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Aïsha Devi: „Mit einem Bild in der Hand begann ich nach ihm zu suchen”

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Entgrenzte elektronische Klänge gibt es schon länger. Ungefilterte, rohe Vocals auch – neu ist die Unmittelbarkeit, mit der Aïsha Devi Klangexperimente und Gefühlsausbrüche aufeinandertreffen lässt. Diese Politik klanglicher Entgrenzung wird von einer Philosophie strukturiert, die ein biografisches Fundament hat. In unserem Porträt versucht GROOVE-Autorin Laura Baumgardt zu verstehen, wie das zusammenhängt.

Pünktlich zum verabredeten Zeitpunkt öffnet sich die Kachel des Videocalls und ein Blondschopf mit riesigen Kopfhörern auf den Ohren grinst mir entgegen. Trotz der Distanz zwischen Berlin und Barcelona merke ich schon nach den ersten Begrüßungsfloskeln, dass eine große Wärme und Aufgeschlossenheit von Aïsha Devi ausgeht. Genau diese Verbindung von Präsenz und Sensibilität vermittelt sie auch in ihrer Musik. Woher sie diese Energie bezieht, gehört zu den Dingen, die ich im Interview herausfinden will.

Aïsha Devi (Foto: Cristian Andersson)
Aïsha Devi (Foto: Cristian Andersson)

Anlass für das Gespräch ist Devis neues Album Death Is Home, das im Dezember erschien. Es sei ihr bisher intimstes Album, in dem sich die Erfahrungen der letzten Jahre und die Auseinandersetzung mit ihrer persönlichen Familiengeschichte vereinen, sprudelt sie los. „Es nimmt einen philosophischen Blickwinkel ein. Es geht um meine eigene Interpretation von Sokrates’ Konzept der Ungewissheit. Wir wissen nicht, was der Tod eigentlich ist. Deshalb wäre es auch möglich, dass der Tod die eigentliche, reale Existenz sein könnte.” Sie macht eine Pause, kehrt kurz in sich, als würde sie überlegen, ob sie die nächsten Gedanken mit mir teilen möchte. Dann schaut sie mir in die Augen. „Es ist auch eine Hommage an meinen Vater und meine unsichtbare Verbindung zu ihm.”

„Ich zeigte ihm das Bild, und er fing an, von meinem Vater zu erzählen. Jedes Wort, das er sagte, war auch ein Teil meiner Geschichte.”

Aïsha Devi

Ein Blick auf ihren familiären Hintergrund erklärt, wie brisant dieses Thema für sie ist. Aïsha hat ihren Vater nie kennengelernt, er lebte in Nepal. Zu ihrer Mutter hatte sie nur sporadischen Kontakt, sie zog Aïshas Halbgeschwister auf Jamaika auf und heiratete später einen tunesischen Musiker, der dem Nomadenstamm der Tuareg angehörte. So wuchs Aïsha am Genfer See bei ihrer Großmutter auf, durch die sie die europäische Geistesgeschichte kennenlernte, die mit ihr die Welt bereiste. Ihr Großvater ist der bekannte Schweizer Physiker Charles Enz, der mit einem Schüler von Albert Einstein zusammenarbeitete und auch mit dem Psychoanalytiker C. G. Jung befreundet war.

Aïsha Devi (Foto: Cristian Andersson)
Aïsha Devi (Foto: Cristian Andersson)

Wie war es für Aïsha, in dieser zerrissenen Konstellation aufzuwachsen? Als Kind habe sie sich nie zugehörig gefühlt, erklärt sie. Bisweilen habe sie auch Misshandlung und Gewalt erlebt, wie sie sagt. Darauf will sie allerdings nicht weiter eingehen. „Um mich sicher zu fühlen, musste ich heraustreten und mich zur Beobachterin machen – ich war jemand, der von Anfang an nicht dazugehörte.” Schon immer fantasierte sie über ihre Herkunft und Identität in Bezug auf die väterliche Seite ihrer Familie, von der sie kaum etwas wusste, schon immer trieb sie das Verlangen an, einen Platz auf dieser Welt zu finden. In den letzten Jahren begriff Aïsha, dass sie ihren Vater kennenlernen musste, um zu diesem Ziel zu gelangen.

Stoff für Hollywood

„Die Geschichte verlief wie in einem Film. Es war ein Abenteuer”, beginnt sie die Suche nach ihrem Vater zu schildern. Ihr Vater gehörte den Gurung an, einer ethnischen Gruppe, die in den Bergen der Provinz Gandaki in Nepal beheimatet ist. Aïsha spürte schon eine Verbindung zu ihrem Vater, als sie Anfang der Zweitausender anfing, Musik zu machen. Sie recherchierte zu Tradition und Religion der Gurung, auch mithilfe schamanischer Rituale und Praktiken. 2016 bereiste sie Nepal, um sich ihrem Vater auch physisch anzunähern. „Mit einem Bild in der Hand begann ich, nach ihm zu suchen”, so Aïsha.

