burger
burger
burger

Mental Health in Clubs: „Scheiß auf die Rechnung, oder?”

- Advertisement -
- Advertisement -

Es ist kurz nach drei Uhr morgens in einem Wiener Club. Auf der Tanzfläche bewegen sich Hunderte Menschen im Rhythmus der Musik. Ihre Gesichter flackern immer wieder kurz auf. Einige lächeln mit geschlossenen Augen, andere starren ins Leere. Irgendwer brüllt: „Vorwärts!” Dann setzt der Bass wieder ein.

„Ekstase”, sagt Lena, Mitte 20, während wir draußen eine Zigarette rauchen. „Ja, Ekstaseee”, das ziehe sie jedes Wochenende in den Club, durch die Nacht. Dieses Gefühl, dass man sich „um nichts kümmern muss”, dass man „ganz lockerlassen kann, weit weg vom Alltag, von allem.” Lena hält mir ein Nasenspray hin, sagt: „Bock?”

Unter der Woche arbeitet Lena als Lehrerin. Ein Job, der sie häufig an ihre Grenzen bringe, „Der Club, Techno, die Menschen – das klingt jetzt vielleicht doof, aber das ist alles wie eine Flucht für mich, eine Art, dieses andere Leben zu vergessen, den ganzen Stress rauszutanzen.” Sie schüttelt den Kopf: „Die Rechnung dafür bekommst du spätestens am Montag. Da wird es dann zach. Aber das ist es mir wert.”

Da Freizeit, dort Arbeit

So wie Lena denken viele, die im Club feiern. Man will sich frei fühlen, während man frei hat. Sich nicht darum kümmern, was draußen ist. In der Welt, morgen, dem anderen, echten Leben. „Das ist die Diskrepanz, diese Gegenüberstellung von Flucht und Alltag”, sagt Chino. Er ist seit drei Jahren Barkeeper in einem Berliner Techno-Club, weiß: „Was für andere Freizeit ist, ist für uns Arbeit.”

„Wenig Schlaf, selten ein Dankeschön, aber dafür ständig Erwartungen.”

Chino sagt das so: „Für uns”. Er meint damit all jene, die DJs buchen, Toiletten reinigen, Espresso Martinis mischen. Also alle, die im Club nicht frei haben, sondern arbeiten. „Viele denken, wir stehen hier, weil wir selbst feiern wollen. Dabei halten wir den Laden am Laufen, und das in einem System, das uns oft ausbrennt. Wenig Schlaf, selten ein Dankeschön, aber dafür ständig Erwartungen.”

Ein Drink nach der Arbeit? Lieber nicht (Grafik: DALL-E)

Nach zwölf Stunden hinter der Bar, mitten im Lärm, und einer permanenten Reizüberflutung wolle außerdem niemand mehr von Party sprechen, so Chino. „Du willst nur abschalten. Aber dann gehst du nach Hause. Und auch wenn dein Körper müde ist, dein Kopf dreht sich immer noch – vom Bass, vom Stress, von den hundert Gesprächen mit Gästen. Manche nehmen dann was, um runterzukommen, oder trinken nach der Arbeit noch ein, zwei Drinks. Aber ehrlich gesagt: Das macht es oft nur schlimmer.”

Leben auf der Überholspur

„Wie können Beschäftigte im Nachtleben besser geschützt werden?”, fragte die Clubcommission Berlin 2023. Damals startete die erste Phase des Projekts „Mental Health in Clubs”. Dabei wurden über 200 Clubarbeiter:innen aus 20 Berliner Clubs zu psychischen Belastungen befragt. Ein vorläufiges Ergebnis: Die Mehrheit empfindet die Arbeit im Club als erfüllend, obwohl sie prekär ist. Allerdings gaben viele an, dass es an Strukturen mangele, die vor Belastungen am Arbeitsplatz schützen.

Zwei Jahre später hat sich einiges verändert. Inzwischen bietet die Clubcommission Stresstrainings an oder Workshops zum Umgang mit Substanzgebrauch. Zusätzlich finden Diskussionsrunden statt, zum Beispiel zum Thema Depressionen in der Clubkultur. In Kooperation mit der Charité ermöglicht die Clubcommission außerdem kostenlose psychologische Beratung. Und im Mai 2025, während der europäischen Mental Health Week, widmet sich in Berlin erstmals eine Konferenz der mentalen Gesundheit im Clubkontext.

