Die jüngste Tape-Lieferung des faszinierenden japanischen Kleinstlabels Muzan Editions aus der Tempelstadt Nara agiert grenzübergreifend und setzt eine experimentelle, suchende, offene Herangehensweise über Genre oder Stil. Was ebenfalls für die Künstlerinnen und Künstler auf dem Label gilt. Diese können lokal aus der näheren Umgebung der Kansai-Area sein oder von ganz weit weg, aus befreundeten Zusammenhängen aus aller Welt. Wie zum Beispiel die herzerweiternde Analog-Electronica der beiden Berliner Produzentinnen Mareena & JakoJako, die auf Atlas der Gedanken (Muzan Editions, 5. März), dem zweiten Tape ihres gemeinsamen Projekts, ihre Floor-Filler Kapazitäten als Techno-Player der Stadt sowie ihre Ambient-Affinität (höre etwa Mareenas Groove Podcast) zugunsten einer Sensibilität für schwelgerische, leicht krautige Analog-Synthie-Klänge vorläufig zurückgestellt haben. Einigermaßen enigmatische Textansagen umschwirren frühlingshaft flirrende Sounds – mit bezaubernd irrealem Effekt.
Das Splittape Animism (Muzan Editions, 5. März) des amerikanischen Drone-Produzenten Lee Noble, der als Kim’s Spirit sowieso schon eine gewisse Japanophilie kultiviert, mit dem befreundeten Duo DupSys aus Osaka bezieht sich spezifisch auf die minimale, Synthesizer-getriebene japanische Variante von Ambient, die als Environmental Music bekannt wurde (etwa des jüngst wiederentdeckten Hiroshi Yoshimura). Sie interpretieren die Tradition allerdings weniger minimalistisch und durchaus üppig-saftig in der Soundästhetik. Mit lose eingeflochtenen Sounds von Wasser, Tempelglocken, Stimmen, Stadt und Natur bleibt der Synthesizer doch dominantes Instrument.
Analogsynthesizer-Wizard Norm Chambers aus Seattle knüpft für Muzan Editions an eine zehn Jahre alte Arbeit seines vorübergehend stillgelegten Alias Panabrite an. Die Sub-Aquatic Meditation Vol. 2 (Muzan Editions, 5. März) beschränkt sich auf den Sound eines einzigen Vintage-Klangerzeugers, des ARP Odyssey aus den späten Siebzigern. Ein Gerät, auf dem zum Beispiel die berühmte Titelmelodie von Dr. Who eingespielt wurde. Chambers spielt ausschließlich mit den wenigen Parametern klassisch analoger Synthesizerkunst und erschafft doch eine faszinierend weite und tiefe Unterwasserwelt der Imagination. Ein richtig großes kleines Album.
Driftmachine, gute alte Bekannte dieser Kolumne, tauchen auf dem Mini-Album Spume & Recollection (Umor Rex, 12. März) ebenfalls maximal immersiv in subaquatischen Tiefen, die hier als Dub definiert sind. Mehr als je zuvor allerdings als Dub mit dem Suffix Reggae. Die Sounds kommen zwar wie immer aus den Modular-Baukästen der Synthese-Schule. Die Rhythmen und Sounds verweisen allerdings deutlicher als zuvor auf jamaikanische Wurzeln in Roots-Reggae und Dancehall, die hier nur minimal abstrahiert und aufpoliert werden. Der Beweglichkeit, ja beinahe Tanzbarkeit ihrer kristallklar dunklen Klänge gibt das noch einmal einen deutlichen Schub.
Wie sich manchmal Menschen und Musiken, Klänge und Ideen finden. Eine französische Avantgarde-Folksängerin etwa, die sich auf die archaischen Klänge vorklassischer Instrumente wie des Dulcimer, des Spinett oder der Drehleier spezialisiert hat, und ein Düsseldorfer Retro-Avantgarde-Krautelektroniker. Mit Emmanuelle Parrenin & Detlef Weinrich hat sich diese unahnbare Konstellation jedenfalls als äußerst kreativ und erfreulich erwiesen. Auf Jours de grève (Versatile) jedenfalls bildet das krautmotorisch bodenständige Geklopfe von Weinrich (Toulouse Low Trax), das, immer knapp vorbei am Club, doch eine gewisse Beweglichkeit am Rande der Tanzbarkeit aufweist, eine perfekte Grundlage für die raum- und zeiterweiternden Stimm- und Klangexkursionen Parrenins. Die Gastperformance des kürzlich verstorbenen französischen Outsider-Klangkünstlers Ghédalia Tazartès veredelt das Album zudem und macht es zu einem einzigartigen Dokument. Politisch wach und agil ist das Ganze zudem, Oberthema sind die französischen Generalstreiks der vergangenen zwei Jahre.