„Der Tod wird als das Ende unserer Existenz angesehen, aber er kann in etwas verwandelt werden, das existiert.”

Aïsha Devi

Allerdings blockierten administrative und bürokratische Hürden den Weg. „Ich begegnete Leuten, die mir Säcke voller Unterlagen zeigten. Nichts war digitalisiert.” Sie ging zu einer Polizeistation, wo sie an einen Mann verwiesen wurde, der als „Gedächtnis der Nachbarschaft” bekannt war. „Ich zeigte ihm das Bild, und er fing an, von meinem Vater zu erzählen. Jedes Wort, das er sagte, war auch ein Teil meiner Geschichte.” So erfuhr sie, dass ihr Vater Schlagzeuger war. „Das zu wissen, gab mir viel Kraft, denn wir hatten diese Verbindung durch die Musik. Er ist auch auf dem Cover meines neuen Albums abgebildet.”

Aïsha Devi (Foto: Cristian Andersson)
Aïsha Devi (Foto: Cristian Andersson)

Aïsha stockt kurz in ihrer Erzählung, fängt dann aber an zu lachen. Das „Gedächtnis der Nachbarschaft” riet ihr, als Gast in einer Reality-TV-Show aufzutreten, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, nach verschollenen Angehörigen zu suchen. Normalerweise verachtet sie solche Sendungen. Aber in außergewöhnlichen Lebenssituationen macht man nunmal außergewöhnliche Dinge. So entschied sie sich, teilzunehmen. Trotz der Kuriosität der Umstände wirkt sie sehr bodenständig, während sie darüber spricht.

Zwei Wochen nach der Sendung rief sie eine Frau an, die ihren Vater gekannt hatte. Zu einem Kennenlernen mit ihrem Vater konnte es allerdings nicht mehr kommen, weil dieser schon verstorben war. „Sie hat mir aber viele Geschichten erzählt. Deshalb fühle ich mich heute als Teil der Gurung-Gemeinschaft.” Einen Moment von Zugehörigkeit – zu Land, den Traditionen und den rituellen Praktiken – hat Aïsha so zum ersten Mal erfahren. „Und das ist es, was ich eingangs sagen wollte: Der Tod ist nicht das Ende. Der Tod wird als das Ende unserer Existenz angesehen, aber er kann in etwas verwandelt werden, das existiert.”

Musik als Wegweiser

Das Gefühl von Fremdheit in ihrer Kindheit und Jugend führte Aïsha schon früh zur Musik. Sie sang in ihrer Schulzeit im Chor und entdeckte damit eine neue Welt. „Zuerst war die Musik ein Akt des Suchens, aber sie wurde zu einem Akt der Resilienz und einer lebendigen Welt, in der ich frei sein konnte.” Es war eine Möglichkeit, sich von der Hyper-Identifikation sozialer Konstrukte wie Geschlechtervorstellungen zu distanzieren und eine parallele Welt und eigene Sprache zu kreieren. Nach der Schule studierte sie zunächst Grafikdesign in Lausanne. „Musikschulen folgen eher traditionellen Strukturen. Aber die Kunstschulen waren schon immer ein Labor für experimentelle Ideen. Das hat mich sehr angesprochen.” Doch der Arbeitsmarkt ließ sie aufwachen. „Als ich zu arbeiten begann, wollte ich mich nicht an die Werbebranche anpassen. Deshalb fühlte ich mich nutzlos.”

„Ich habe nicht angefangen, Musik zu machen, um sie zu verkaufen. Ich habe damit angefangen, um mich auszudrücken.”

Womit wir wieder bei dem Thema wären, das sich durch Aïshas gesamte Biografie zieht – die Suche nach einem Platz auf dieser Welt. „Mir ging es psychisch sehr schlecht, ich habe mich von allem isoliert.” Das einzige, was ihr zu diesem Zeitpunkt half, war die Rückkehr zur Musik. Zwei Jahre steckte sie in einer tiefen depressiven Phase, in der sie die Kreativität als Ventil nutzte. „Meine einzige Beziehung bestand zwischen mir und meinem Computer.”

Sie muss kurz schmunzeln, während sie das sagt, doch eine gewisse Beklemmung bleibt, wenn sie über diese Zeit spricht. Als sie aus dieser Phase kam, hatte sie die ersten Tracks produziert, die sie anderen zeigte, die davon begeistert waren – was sie damals in Unglauben versetzte. „Ich habe nicht angefangen, Musik zu machen, um sie zu verkaufen. Ich habe damit angefangen, um mich auszudrücken”, erklärt sie. Und so ging ihr Weg immer weiter: Ihre Musik wurde veröffentlicht und sie wurde gebucht. „Seitdem habe ich nicht mehr aufgehört”, sagt sie mit einem Unterton aus Stolz und Nostalgie.

