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Nüchternes Feiern: Das große Aber bleibt nicht aus

Wir befinden uns in der Rollbergsiedlung in Berlin-Neukölln, wo im Jahre 1873 einem Goldjungen im Kindl-Krug mit dem ersten Bierausstoß das Leben geschenkt wurde. Heute noch, nach durchfeierten  Wochenenden, liegt genau jener Goldjunge im Logo des betreffenden Bierherstellers auf zahllosen leeren Bierflaschen im Kiez herum. Ein goldener Waisenjunge, der mahnt, dass Drogen- und Alkoholkonsum wahrscheinlich älter sind als der liebe Gott.

Allerdings ist an jenem nüchternen Januarabend beim Betreten des queeren Clubs SchwuZ, unweit der ehemaligen Kindl-Brauerei, nicht die übliche, in Alkohol getränkte Masse an tanzenden Menschen zu sehen – sondern Stühle. Denn es gibt Gesprächsbedarf. Die Clubcommission lädt zur Podiumsdiskussion „Unfiltered Nights – Exploring Sober Club Culture” ein. Es geht um die Nüchternheit im Kontext der Clubkultur. Darum, wie nüchternes Feiern funktionieren kann, welche Herausforderungen noch zu bewältigen sind und wie Chancen und Perspektiven aussehen.

^Diese Themen scheinen Anklang zu finden. Wie sehr man das der Dry-January-Euphorie zurechnen kann, ist unklar. Jedenfalls sind alle etwa 150 Stühle besetzt, das Buffet leert sich zügig und selbst der hintere Teil des Saales wird von stehenden Menschen gefüllt. Das Klimpern der Eiswürfel in den bunten, alkoholfreien Cocktails hallt durch den Saal. So schaut man nach vorne auf die Bühne, und dort sitzen sie bereits: Die Panelist:innen nippen an stillem Wasser und zuckerfreier Mate, während Zoé, die Gründerin der Initiative Sober Nightlife und Moderatorin des Abends, mit der Vorstellungsrunde beginnt. Mit dabei: Claire alias DJ Flounce, Gründerin des nüchternen Raves Tendersesh, der queere Autor Vlady Schklover, der die nüchterne Eventreihe Lemonade Queers ins Leben rief. Daneben sitzt Gabriella Rowland von (lip) service, dem Tanzbar-Abend für lesbische Personen im sober-freundlichen Rahmen. Auch dabei ist Gideon Bellin von Sober Sensation, der seit 2016 das alternative Party-Konzept ohne Alkohol und Drogen fördert, bereits über 50 solcher Feiern veranstaltet hat und das erste deutsche Festival in nüchternem Rahmen auf die Beine stellte. Und auch der Veranstaltungsort ist vertreten, von  Helen Ramseier, der gastronomischen Leitung im SchwuZ.

Der nüchterne Steppenwolf

Der Dry-January wirkt manchmal wie ein teurer Mantel, den man kurz trägt, um ihn wenig später etwas geniert wieder tief in der Garderobe zu verstauen. Wir sehen uns in einem Jahr wieder, und lass’ mich bloß beim Feiern in Ruhe! Doch was ist mit den Menschen, die über das Jahr hinweg nüchtern bleiben und trotzdem gerne feiern gehen? Denn das nüchterne Feiern unter Torkelnden ist nicht immer einfach, wie auch Vlady im ersten halben Jahr seiner Nüchternheit erfahren musste: „Ich ging immer noch feiern und gab vor, Spaß zu haben.” Irgendwann verspürte er Einsamkeit, als einziger Nüchterner auf jeder Party.

Auf der Bühne, von links nach rechts: Gabriella Rowland, Vlady Schklover, Gideon Bellin, Moderatorin Zoé, Claire alias DJ Flounce und Helen Ramseier (Foto: Ilja Minaev)

Was hat geholfen? Verbündete. Über Facebook suchte er nach queeren und nüchternen Genoss:innen. Aus einem ersten Treffen entwickelte sich die Veranstaltungsreihe Lemonade Queers im SchwuZ, die auch dieses Jahr sechsmal stattfinden wird. Mit dem Ziel, einen safe-space für sober-queere Menschen zu erschaffen.

Diese Veranstaltungen beginnen immer mit einem Connection-Space. So soll ein ruhigerer, bewussterer Umgang miteinander geschaffen werden, um die Besucher:innen zu Beginn zu entkrampfen und der Einsamkeit entgegenzusteuern. Denn: „Alkohol- und Drogenmissbrauch ist in der Queer-Community weit verbreitet”, sagt Vlady. Viele queere Menschen kompensieren den Minoritätenstress und das erhöhte Einsamkeitsgefühl mit übermäßigem Konsum, verstärkt durch spezifische Community-Normen.

