Der türkische Weltreisende Isik Kural, zur Zeit in Glasgow ansässig, macht auf In February (RVNG Intl., 25. März) etwas, das ein wenig aus der Zeit gefallen, etwas aus der Mode gekommen scheint. Nämlich sehr freundliche, sehr gelassene und super verspielte folkige Electronica mit naiv klingenden Instrumenten wie Glockenspiel, Melodica und FM-Synthesizer, kombiniert mit Field Recordings von Telefongesprächen und Sample-Loops. Ein Sound, der instant für milde Melancholie in aufgehellter Stimmung sorgt. Etwas wie der Frühling. Etwas, wie es um die Jahrtausendwende Jörg Follert mit Wunder, März mit Love Streams, oder Colleen mit Everyone Alive Wants Answers gemacht haben, das aber in aller überbordenden Verspieltheit kaum Nachfolger, kaum Anschluss in die Jetztzeit gefunden hat. Obwohl diese Art der Freundlichkeit von Fremden in Zeiten von Krieg und Seuche vielleicht nötiger wäre denn je.
Apropos weltumarmende Folk-Pop-Songs von herzerweichender Freundlichkeit und Wärme, von manchmal kindlich anmutender Spielfreude, bis zur Naivität experimentell und lo-fi: Die Tenniscoats spielen so etwas seit weit mehr als 20 Jahren. Mit Papa’s Ear (Morr, 6. Mai) ist nun ein bislang nur als CD-Kleinstauflage auf dem schwedischen Label Häpna erhältliches Minialbum der ungefähr nettesten Ehepaarband der Welt wiederveröffentlicht, eine Kollaboration mit der Electronica-Band Tape, die die Uenos von ihrer zartesten Seite zeigt. Weitere Neuauflagen folgen.
Beinahe akustischer, leicht experimenteller Wüsten-Folk. Mit akustischer Gitarre, Stimme, sanften Drones und Field Recordings rekonstruiert Delisa Paloma-Sisk alias Diatom Deli die weichen Kurven und erdfarbene Ästhetik der Mesa-Architektur New Mexicos, in der sie lebt. Nach ein paar selbst verlegten und hochgradig empfohlenen Ambient-Tapes ist Time~Lapse Nature (RVNG Intl., 13. Mai) das erste Album Delis auf einem Label größerer Reichweite. Eine schon wieder tolle Entdeckung des New Yorker Labels. So selbstverständlich, entspannt und wunderschön kommen Folk, Soul, R’n’B, urbane und rurale Styles sonst nicht zusammen.
Beinahe noch sanfter und atemhauchwärmer gibt sich das ebenfalls weitgehend akustische und noch viel weiter aus der Zeit gefallene Singer-Songwriter-Solodebüt Warm Evenings, Pale Mornings: Beside You Then (Alien Transistor, 8. April) von Caleb Dailey. Kalifornische Soft-Psychedelia, wie sie eigentlich nicht mehr hergestellt wird. Der Titel zitiert Gram Parsons „Brass Buttons”, einen der meistgecoverten Country-Folk-Songs der Siebziger. Bei Dailey klingt er versonnen schwebend wie das allererste Mal.
Neue Musik auf alten Instrumenten. Die kanadische Gitarristin und Vokalistin An-Laurence Higgins hat sich auf die Interpretation von herausfordernder, experimenteller, zeitgenössischer Kompositionen für Akustikgitarre und Stimme spezialisiert. Das Doppelalbum Almost Touching (People | Places | Records, 20. Mai) mit Werken von Kim Farris-Manning, Elischa Kaminer, Shelley Marwood, Arthur Keegan-Bole, Sofia Gubaidulina und Higgins selbst gerät immer so virtuos wie nötig, also oft sehr, und so out there wie möglich – oder umgekehrt). Dornige, widerhakende Zartheit.
Nicht weniger virtuos und grandios ist die Neue Musik auf alten Instrumenten, hier ein Buchla-200-Synthesizerschrank und ein Streichertrio, der Berliner Produzentin Hüma Utku. Als R.A.N. hatte sie vor einer Handvoll Jahren einen großartigen Start mit einem Sound zwischen spätem Industrial, Slowcore-Breakbeats und zeitgemäßem Dunkeltechno. Unter dem Eigennamen agiert die ausgebildete Psychologin konzeptionell geschlossener, aber doch freier und experimenteller. Nach der Konstruktion von Selbsterkenntnis auf Gnosis von 2019 sind auf The Psychologist (Editions Mego, 6. Mai) nun Zerfall und Re- und De-Konstruktion des Ich das große Thema. Dass sich das durchweg im weniger gut beleuchteten Teil von Körper und Geist, Charakter und Emotionen abspielt, ist ja quasi selbsterklärend. Tonnenschwere Sounds, von Störsignalen durchzogen, die sich manches Mal in einen schleppenden, vom Gewicht der Welt müde gewordenen Beat einfügen können, aber doch in eine Pianoballade münden, oder ebenso gut in Feedback und Noise.
Ivan Zoloto, in Barcelona lebender und arbeitender Russe, unterstützt mit dem Black Album (School of the Arts, 16. Mai), den nach Ghosting und Pleasure Prison finalen Teil einer Tape-Trilogie. Charitys, die sich um die Versorgung der Opfer des Ukrainekriegs kümmern. Eine gute Geste, die hoffentlich dazu beiträgt, Leid zu mindern und nebenbei vielleicht die ungewöhnlich freie und in diesem Fall angesichts der Thematik erstaunlich zarte und fast nicht kathartische, bisweilen sogar ins Ambiente driftende, chorale Schwerelement-Elektronik bekannter zu machen. Freidenkerischer Free Noise gelingt selten so zugänglich, Verständnis suchend und findend.