Aïsha Devi (Foto: Cristian Andersson)
Aïsha Devi (Foto: Cristian Andersson)

Auf ihrem Debütalbum Reflections Of The Dark Heat unter dem Alias Kate Wax von 2005 orientierte sie sich am Avantgarde-Pop der Achtziger von Musikerinnen wie Anne Clark oder Grace Jones und an der experimentellen Clubmusik der Zweitausender. „Damals habe ich mich noch immer hinter der Musik versteckt”, erzählt sie. Das änderte sich, als sie realisierte, dass die Distanz nicht notwendig ist. So veröffentlichte sie 2015 erstmals unter ihrem bürgerlichen Namen – ein entscheidender Punkt in ihrer Karriere, wie sie sagt: „Ich hatte eine Erleuchtung, was meine tiefere Bestimmung angeht. Ich habe begriffen, was ich zur Musik beisteuern kann. Ich wollte mich nicht mehr verstecken.”

Zwischen den Welten 

So entwickelte Aïsha ein Klang- und Musikverständnis, das in ihr spirituelles Erleben und Denken eingebettet ist. Die Musik schlägt die Brücke zwischen der sinnlichen und übersinnlichen Welt. „Frequenz ist das wesentliche Element, das ordnet, was wir hören und was wir nicht hören”, erklärt sie. Die verschiedenen Frequenzbereiche in der Musik haben verschiedene Auswirkungen auf unseren Körper und unser Bewusstsein. Und das sei nicht nur die Essenz ihrer Musik, sondern auch ihr Verständnis vom Leben, wie Aïsha mir erklärt. „Wir leben in der materiellen Welt und haben große Schwierigkeiten, zu verstehen, dass das nur die Spitze des Eisbergs ist. Die energetische und magnetische Welt, das, was wir nicht sehen, ist der größte Korpus der Existenz.”

Was weit hergeholt erscheinen mag, lässt sich auch auf die rituelle Funktion von Musik zurückführen. „Der ursprüngliche Zweck der Musik im Ritual hat sich immer weiter in Richtung Unterhaltung verschoben. Mir gefällt die Idee, die Musik zu ihrer rituellen Funktion zurückzuführen”, so Aïsha, die ausführt: „Musik wird zum Kanal, der die Weisheiten der Welt in ihren Frequenzen trägt.” 

„Der Klang hat heilsame Kräfte.”

Die Musik verkörpere und trage aufgrund ihrer Frequenz und ihrer Eigenschaften alle Informationen über die Welt. Sie sei aber auch ein Instrument der Vermittlung und der Lehre, selbst Moral und Werte würden durch sie weitergegeben, so Aïsha. Gemeinsames Singen, im Club zu lauten Bässen tanzen oder bei Familienfesten Opas Musik lauschen – im Ausdruck von Affekt stehen das Tradieren und Zelebrieren von geregelten Formen des sozialen Tuns im Mittelpunkt.

Für Aïsha sind diese Sichtweise und ihre künstlerische Entfaltung nicht nur ein Mittel zum Ausdruck, sondern auch eine Flucht vor der Normalität – eine außerkörperliche Erfahrung, verbunden mit der Erfahrung von Transzendenz. Zum ersten Mal machte sie diese Erfahrung durch ihre Stimme. „Wenn man singt, überträgt sich der Resonanzraum auf den ganzen Körper”, erklärt sie. „Und es geht noch weiter: Der Klang existiert über den Körper hinaus. Das hat heilsame Kräfte.”

Aïsha Devi (Foto: Cristian Andersson)
Aïsha Devi (Foto: Cristian Andersson)

Mittlerweile scheint Aïsha an einem Punkt in ihrem Leben zu sein, der weniger von der ständigen Suche bestimmt ist. Sie wirkt, als sei sie angekommen, als könne sie ihre persönliche Entwicklung und ihren Wissenserwerb zu etwas verschmelzen, das manch eine:r Erleuchtung nennen würde. Sie macht eine Pause, denkt nach und lacht. Zumindest sei das ihre Absicht, fügt sie an.

Plötzlich wird klar, dass diese Absicht, obwohl tiefgreifend, nicht zwangsläufig kompliziert ist. Es ist ein Streben nach Einfachheit inmitten der Komplexität. Die Hingabe zu ihrer Musik wird zu einem Wegweiser, der sie zu ihrer eigenen Geschichte, den Wurzeln ihrer Familie und letztendlich zur Essenz des Lebens führt. Am Ende geht es um die Hingabe zu dem, was ist, und darum, im unerklärlichen Dazwischen die wahre Existenz zu erkennen.

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