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Motherboard: Juni 2021

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Die in Korea und den USA lebende Komponistin Okkyung Lee hat eine klassische akademische Ausbildung am Cello. In ihren Soloarbeiten steht das Instrument ebenfalls immer im Zentrum, ihr Klangrepertoire stammt allerdings aus der freien Improvisation. Im Knurren, Kratzen und Schaben, Zerren und Klopfen, im Poltern wie im regulären Spiel lotet sie die Möglichkeiten des Instruments in Musik und Nichtmusik, in Kombination mit elektronischen Effekten und Field Recordings aus zu experimentellen, immer überraschenden Sounds und Noise. Auf 틈/ Teum (The Silvery Slit) (GRM Portraits) in Langform als zerstreut-sparsame Soloimprovisation, auf 나를 (NA-REUL) [Black Cross Solo Sessions 3] (Corbett vs. Dempsey) eher songorientiert, in konzentrierten Stücken, die immer komplett eigen sind, aber doch eine entfernte Ahnung von Postrock, koreanischen Volksliedern oder verzerrtem Appalachen-Folk in sich tragen.

Mabe Fratti, in Mexico City lebende Cellistin aus Guatemala, setzt ihre zwischen Improvisation und Neoklassik oszillierenden Kompositionen deutlich direkter in Songs um, die geloopt und von elektronischen Effekten bereichert sind. Ihr Solodebüt Será que ahora podremos entendernos (Unheard of Hope, 25. Juni) klingt so mal nach Neofolk, mal nach leichtflüchtigem Shoegaze, dabei immer von der brummenden Wehmut des Cellos gekennzeichnet.

Cello und Elektronik, das charakterisiert die zweite Kollision der Schweizer Sara Oswald & Feldermelder. Die EP Drawn (-OUS, 20. Juni) führt die halbimprovisierten akustischen Instrumentalfetzen in mehr oder minder rhythmisierte, digital angefressene Instrumenal-Songs mit Breitwand-Appeal. Filmisch und erzählend episch ergeben die drei knapp und konzentriert gehaltenen Stücke ein intensiv-dramatisches Abspanngefühl: ein Soundtrack eines tollen Films, den man gerade verpasst hat.

Der spanische Cellist Gaspar Claus arbeitet selten solo und selten frei, also ohne direkten Auftrag oder Funktion seiner Musik. Am bekanntesten dürften seine Nicht-Soundtrack-Arbeiten wohl in der Zusammenarbeit mit seinem Vater, dem Flamenco-Gitarristen Pedro Soler sein. Noch spannender ist in diesem Zusammenhang allerdings seine Arbeit für das französische Fernsehen, bei dem er eine Folge der Dokumentationsserie Hobbies vertont hat: Die filigrane EP Adrienne (Infiné, 4. Juni) sammelt vier Stücke, die im Zusammenhang mit diesem Soundtrack entstanden sind, aber dann offenbar ein Eigenleben entwickelten, das über die reine Funktion hinausweist. Zwischen Neoklassik, Improv und Ambient sind das wunderbar unfunktionale (und doch funktionale) Stücke jenseits aller Kategorien. Einfach melancholische, feine Musik.

Die Komponistin und Violinistin Manja Ristić verzichtet auf Kairos & The Dwellers (Forms of Minutiae) praktisch vollständig auf gespielte Instrumente. Stattdessen sammelt das Album Field Recordings der kroatischen Karstlandschaft, die zu einem ökoakustischen Soundtrack arrangiert sind.

Eine imaginäre Volksmusik, vorgestellte Folklore real gemacht in der je eigenen musikalischen Sozialisation, für Fatima Al Qadiri wird es nur ein Baustein ihrer konzeptüberhängigen Kunstpraxis sein, sich ein Mittelalter vorzustellen, in dem die Klänge der traditionellen Instrumente der arabischen Halbinsel in verwaschenem Hall und aufbrandenden Synthesizersounds aufgehen. Und doch ist Medieval Femme (Hyperdub) wohl Al Qadiris leichtverständlichstes und unmittelbar schönstes Album bisher.

Das Trio MANSUR der gelernten Doom-Metaller Jason Kohnen, Dimitry El-Demerdashi und Martina Horváth nimmt sich dagegen eine vollständig vorgestellte archaische Musikkultur, die minoische nämlich, und setzt sie in fragile wie mürbe und leicht morbide Dark-Ambient-Klänge aus fernen Echos archaischer (Stimme), alter (Oud) und neuerer (Synthesizer) Instrumente um, die im alles zersetzenden digitalen Nebel verschwinden. So ist MINOTAVRVS (Denovali) ebenfalls die möglicherweise schönste, definitiv aber die brüchig wehmütigste Musik, die die drei jeweils je gemacht haben.

Die unmittelbar bezauberndste und international anschlussfähigste reale Volksmusik kommt vermutlich aus aus dem hohen Norden, besonders gerne aus Island. Nicht nur Islands berühmteste Tochter Björk hat die Traditionals der Insel, die Seefahrerlieder, den alten und neuen Folk gecovert und auf eine gewisse Weise weitergeführt, in die Jetztzeit übersetzt. Das isländische Neoklassik-Duo Hugar schließt sich da beinahe nahtlos an die Tradition der Modernisierung an. Die vormals nur mündlich überlieferten Lieder und Texte, die von Bjarni Thorsteinsson um die vorletzte Jahrhundertwende in der Sammlung Þjóðlög verschriftlicht wurden, haben Hugar auf Þjóðlög / Folk Songs (XXIM) in karge Arrangements gefasst, durch die noch spürbar der kalte Wind pfeift, die noch etwas wissen von der Armut, Kälte und Isolation, von der Härte und Gewalt des Lebens, die Island im 18. und 19. Jahrhundert auszeichnete, und die doch vor Wärme und Hoffnung nur so strotzen.

Die Berliner Komponistin Hannah von Hübbenet arbeitet vorwiegend an Begleitmusik für andere Medien, für Film und Fernsehen, für Games und Dokumentationen. Die Songtracks, die sie als Field Kit schreibt, bewegen sich allerdings doch ganz schön weit weg von den Seriensoundtracks zu Großstadtrevier, Neues aus Büttenwarder oder Charité, die sie bislang produzierte. Wobei: Der Soundtrack zu letzterem könnte schon eine Verbindung zu der erzählenden Neoklassik ihres beeindruckenden Debüts Field Kit (Nonostar, 4. Juni) darstellen. Zwischen Postrock und mikrotonal glissandierenen Neutönen ist da einiges möglich, jedes Stück eine Welt für sich.

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