Eine niederländisch-japanische Pianistin, ebenfalls der Improvisations-Avantgarde zuzählbar, und ein multimedial arbeitender Sound-Art-Komponist, klar, das geht ebenfalls wunderbar zusammen. Nicht so naheliegend, dass Tomoko Mukaiyama & Yannis Kyrikiadis mit La Mode (Tomoko) gemeinsam eine Klanginstallation zum Thema Mode (und Architektur) fabrizieren. Eine, die sich in der Summe eben gar nicht so weit draußen im Meer der atonalen Improvisation bewegt, bisweilen sogar an den Catwalk der Neoklassik andockt.
Mit einer neutönenden Violinistin und einem Bassisten, der gleichermaßen im Hubschrauber-Metal wie im Dark Ambient komfortabel sitzt, haben sich mit Mia Zabelka & IcosTech zwei Extremist*innen getroffen, die es nicht für nötig befinden, zusammen extremen Lärm zu fabrizieren. Aftershock (Subcontinental Records, 5. März) ist, wie der Name schon suggeriert, eher das Nachbeben des großen Ausbruchs, noch einmal kurz durchgerüttelt mit den Mitteln nordischen Düstertechnos. Die Aufräumarbeiten können beginnen.
Was sich mit der E-Gitarre, genug Pedalen und einem Computer so anstellen lässt, ist immer wieder erfreulich und erstaunlich, eine gewisse Abenteuerlust vorausgesetzt. Das kann nicht nur in schönem Country- oder Jazz-Ambient enden, wie oben vorgestellt, die Gitarre kann die dunklen, feuchtkühlen Ecken im Keller schneller anwärmen als jede spontane Covid-Trotz-Party. Die Italienerin Silvia Cignoli jedenfalls gestaltet ihr tolles selbstverlegtes Tape The Wharmerall (The Wharmerall) entlang leicht doomiger Gitarrenarbeit und Industrial-nahem Noise, findet aber im Volumen und Feedback immer zurück zu den heilenden, angenehmen Plätzen.
Der Drone-Improv-Gitarrist Bill Thompson grätscht auf Ocean Into Light (Burning Harpsichord) immer wieder mit teilweise harschem Feedback in den ansonsten eher warm brummenden Flow seiner Drone. Thompson entwickelt seine Stücke entlang von Live-Situationen, auch im Studio. Es geht also um Aufmerksamkeit und Konzentration. So hat selbst der krasseste schmerzende Krach eine sinnvolle Aufgabe im großen Ganzen.
Rutger Hoedemaekers hat in diversen mittelbekannten Amsterdamer und Berliner Indie- und Synthpop-Bands gespielt, den großen Charaktertest hat er in der Studioarbeit neben und mit Jóhann Jóhannsson und später Hildur Guðnadóttir bestanden. Nach einigen Soundtracks (u.a. zu No Mans Land und zur Serie Trapped) ist sein Debüt unter Eigennamen The Age Of Oddities (130701/FatCat, 5. März) eine großartige Hommage an Jóhannsson. Respektbezeugung und Grablied, Eloge und Elegie. Die große, eigentlich unerreichbare Kunst Jóhannssons war es, mit der Schönheit und den Emotionen an das orchestrale Maximum zu gehen, ohne die haarfeine Grenze zum Kitsch zu überschreiten. Hoedemaekers’ melancholisches Requiem bekommt das beinahe ebenso gut hin.
In Schlaflied und Chormusik kommen Pathos und Gefühl ebenso ungezwungen als ätherische Schönheit zusammen. Heuer am schönsten auf dem vierten Album des belgisch-litauischen Ambient-Folk-Projekts Merope, die auf Salos (Granvat/Stroom) einen Kammerchor aus Vilnius eingeladen haben, ihre zarten wie instrumentell sparsamen Interpretationen traditioneller litauischer Volksmusik zu begleiten. Das ergibt ein in Momenten kaum fassbar schönes Album, das auch noch in ein tolles Coverdesign, quasi ein digital gepixeltes Ministeck-Bild, gekleidet ist.