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Motherboard: Juni 2021

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Foto: Frank P. Eckert

Mit etwas Fortune gelangt man als Künstlerin oder Künstler, die*der im Grenzbereich von elektronischer Tanz- oder Popmusik arbeitet, irgendwann in die Position, einfach das machen zu können, was man will, erlangt künstlerische Freiheit aus Durchhaltevermögen, Beharrlichkeit oder Sturheit, so man sich diese leisten kann auf dem Weg. Was dann aus dieser Freiheit als Abwesenheit von Schranken entsteht variiert extrem mit dem Charakter. Es gibt zum Beispiel die völlig vertretbare Möglichkeit, einfach immer mit demselben weiterzumachen, Starrsinn für sich produktiv zu machen (ich nenne das hier mal das Wolfgang-Voigt-Prinzip). Oder das Gegenteil, sich immer wieder neu zu erfinden. Wie die georgische Ausnahmekünstlerin Natalie Beridze, die auf ihrer epischen elektroakustischen Kompositions-Suite Mapping Debris (Monika) vorführt, wie Freiheit in Emotion und Denken sich anhört und anfühlt. Das kann neoklassischer Trip-Hop sein (ein Sample/Streicherarrangement, das sich an „Unfinished Sympathy” orientiert, ist in dem Zusammenhang nie falsch), digital collagierte Splitter-Noise-Fragmente oder Berlin-Style-Düster-Techno. Das kann unglaublich schön und sehr schroff sein, experimentell wie zugänglich, krass und warm, elegisch oder energisch, am besten alles zugleich.

Das Kölner Duo Trope Ashes steht noch am Anfang der Kreativ-Karriere, sie ackern allerdings schon kräftig an der künstlerischen Schwervorhersehbarkeit. Die tolle EP Push the Frozen Soul (Baumusik, 25. Juni) hat so einiges an modernem R’n’B, K-Pop und alter Avantgarde der Popmusik weltweit in sich aufgenommen. Sophia und Trace gelingt es allerdings jederzeit, im Bereich des Entspannten, introvertiert Eigenwilligen zu verweilen. Egal wie unübersichtlich und messy die übereinandergestapelten Soundcollagen sich geben. Eine ganz eigene, schwer durchschaubare Kunst, die selbst in den anstrengenden Moment im Register des Schönen und Guten spielt.

Das Berliner Synthpop-Duo We Will Kaleid spielt das Spiel der Anziehung und Abstoßung von Mainstream und Underground etwas länger. Die spannende EP Aphasiac (Sinnbus) bringt das zwittrige Hin-Her der Körperlichkeit von Bedroom-R’n’B, Trap und der Abstraktion in digitale Post-Club-Splitter auf den Punkt (eher: um den Punkt herumschwirrend) wie nicht zuvor. Ähnlich wie bei Trope Ashes schlägt unterhalb und innerhalb des disparaten Krawalls ein Herz aus Ambient.

Oder dasselbe machen wie immer, nur krasser – ohne in eine Steigerungslogik verfallen zu müssen. Dann wären wir beim inzwischen in Berlin lebenden Italiener Alessandro Cortini, der für seine Aktivitäten etwa bei Nine Inch Nails und anderen Stadionelektrikern kürzlich in der Rock’n’Roll-Hall-of-Fame einen Platz bekam. Sein raumgreifendes Album Scuro Chiaro (Mute, 11. Juni) praktiziert kontrastreichen Heavy Ambient mit einem Soundverständnis, das den schon im Albumnamen beschworenen Hell-Dunkel-Kontrast der italienischen Rennaissancekunst als Rahmen nimmt, in dem eher experimentelle, aber dem ganz großen Shoegaze-Pathos ebenso wenig abgeneigte Synthesizer-Sounds sich zu voluminösen instrumentalen Popsongs verdichten, bis der Druck zu groß wird und die Decke abhebt.

Das exzellent kuratierte One Life : four Remixes (UNO NYC) mit vier Bearbeitungen der phänomenalen, in ihrer Einfachheit beinahe irrwitzig schönen EP der französischen Ambient-Shootingstar*s Malibu von 2019 macht im Hinblick auf Sentiment und Pathos ebenfalls keine Gefangenen. Die Version von Julianna Barwick ist erwartbar noch am subtilsten und in gleißender Melancholie schwelgend, John Beltran addiert Bass und Field Recordings, Kelly Moran ihre bekannten Klavierdekonstruktionen (und ebenfalls Bass und Pathos), aber erst Evian Christ agiert komplett hemmunglos und verwandelt das überirdisch schöne Titelstück Malibus in einen bombastischen EDM-Furz (mit allen Mitteln, die der Mainstream da zu bieten hat: Kompressor am Anschlag, Sirenen, Preset-Pads und Robert Miles „Children”-Piano), der dann aber doch nach innen eingedreht quer sitzen bleibt. Extrem schlimm und toll.

Die Klänge der chinesischen Berlinerin Pan Daijing waren von Beginn an von einer fast dialektischen Beziehung von offensiver Aggression und schüchterner Verletzlichkeit geprägt, was sich vor allem in ihren intensiven Live-Auftritten manifestierte. Ihr Lockdown/Isolation-Album Jade 玉观音 (PAN, 4. Juni) übersetzt diese Gefühlsextreme, die vielleicht gar keine Opponenten sind, sondern zusammengehören, nun am bisher schlüssigsten und verständlichsten um. Was ihre bislang sanfteste Arbeit in die Nähe von Sound Art und Dark Ambient rückt, ohne je ein Genre wirklich bedienen zu wollen. Vielleicht lässt sich rohe Emotion unverfälscht nur mit diesen verfeinerten und durch endlose Folgen kultureller Filter gelaufenen Sounds zum Ausdruck bringen.

Oder man pfeift von Anfang an auf sämtliche Kategorien und die approvals der Gatekeeper der Kunstwelt wie Wanton Witch, eine königlich queere trans-Person aus Borneo, die in Bangkok lebt und arbeitet. Ihr Debüt Wanton Witch (Stroboscopic Artefacts, 4. Juni) reiht energiegeladenen, gewittrigen Dark Ambient an Hi-NRG-Electro-Disco und eine Post-Gabber-Extravaganza-extraordinaire. Das ergibt das definitiv ungewöhnlichste und vor allem in jeder Hinsicht bunteste und diverseste Album, das auf Lucys Label je herausgekommen ist. Ich würde behaupten, auch das Beste.

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