„Das Leben auf der Überholspur ist alles andere als nachhaltig.”

Eine, die sich in diesem Bereich gut auskennt, ist Julia Labonte-Stoy. Sie hat 25 Jahre in der Musikindustrie gearbeitet und kennt ihre Herausforderungen. Als Coachin und Mediatorin nimmt sie nun den Blick von außen ein, denn: „Viele in der Szene sprechen erst über den hohen Druck, wenn es längst zu spät ist. Dabei wäre es wichtig, sich einzugestehen, dass das Leben auf der Überholspur alles andere als nachhaltig ist.”

Persönliche Reflexion könne ein Bewusstsein für eigene Grenzen schaffen. Allerdings benötige es auch Strukturen – und das Wissen, wo man sich geschaffene Unterstützung holen kann, sagt Labonte-Stoy. Sie kümmere sich deshalb insbesondere um Self Care und Achtsamkeit. Schließlich sei Arbeit im Club vor allem: Ausnahmezustand. Und der hinterlasse irgendwann bei jeder und jedem Spuren. „Einen Purpose zu finden, ist der erste Schritt, um nachhaltig und gesund in der Szene arbeiten zu können”, so die Coachin.

Höchste emotionale Eisenbahn

Spricht man mit Menschen in der sogenannten Szene, den DJs, Barleuten, Booker:innen oder Securitys, merkt man schnell: Was die Leute hier machen, ist für sie Alltag unter erschwerten Bedingungen. Denn Clubarbeit verlangt nicht nur körperliche, sondern vor allem emotionale Höchstleistung. Eine, die lange ohne Betreuung auskommen musste – und damit ohne professionelle Ansprechperson.

„Das bedeutet, dass viele mit ihrem Stress allein blieben”, so Erich Joseph, Projektleiter von Mental Health in Clubs, bei einem Talk im Rahmen der Clubkultur-Konferenz Vienna After Dark. „Genau hier setzen wir mit unseren Workshop-Reihen, den Coachings und Achtsamkeitstrainings an.” Schließlich dürfe mentale Gesundheit kein Luxus sein. Sie solle vielmehr ein Grundbaustein der Szene werden, sagt Joseph. 

„Wir sind alle austauschbar, aber gleichzeitig unersetzlich.”

Längst überfällig, meint Johanna, Mitte 30. Sie ist seit Jahren Veranstalterin in Leipzig und engagiert sich zusätzlich in Awareness-Teams. Sie sagt: „Die Clubnacht ist wie ein perfekt choreografiertes Theaterstück. Jede:r spielt eine Rolle, vom DJ über die Veranstalterin bis zum Toilettenpersonal. Aber wie im echten Theater kennen nur wenige die Geschichten hinter den Kulissen.”

Johanna spricht von schwierigen Arbeitsbedingungen, unregelmäßigen Arbeitszeiten und einem hohen Maß an Verantwortung, das oft auf wenigen Schultern lastet. „Da muss mehr Awareness-Arbeit passieren, eben weil das nicht nur ein Thema für Gäste ist, sondern auch für uns Mitarbeitende.” Sie schildert, wie sie einmal eine Nachtschicht mit hohem Fieber durchzog, weil sie keinen Ersatz für sich finden konnte. „Wir sind alle austauschbar, aber gleichzeitig unersetzlich. Und weil viele von uns diese Arbeit lieben, opfern wir uns zu oft auf.”

Das macht etwas mit dir

Die Leidenschaft für die Clubkultur hält viele in der sogenannten Szene – trotz Bedingungen und Belastungen. Michel, ein 32-jähriger Lichttechniker, nennt es eine „toxische Love-Hate-Relationship”. „Du arbeitest in der Nacht, wenn andere schlafen. Dein Rhythmus ist anders, dein Freundeskreis verändert sich. Beziehungen scheitern daran, dass du selten Zeit hast. Klar macht das etwas mit dir.”

Emotionaler Rausch jetzt, die Rechnung später (Foto: DALL-E)

Michel hat vor einigen Monaten eine Therapie begonnen, um den mentalen Druck zu bewältigen. „Es war ein Punkt erreicht, an dem ich kaum noch schlafen konnte, weil der Stress mich auch dann wach gehalten hat, wenn ich nicht arbeiten musste. Gleichzeitig wollte ich diesen Job nicht aufgeben, weil ich dafür brenne.”

