Die Electronica-Nostalgien des Alexander Sirenko sind nicht weniger erfunden und zukunftsgewandt. Die Referenzen des russischen Hardware-Sample-Virtuosen sind allerdings nicht Rave und Club, sondern Tiki und Exotica, eine interessante, leicht abwegige Obsession mit den US-amerikanischen, speziell hawaiianischen Stilkonstruktionen der Fünfziger. Ein Genre, das schon im Original komplett virtuell und ausgedacht war, eine erträumte Ritualmusik einer pazifischen (und pazifistischen) Stammeskultur, die es so natürlich nie gab. Das jüngste Coral-Club-Album Turn To (Not Not Fun, 28. Januar) erfindet diese erfundenen Tribalklänge noch einmal aufs Neue neu. Nicht mehr so rau und lo-fi wie auf den Tapes der vergangenen Jahre, scheint die Utopie der kommenden Vergangenheit im Sound flüchtiger und verschwommener, aber gleichzeitig irgendwie konkreter, ja, erreichbarer geworden.

Im Portfolio des Berliner Labels PAN war Pan Daijing lange Zeit der heftigste Act. Ihre permanent am Limit von Volumen und Distortion spielende Katharsis aus brutalem Noise hat aber vermutlich nicht trotz, sondern genau wegen der ausgestellten Kompromisslosigkeit eine immense Breitenwirkung gezeigt. Eine Produzentin vom Format Daijings bleibt natürlich nicht stehen, und schon Jade 玉观音 aus dem vergangenen Jahr hat in aller hartnäckigen Konsequenz neue Wege aufgezeigt, Dark Ambient zitiert und doch etwas völlig Eigenes gemacht. Das Auftragswerk Tissues (PAN, 21. Januar), eine moderne Cut-Up-Oper aus Samples und avanciertem Soundprocessing, aber ebenso aus menschlichen Elementen wie den Stimmen dreier Opernsänger*innen und Daijings eigener, führt den Ausbruch aus alten Noise-Konventionen noch deutlich weiter in experimentelle Bereiche die nicht weniger disruptiv, aber doch anders radikal sind, weil sie elysische Momente schmerzhafter Schönheit möglich machen. Eine Ästhetik, die durch Katharsis und brüllenden Schmerz gegangen, am anderen Ende des Leidens angekommen ist.

Das ambitionierte Sound-Art-Projekt MO RO 20 (Magazine) des hauptberuflichen Toningenieurs Richard Ojijo nutzt die Methode und Ästhetik der Montage und des traditionell kühlen, von Noise-Partikeln und verzerrten Lautsprecheransagen durchsetzten skandinavischen Dark Ambient, um die  Filmarbeiten von Marcel Odenbach zu unterfüttern und zu konterkarieren. Die komplexen Videoinstallationen Odenbachs, die noch bis 6. Februar in einer Retrospektive im Düsseldorfer K21 zu sehen sind, arbeiten sich subtil und zurückhaltend, aber doch immer engagiert und auf absolute Klarheit bedacht an schwierigen Themen ab: Der deutschen Erinnerungskultur, den Toten des Mittelmeers, Kolonialismus und Genozid. Die Klänge Ojijos, die mehr als einmal an die definierenden polaren Ambient-Sounds von Biosphere und Deathprod aus den Neunzigern erinnern, sind keine reine Zugabe zu den Bildern. Sie sind für sich genommen mindestens genauso komplex und erzählen ihre je eigene Version der Geschichte.

Collage, Montage, Cut-Up und Glitch sind ebenfalls Stichworte für den frankokanadischen Klangkünstler Racine. Amitiés (Danse Noire, 21. Januar) seine zweite Arbeit für Aïsha Devis und Raphael Rodriguez’ Label, samplet sich bevorzugt durch die Sounds kammermusikalisch-akustischer Instrumente und kombiniert diese mit crunchy Noise zu mikroskopisch eruptiven, im Gesamteindruck aber doch ruhig fließenden Soundscapes. Was in der Summe eine eigenwillig frisch klingende Aktualisierung von Dark Ambient ergibt.

Und wo es um moderne Interpretation von Dark Ambient, Industrial und Noise geht, muss unbedingt noch das im vergangenen Herbst erschienene السَّمْت Azimuth (FRKTL) von Sarah Badr alias FRKTL erwähnt werden. Die exzellent vernetzte Musikerin aus Kairo sammelt und türmt auf, mischt und vermählt allerlei Klänge, digital und analog, akustisch, gefunden, orchestral und synthetisch, zu fein verwirbelten, hochviskosen Soundscapes von immenser Detailschärfe.

Die Ästhetik erzählender Soundscapes muss nicht zwingend noisy und schwer sein. Aus Field Recordings und analogen Synthesizern lassen sich genauso gut luftig leichte Hörbilder basteln. Die minimalistischen Soundscapes der tasmanischen Produzent*in Alex Last alias Soda Lite (womit ein Mineral, Sodalith, gemeint ist und kein blubberndes Zuckerwasser) referieren ziemlich eindeutig auf die japanische Environmental Music der Achtziger. Das Tape Aqua Solar Cura (Not Not Fun, 28. Januar) zieht aus der Kombination von Feldaufnahmen der tasmanischen Natur und bewusst einfach gehaltener, warmer Analogsynthesizer-Harmonien eine immense kreative Schaffenskraft und Frische, als gäbe es diese Kombination zum allerersten Mal.

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