Foto: Frank P. Eckert

Jimmy Tamborello ist ganz schön rumgekommen. Mit der netten Indie-Pop Electronica, die er als Dntel seit den mittleren Neunziger so bastelte, zeigt The Seas Trees See (Morr, 26. März) nur eine – allerdings entscheidende – charakterliche Ähnlichkeit, nämlich dass seine Klänge immer freundlich und entspannt bleiben, von der sonnendurchwirkten Restwärme einer kalifornischen Veranda nach Sonnenuntergang. Davon abgesehen ist er leiser geworden, dabei mehr als zuvor dem Chaos und Zufall zugeneigt, insgesamt einfach seltsamer und eigenartiger, verspielter und verspulter im bestmöglichen Sinn. Tamborello hat einen untrüglichen Sinn für das, was gerade noch genau richtig ist. Den Abgrund, in dem das Weirde zum Fiesen wird, schaut er nie hinab. Das fängt schon damit an, dass das Album mit einer absurd zeitverzögerten, leiernden Coverversion eines A-Capella-Stücks der kalifornischen Outsider-Folk- und Country-Diva Kate Wolf eröffnet. Damit hat er bei mir schon einen dicken Stein im Brett. Und der Rest des Albums ist nicht weniger liebenswert versponnen.

Sowieso ist die Verknüpfung eines Songverständnisses aus Folk und Country mit einer Sensibilität für Sound aus Ambient gerade wieder ein großes Ding. SUSS und Mike Grigoni haben bereits ihren Weg in die Kolumnen der vergangenen Monate gefunden, und einige immer gern gesehene alte Bekannte haben heuer schönes Neues veröffentlicht, das das imaginierte Genre sowohl bedient, ausfüllt und auch erweitert. Etwa Postrock-Veteran Chuck Johnson, der auf The Cinder Grove (Vin Du Select Qualitite/Glitterbeat) die weiten, flächendeckenden Möglichkeiten des Pedal Steel für Ambient noch einmal ausweitet und erforscht. Die horizontale Weite der Prärie, aus der Johnson (nicht) stammt, ist ein Klischee, aber es passt so wunderbar auf die Weite seiner horizontalen Klänge.

Die anglophone Banjo-Ambient-Country-Folk-Szene ist dann tatsächlich eher überschaubar. Ihre Akteur*innen in Australien und Großbritannien sind dennoch nur einen komischen Vogel weit voneinander entfernt. Und wenn sich mit Andrew Tuttle & Padang Food Tigers ihre feinsten Mitglieder den Umständen entsprechend virtuell treffen, ist pure Freude garantiert. Auf A Cassowary Apart (Bedroom Suck) entlocken die Drei dem störrischen Instrument die zartesten Klänge, die feinstmöglichen Texturen. Das blecherne Dengeln entschwindet in himmlische Flächensphären.

Für den Chicagoer Matt Christensen, der in unzähligen Country-inspirierten Projekten zwischen Post-Rock und Jazz spielte, am prominentesten und elektronischsten vermutlich bei Zelienople, sind Gitarre (elektrisch oder akustisch, mit digitalen Effekten oder pur) und hin und wieder auch seine Stimme die wesentlichen Bestandteile. Sein Output ist seit zwei, drei Jahren explodiert, alle zwei Monate eine EP oder LP im Eigenvertrieb; gerne schnell produziert, ohne Politur spontan aufgenommen, aber nie routiniert oder vorhersehbar verbergen sich hier echte Perlen der ambienten Gitarren-Improvisation wie in den vergangenen beiden Monaten das akustische Marquette, das elektrische Returns und das charmant angeduselte King of the Drunk Tank (alle: Matt Christensen Bandcamp).

Ebenfalls aus Chicago, ebenfalls mit der akustischen Gitarre unterwegs sind Cameron Knowler & Eli Winter, deren feines Debüt Anticipation (American Dreams, 12. März) zwar wesentlich ausgearbeiteter, feinpolierter daherkommt als etwa Matt Christensens Spontanimprovisationen, aber keineswegs weniger inspiriert. Folk-Country-Ambient aus dem Geiste des freien Jazz, der in schäbigen Absturz-Bars spielen könnte. Also einer der unmöglichen und dadurch um so realeren Sounds von 2021.

Und nur dass das klar ist: So etwas kann natürlich genauso gut aus dem alten Europa kommen, zum Beispiel aus Paris, wo AJ Kimmel als Departure Street arbeitet. Noir-Jazziger Twang, großzügiger Hall und minimale Effekte auf der Gitarre – fertig ist der perfekte Folk-Ambient auf Everybody’s Leaving (Past Inside the Present / Healing Sound Propagandist).

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