Sein Therapeut habe ihn irgendwann gefragt, warum er die Clubarbeit so sehr brauche. „Es ist ein Rausch. Kein chemischer, sondern ein emotionaler”, sagt Michel hastig. „Das Licht, die Musik, die Energie in der Nacht – das ist schwer zu erklären. Aber mich macht es wirklich süchtig.”

Das Schweigen brechen

Obwohl immer mehr über Mental Health gesprochen wird – das Thema sei in der Clubszene oft genug tabuisiert, sagt Johanna. „Du willst keine Schwäche zeigen. Auch wenn immer mehr über Verletzlichkeit und Fragilität und so weiter sprechen – die Branche lebt vom Mythos der Stärke, der Unermüdlichkeit. Wer sich als müde, ausgelaugt oder überfordert zeigt, läuft Gefahr, als nicht belastbar abgestempelt zu werden.”

Dabei sei gerade das Reden, der Austausch wichtig, betont sie. Projekte wie „Mental Health in Clubs” seien ein Schritt in die richtige Richtung. „Aber es braucht mehr. Viel mehr. Wir reden hier nicht nur über Stress oder Überarbeitung, sondern auch über tiefere Probleme: Einsamkeit, Existenzangst, Depressionen, you name it.”

„Manche nehmen was, um die langen Nächte durchzuhalten, andere, um runterzukommen.”

Dabei dürfe man natürlich auch den Umgang mit Drogen nicht vergessen. „Die Versuchung ist schnell mal da, das Zeug sowieso”, so die Veranstalterin. „Manche nehmen was, um die langen Nächte durchzuhalten, andere, um runterzukommen” – oft gehe das auch Hand in Hand. Passt man nicht auf, komme man dann nicht mehr so einfach raus „aus der Scheiße” – vor allem, wenn es keine Unterstützung gibt.

Die Zukunft der emotionalen Arbeit

„Trotz allem”, sagt Chino, die Nacht sei nicht das Problem. „Sie gibt uns so viel: Freiheit, Gemeinschaft, auch Zusammenhalt. Aber wir müssen lernen, richtig damit umzugehen, also aufhören, so zu tun, als wäre alles perfekt. Denn das ist es nicht. Und das zuzugeben, offen darüber zu sprechen, das wäre mal ein Anfang, nicht?”

Vielleicht sei das ja die größte Stärke unserer Clubkultur, so der Barkeeper: „Ihre Fähigkeit, uns zu zeigen, wer wir wirklich sind.” Und vielleicht sei es genau das, was die Clubkultur nun brauche – „einen Raum, in dem es nicht darum geht, wer am längsten durchhält. Sondern in dem es darum gehen muss, wer am besten für sich und andere sorgt.”

In Wien gehen derweil die Lichter an, kurz nach sechs, Sperrstunde. An der Garderobe versammeln sich die letzten Reste der Nacht. Flaschen klirren am Boden, alle wollen ihre Jacke haben. Ein Türsteher sagt: „Könnt ihr schneller machen?” Dann: Türe, Tageslicht. Draußen steht Lena beim Kiosk, kauft sich ein Dosenbier, raucht: „War wieder was”, sagt sie. Und meint, strahlend: „Scheiß auf die Rechnung, oder?”

In diesem Text

Weiterlesen

Features

GROOVE Leser:innenpoll 2024: Die Ergebnisse

Im GROOVE-Leser:innenpoll kommt ihr zu Wort. Welche DJs habt ihr gefeiert? Welche Tracks liefen auf Repeat? Was hat euch persönlich bewegt?

Mischa Fanghaenel: „Es wird den Moment geben, in dem wir uns angrinsen”

Mischa Fanghaenel ist Fotograf. Und Türsteher. Die Überlagerung seiner beiden Tätigkeiten brachte das Projekt „NACHTS” hervor. Wir haben ihn dazu interviewt.

Quelza: Das Streben nach dem reinen Ausdruck

Quelza hat sich in den letzten Jahren als DJ und Produzent profiliert. Wie der Franzose überhaupt zu Techno kam, lest ihr im Porträt.