Wie klingt postkoloniale Elektronik? Gibt es eine Möglichkeit, der Vereinnahmung bestimmter Sounds, bestimmter spezifisch historisch entwickelter Ausdrucksweisen, die in einem genau definierten und spezifischen kulturellen Zusammenhang entstanden sind (Jazz, Soul, Hip Hop, House zum Beispiel), etwas entgegenzusetzen, das nicht auf essenzialistische Identitätspolitik zurückgreift, sondern bei aller notwendigen Klarheit der Ansage offen bleibt, Diskussion und Nachdenken nicht abschließt, sondern gerade eröffnet? Der Mann, der das in D-Land am besten versteht, ist der gelernte wie organische Intellektuelle Fehler Kuti, sprich F E H L E R K U T T I, ah nein, K U T I, aber Fehler machen wir doch alle, oder? Auf Professional People (Alien Transistor, 25. Juni) sind diese Fehler von einem nicht leise zu bekommenden Grundrauschen des Ressentiments in einen widerständigen, gerne sarkastischen Soundtrack der Kapitalismus-Analyse eingebettet, der eben gerade nicht die Erzählungen von Herkunft, Erbe und Verletzungen hernimmt, um von Deutschland 2021, dem Land der Paketlieferdienste und des Impfneids, zu erzählen.
Anders, offen und komplex suchen die Song-Tracks von Vanessa Garcia-Cuevas alias Whirlynn aus Tampa, Florida einen Platz im Labyrinth von Identität, Kaptalismus und Sexualität. Ihr Debüt Yákakeitiwa (Popnihil) findet die Leerstellen von Herkunft in den Ausdrucksformen Synth-Pop, Dark-Wave und Dark Ambient, also Sparten, die indigenen Musiker*innen üblicherweise nicht als authentisch zugeschrieben werden; genau deshalb entsteht hier ganz großartige Popmusik. Whirlynns Label Popnihil möchte ich an dieser Stelle wärmstens allen empfehlen, deren Herz irgendwie noch an der Schwarzen Szene (will sagen Gothic, Dark Wave, Post-Punk) hängt, die aber doch von der ubiquitären Uniformität der Musik und der Inhalte tendenziell gelangweilt sind. Das ist bei Popnihil definitiv anders, obwohl das Label vorwiegend lokale Künstler*innen aus Florida verlegt.
Die geographisch und geschlechtlich nichtbinäre Sound-Art-Produzent*in Ramona Córdova arbeitet mit Field Recordings, Sampler, Storytelling und akustischer Gitarre. Die glitchigen Loops von Naïve (Hidden Harmony, 10. Juni) bekommen daraus und darin eine komplexe, quasi-organische Qualität, wollen sich aber doch nicht auf eine Lesart festlegen. Dazu sind die Texturen dieser Klänge zu subtil, die Songs, die die Stücke eben auch darstellen, zu fragil und fragmentarisch. Ein wunderbares Zwischendrin.
Auf ihrem selbstverlegten Debüt Oudemian (Mári Mákó) versucht sich die in den Niederlanden lebende ungarische Komponistin und Instrumente-Erfinderin Mári Mákó ebenfalls an einem fröhlich melancholischen Durcheinander und Mittendrin aus elektronischen und akustischen Elementen und ihrer leicht bis schier digital prozessierten Stimme. Das spannende Debüt ist eher Avant-Elektronik und Post-Club als Neoklassik und macht Lust auf mehr kontrollierte Unübersichtlichkeit.
Der hyperproduktive Wahnwitz namens Prolaps geht in die zweite Runde dieses Jahres. Mit einem Veröffentlichungszyklus, der an den Sonnenzyklus angeglichen ist, geht die C-120-Kassette Ultra Cycle Pt. 2: Estival Growth (Hausu Mountain, 20. Juni) in die Vollen (schon wieder), was Esoterik, Verschwörungstheorien, Internet-Quatsch und Breakbeat-Attacken angeht. Nature Sounds aus dem Destruction Club. Jetzt mit noch mehr Gabber-Wehmut und Rave-Nostalgie. Ich weiß nicht, wie ich Teil 3 und 4 dieses Bretts von Brettern überleben soll. Feed me weird things. Galore.
Inner Lift (Chant Records), das britisch-norwegische Gipfeltreffen der Vokal-Improvisatorinnen Sissel Vera Pettersen & Randi Pontoppidan, bleibt in den Mitteln karg: Ein Raum, zwei Stimmen und sparsame Elektronik. An Experimentierfreude und was das Ignorieren von Erwartungen und Kategorien angeht, sind die beiden erfahrenen wie abenteuerlustigen Chorleiterinnen (Pettersen leitet die Trondheim Voices, Pontoppidan das britische Theatre of Voices) voll auf einer Linie. Konzentrierter und zurückhaltender als in ihren jeweiligen Ensemble schöpfen sie alle Möglichkeiten ihres Lebensinstruments aus, von der opernhaften Koloratur bis zum Hecheln, Kratzen und avancierten Ausatmen, und setzen es in überraschend eingängige Beinahe-Songs.
Stimme und Wissen, abstrakte Elektronik und Beinahe-Pop kennzeichnen ebenso die Kollaboration der italienischen Komponistin Antonella Porcelluzzi mit dem deutschen bildenden Künstler Michael Schaffer. The Secret Circle (Opa Loka, 5. Juni) kreist um einen Satz aus dem Bardo Thödröl, dem tibetischen Buch der Toten, in dem es sich um „Liberation Through Hearing” dreht. Also ganz und gar nicht esoterische Klänge, sondern absolut weltliches und dem Interesse zugängliches Wissen.