Probleme, die aber nicht nur in der queeren Community existieren. „Gerade in der Partyszene gibt es teilweise dieses gekünstelte Gemeinschaftsgefühl”, das noch stärker auffällt, wenn man nüchtern ist, findet auch Gabriella Rowland. Wenn bloß zugeschaut und weitergemacht wird. Wenn nicht die Musik, sondern der Konsum die Menschen in den Club zieht, von der Tanzfläche weg, hin zu den Toiletten, anstatt zuzuhören. „Ursprünglich geht es in der Clubkultur um die Verbindung über Musik oder Gemeinschaft, doch in Berlin entsteht oft die Verbindung über den Konsum von Drogen”, sagt Gabriella und unterstreicht ebenfalls, dass man sich als nüchterne Person in diesen Kontexten abgeschottet fühlt.

Zum sicheren Schuhkarton

Für Gabriella war es keine Entscheidung, nüchtern zu feiern. Sie selbst ist seit neun Jahren Teil der Clubszene und musste aus gesundheitlichen Gründen jeglichen Drogen den Rücken zukehren. Um aber jetzt noch feiern zu gehen, braucht sie einen, wie sie ihn nennt, „Shoe-Box-Club”. Ein nicht allzu großer Club, der Integrität ausstrahlt, in dem sie sich sicher fühlt. Zudem müssen ihre Energiereserven im Vorhinein aufgeladen sein. Im nüchternen Zustand müsse man nämlich den Körper von sich aus in einen ekstatischen Zustand bringen, was sonst die Drogen im Einmaleins-Verfahren aus dem Stand bewerkstelligen.

Für die, die sich in einem nicht-nüchternen Umfeld unwohl fühlen, sollte im idealen Shoe-Box-Club 0,0 Prozent Alkohol fließen, wie bei auf den Partys von  Lemonade Queers im SchwuZ, dem Sober-Rave Tendersesh von Claire, oder auch auf den Veranstaltungen der Sober Sensation von Gideon. So abgedroschen wie der Satz, dass man auch nüchtern Spaß haben kann, klingt das Konzept dieser Partys nicht. Ein paar Dinge sind anders: Es herrscht eine sehr klare Atmosphäre, und der Umgang mit Menschen und Ort ist deutlich respektvoller als sonst. Im Gegensatz zum subtanzlastigeren Abend, wo der ein oder anderer Kiefer etwas größere Schwierigkeiten hat, ein Lächeln zu formen, wird an dem nüchternen Abend erstaunlich viel gelächelt und gelacht. Dafür muss allerdings auch was getan werden.

Die Veranstaltung ist bis auf den letzten Platz besetzt (Foto: Ilja Minaev)

Direkt zu Beginn von Lemonade Queers entsteht durch den Connection-Space eine ganz andere Stimmung. Barrieren, die man sonst mit lecker Bierchen einreißt, werden so durchbrochen. Und sobald die Musik läuft, sind alle am Tanzen. „Ich dachte auch, es würde cringe werden. Doch am Ende gab es keinen sichtbaren Unterschied zu anderen Events im SchwuZ. Auch nüchtern lassen sich die Leute gehen, tanzen und machen rum. Der große Unterschied: Die Menschen sind sehr nett zum Staff”, sagt Helen, die hinter der Bar den direkten Vergleich kennt. Auch Claire war überrascht, wie viele Menschen auf ihrem ersten Sober-Rave tatsächlich getanzt haben.

Genau dort möchte man hinkommen: Den Alkoholgehalt des alkoholfreien Biers, das man soeben getrunken hat, zu hinterfragen. Gideon Bellin nennt dieses Gefühl, und im Anschluss auch sein alkohol- und drogenfreies Festival, Natural High und versucht dabei, die Sinne, die man mit Drogen sonst betäubt, besonders hervorzuheben.

Geld regiert das Partyzelt

Das hört sich ja alles schön und gut an. Doch das große Aber bleibt leider nicht aus. Denn das Thema Geld und Finanzierung gibt dem himmlischen, alkoholfreien Cocktail eine trübe Färbung. Gideon Bellin hat mit Sober Sensation seit 2016 über 50 Sober-Partys veranstaltet und mit fast keiner dieser Feiern Geld verdient. „Das ist die größte Herausforderung, und hierfür brauchen wir Partner:innen”, unterstreicht er. Auch Helen, die sich bestens mit der Produktion von alkoholfreien Getränken auskennt, erklärt, dass alkoholfreie Getränke, entgegen den Erwartungen, in der Produktion mehr kosten als Getränke mit Alkohol. Das alles zu stemmen, sei oft nur durch Förderungen machbar.

„Förderungen sind aber möglich”, sagt Vlady, der selbst viele solche Projekte auf die Beine gestellt hat. „Vor allem, wenn es sich um ein Nischenprojekt handelt, wie es die Nüchternheit offenbar ist. Da sagt die Jury: Ja, das nehmen wir!”

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