Auf dem ebenfalls bereits im vergangenen Jahr erschienenen Harmattan (Pentatone) schiebt das Londoner Ausnahmetalent Klein die Collageästhetik der Avantgarde von der Dekonstruktion von R’n’B und Dubstep in Richtung der äußeren Ränder des visionären Jazz, aber auch von allerlei anderen Neutönern, ohne ihre spezifische, experimentelle Noise-Ästhetik aufzugeben. Extrem beeindruckend und zudem oft von berückender Schönheit, wie Klein das ganz weit draußen Stehende, total Abgefahrene in eine fassbare Form bringt, ohne die Radikalität der Klänge und Inhalte im Geringsten zu kompromittieren. Genau so klingt Free Jazz (oder eher Free Music) in den Zwanzigern des 21. Jahrhunderts.

Oder der Jazz der neuen Zwanziger klingt wie Picturesque Ruins (Midira, 14. Januar) von Panoptique Electrical, eines Projekts, hinter dem sich der Australier Jason Sweeney verbirgt. Ein Cello, das in teils heftigem Feedback klingt, als würden die Saiten mit einer Metallsäge bearbeitet, doch immer wieder vom scharfkantigen Noise in feinste Drone-Schönheiten zurückfindet.

Ebenfalls absolut plausibel und sinnig erscheint die Synthese von sprituellem Jazz, esoterischem New Age, horizonterweiternden Fourth-World-Klängen und dem Adult Oriented Rock der Achtziger mit zeitiger elektronischer (und elektronisch klingender) Produktion des Duos aus Digitalelektroniker John Thayer and Saxofonist David Lackner. Was die beiden auf Flowers From Home (Not Not Fun, 28. Januar), ihrem Debüt unter dem Kürzel YAI, dann auch folgerichtig Laptop Jazz nennen. Was sich direkt und ganz wunderbar mit James Stinsons epochemachendem Detroit-Electronica-Klassiker Lifestyles of the Laptop Café assoziieren lässt. Mehr Empfehlung geht kaum.

LOVOTIC (Analogue Foundation, 28. Januar) begründet ein neues Berliner Label für experimentelle Elektronik im weitesten Sinn. Die erste Veröffentlichung von Soundwalk Collective w/ Charlotte Gainsbourg und zahlreichen exzellent wie prominent kuratierten Gästen startet mit höchstem Anspruch an ungefähr alles, aber mindestens an Sounddesign, Produktion und Aufnahme (die Analogue Foundation ist Aufnahmestudio, Proberaum, exklusiver Konzertrahmen und vieles mehr), Inspiration, Inhalt und Reichweite. Es bleibt zu sehen, ob das über die Strecke trägt. Die erste Laufnummer liefert auf jeden Fall massiv. Digital und elektroakustisch dekonstruierte Textpassagen über Intimität und Liebe, Geschlecht und Identität, sehr nah und intim eingesprochen von Gainsbourg in der Rolle einer cyborg-androiden Future Eve, und kluge Gastbeiträge, etwa von Gendertheoretiker* Paul B. Preciado. Diese Beiträge sind eingebettet in und werden kontrastiert von ebenso dekonstruierten Beats und Ambient-Passagen. Zusammen klingt das tatsächlich äußerst akut nach Heute und auf melancholische Weise (retro)futuristisch, dass eine eine Freude ist.

Hörbeispiele müsst ihr euch leider selbst organisieren.

Ewan Castex alias Rone gelingt es immer wieder, mit seinem wirklich solide etablierten und nicht unbedingt außergewöhnlichen Sound – von Techno kommende und zu Postrock tendierende, brillant produzierte Electronica mit Pop-Appeal – in der Tat Außergewöhnliches zu schaffen. Das gelingt gerade in Wechselwirkung mit Tanztheater oder Film besonders erfreulich. Sein Soundtrack zu Les Olympiades (Infiné, 21. Januar) zeigt Castex mal wieder als Teamplayer in Bestform. Jacques Audiards Filmcollage über jugendliche Früherwachsene aus der Hochhaussiedlung des 13. Pariser Distrikts (so der Filmtitel der englischen Version) hat nicht zuletzt für und mit Rones Soundtrack bereits diverse Preise auf Filmfestivals eingesackt und kommt Ende Januar in die Kinos – hoffentlich auch hierzulande. Ohne den Film gesehen zu haben, geben die zwischen Ambient und Club oszillierenden, zwitschernden Synthesizerklänge des Soundtracks schon einen guten Eindruck von der Energie und Melancholie des Films und machen ohne begleitende Bilder bereits einen richtig starken Eindruck.

Wow, ein umwerfendes, weltumspannendes Werk (der im Kontext dieser Kolumne immer leicht prätentiös wirkende Begriff „Werk” hat hier seine volle Berechtigung) wie das der Uèle Lamore, das gibt es wahrlich nicht so häufig. Die erst 26-jährige, in Paris lebende US-Amerikanerin hat auf ihrem Albumdebüt quasi aus dem Nichts eine ganz und gar eigene Stimme entwickelt, die sich ziemlich eklektisch an allen Banketten der populären wie experimentellen Genres bedient und sie doch in ein konsequent sinniges Gesamtsystem namens LOOM (XXIM Records/Sony Masterworks, 28. Januar) überführt. Eines das so viele Anknüpfungspunkte bietet und doch ihr allein gehört. Ein Geschenk, das orchestrale Üppigkeit, eine neoklassisch filmische Erzählweise mit sachter, wohldurchdachter Elektronik, die an Ambient wie an Clubmusik geschult ist, folgerichtig verbindet. Das kann ebenso schlüssig in pathosgeladenen Popsongs enden, in lässigen R’n’B- wie in sanften House-Tracks, gerne alles im selben Stück.

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