Foto: Frank P. Eckert

Wie schön, dass Sasha Perera nichts mehr beweisen muss – sich und uns – und ihr Produzentinnen-Alias Perera Elsewhere für ein entspanntes elektronisches Pop-Album wie Home (Friends of Friends, 18. August, Vinyl: 30. September) freimachen konnte. Milde, experimentelle Songtracks im neu dekorierten Club hinter dem Post-Club. Mit prozessierter, vervielfältigter Stimme, mit angenähertem R’n’B, klassischem Trip-Hop oder ganz ohne Vocals in Ambient. Auf Home kommt alles, Songwriting, Sound wie Produktion denkbar unauffällig und minimalistisch daher, schraubt sich aber doch nach wenigen Durchläufen in Körper und Hirn fest wie nichts Gutes. Die Nachhaltigkeit, die überall beschworen wird, so hört sie sich wirklich an.

Das elfisch-gnomische Astralwesen Jennifer Vanilla, Avatar der nichtbinären New Yorker Produzent*in Becca Kauffman, und Co-Producer Brian Abelson sind inzwischen ebenfalls auf der Yellow Brick Road zu ihrem Castle In The Sky (Sinderlyn, 5. August), in dem sie nichts mehr beweisen muss. Denn es ist ja eigentlich selbsterklärend: quietschbunter Pop-Techno, der wie selbstverständlich Elemente von R’n’B, Post-Punk und Minimal Wave vereinbaren kann, ohne nach Electroclash zu klingen, ist einfach am besten, wenn die Umsetzung so überdreht und freaky daherkommt wie das zugrundeliegende Konzept. Alienbabies sind wieder ganz stark im Kommen, ich sag’s euch.

In Frankreich ist Anaïs Thomas mit dem cleveren, theatralischen, Rollenmodelle, Genre- und Genderklischees aufmischenden Bedroom-R’n’B ihres Projekts Bonnie Banane ein Star. International steht offenbar immer noch die Sprachbarriere vor einer vergleichbaren Aufmerksamkeit. Wobei die EP S.O.S. (Péché Mignon, 21. Juli) das eventuell ändern könnte. Der brillant produzierte Drum’n’Bass-Hyperpop aus dekonstruiertem Jungle-Terrorbass in Gabber-BPM und mit ironisch gebrochenen Vocals über Alien-Entführungen könnte, nein, eher: müsste so etwas wie das Nu-Rave-Gegenstück zu Perels Jesus Was An Alien werden – in dem ja Marie Davidson ebenfalls auf Französisch und ebenfalls reichlich ironisch parliert. Und wenn nicht, dann knattert eben der Breakbeat gegen die Vergesslichkeit.

Der Krawall auf dem Cover täuscht. Aber nur ein wenig. Das französische Duo UTO nimmt sich alle Freiheiten elektronischer Popmusik zum wütenden Ausbruch, zum abrupten Experiment und freien Krach, bleibt aber doch sehr gerne auf der Seite des zart Gehauchten, nur um im nächsten Moment die Gauze wieder zu zerreißen und den Grobianpunk links zu überholen. Aber nur ein paar Sekunden. Das Quasi-Debütalbum Touch the Lock (InFiné, 26. August) führt also supersanften, doch dynamischen und vor allem immer gut seltsamen French-Pop in psychedelische Sphären.

Es ist ein soziokultureller Allgemeinplatz, aber auch einfach tatsächlich wahr, das gewisse, besonders alte Orte mit langer Geschichte eine ganz spezielle Melancholie transportieren, die alle kulturellen und sozialen Artefakte durchdringt, die dort entstehen. Sogar dann, wenn sie in allen Aspekte in der Moderne angekommen sind. Istanbul ist so ein Platz, so ein Zusammenhang. Und die ganz spezielle, milde ermüdete, wärmedurchwirkte Traurigkeit der Stadt ist in den Klängen von Deniz Eylül alias Sunfear ganz deutlich zu spüren. Ihr Debütalbum Octopus (Dark Entries, 12. August) wirkt etwas weniger introvertiert als etwa das Werk von Ekin Fil, aber der gemeinsame Hintergrund ist definitiv spürbar. Verwehte, verschlissene Popsongs hinter mürbe gewordenen Ambient-Flächen und Field Recordings brechen sich bei Sunfear öfter den Weg in den Vordergrund, die byzantinische Grundstimmung, das Echo der alten Welt wie die akuten Probleme der modernen – autoritäre Politik, Umweltzerstörung, Gentrifizierung, Stress, Gewalt – sind aber nie verstummt.

In den Abgrund der Angst starren und aushalten, dass der Abgrund zurückstarren könnte. Die dunkle Kunst der morbiden Popmusik in optimistischer Verzweiflung gedeiht in der österreichischen Hauptstadt als besonders üppiges Nachtschattengewächs. Das Solodebüt von Sophia Löw, der Singer-Songwriterin der Wiener Indierocker Culk, unter dem Alias Sophia Blenda nimmt diese Tradition der genialen Soap & Skin und Gustav auf und mischt ein wenig Generation-Y-Wachstumsschmerzen à la Billie Eilish in den Mix. Stimme, Piano und sparsame Elektronik in täuschend einfachen Songs, die ihre innere Größe nicht einfach so offenlegen.

Definitiv aus dem Abgrund herauf starren die posttraumatischen Fantasien von Richie Culver & Pavel Milyakov. Der britische Spoken-Word-Poet und bildende Künstler und der russische Produzent, besser bekannt als Dancefloor-Punisher Buttechno, haben für das Tape A Change of Nothing (Participant, 29. Juli) ihre Verletzungen, Ängste und Hoffnungen zusammengelegt, um etwas genuin Schönes zu schaffen. Nicht dem zeitgenössischen Klischee folgend etwas Heilendes, dafür sind die Narben in diesen Post-Club-Klängen zu offenbar, aber etwas, das in aller Dunkelheit und Gewalt nicht ohne Trost und Hoffnung auskommt. Wie bei allen Veröffentlichungen, die Milyakov zur Zeit in der Pipeline hat, gehen sämtliche Einnahmen an Hilfsorganisationen in der Ukraine.

Gegen toxische Männlichkeit und Gewalt im Clubkontext oder besser in jedem vorstellbaren Kontext arbeiten auch die dezidiert für den freigeistigen Club gedachten EPs der nichtbinären Berliner Produzent*in und Labelmacher*in ASA 808. Auf Bliss (TOYS Berlin, 10. Juni) noch als Rekonstruktion von psychedelischem House, auf Healing (TOYS Berlin, 29. Juli) bereits in Dekonstruktion von Club in Electro, EDM und Electronica, die sich nicht scheut, die Tropen der Heilung in ihre Tracks einzubauen. Nicht mal auf die offensichtlichste Weise, aber genau deswegen zeitigt die Musik einen paradoxen, leicht beunruhigenden Effekt. Ein Album folgt im Herbst. Wir sind gespannt.

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