch kompatibles zusammenbringt. Sein Solowerk ist ebenfalls kaum auf einen einfachen Slogan zu bringen. Besser als in der Solopiano- und Elektronik-Arbeit Music From ‘WÉI 成为’ (Orange Milk, 19. August) gelang es aber selbst einem so versierten Weltenzusammenbringer selten. Vielleicht liegt es mal wieder daran, dass die digital soundprozessierten Pianostücke für ein Tanztheaterstück – eben dieses Wéi von Yvonne Ng – konzipiert wurden, was, wie ich hier nicht müde werde zu erwähnen, sehr oft ein Weg ist, aus eingefahrenen Genrekonventionen auszubrechen. Diese Frage stellt sich für den notorischen Brückenbauer Storring natürlich gerade nicht. Genau deswegen passt das Album perfekt in den Katalog der Brooklyner Hyperpop-Dekonstruktivisten von Orange Milk.

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