Credit: Rave by Rick Doble

Noch hält die COVID-19-Pandemie weite Teile der Welt fest in ihrem Griff und macht einen regulären Clubbetrieb unmöglich. Wie aber wird die erste Nacht danach? In seiner Kolumne konkrit nimmt uns Kristoffer Cornils in einer Märznacht des Jahres 2022 in die Berliner Clubszene mit.

Irgendwann waren sie plötzlich auf dem Markt: die ersten Impfstoffe. Für viele kamen sie jedoch zu spät. In den knapp zweieinhalb Jahren seit den ersten registrierten Fällen in der chinesischen Stadt Wuhan hatte die COVID-19-Pandemie Millionen von Opfern gefordert. Durchaus nicht überall, denn in weiten Teilen des afrikanischen Kontinents, in Ost- und Südostasien konnte der reguläre Alltag nach der erfolgreichen Eindämmung der Pandemie wieder seinen geregelten Lauf nehmen. Mit dem Impfstoff Resoprozil wurde allerdings im Spätherbst des Jahres 2021 ein vielversprechendes Medikament auf den Markt gebracht, das die langfristige Impfung vor SARS-CoV-2 ermöglichte. Ein medizinisches Wunder – alle anderen Impfstoffe zuvor hatten lediglich die Symptome der Krankheit mildern und ihre Verbreitung somit partiell eindämmen können.

Das Medikament ermöglichte so auch die Wiederaufnahme eines Clubbetriebs, wie es ihn in diesen Breitengraden seit ziemlich genau zwei Jahren nicht mehr gegeben hatte. In einer kalt-klammen Märznacht öffnen die Clubs in Berlin im Jahr 2022 endlich wieder uneingeschränkt ihre Pforten. 

John

Das Koks kickt. Johns Pupillen weiten sich, das Ego tut es ihnen nach. Es ist ein gutes Gefühl, ein geiles Gefühl, endlich wieder einen Club betreten können. Nicht mehr draußen unter freiem Himmel, sondern sich mitten im Trockeneisnebel, im Schweiß, im Exzess zu befinden. Die illegalen Open-Airs außerhalb des Stadtgebiets, die privaten Partys in gemieteten Lofts während der kalten Monate – all das war schön gewesen, aber eben auch nur Restnormalität in kleinen Dosen. Heute Abend aber, das ist der real deal. Auch wenn zuerst alles anders scheint als zuvor. Obwohl John nicht wie sonst, oder besser gesagt wie damals, auf der Gästeliste steht. Die 80€ Eintritt scheren ihn aber nicht, Geld spielt keine Rolle. Nicht heute, nicht irgendwann sonst. 

Die Immobiliengeschäfte seines Vaters sind im Laufe der Pandemie nur umso profitabler geworden. Während andere spätestens zum Beginn der großen Depression im Frühjahr 2021 ihr Kapital aus der Stadt abzogen, weil der katastrophale Verlauf der Pandemie seine Spuren auf dem Arbeits- und deshalb auch Wohnungsmarkt hinterließ, blieb sein Dad am Zug und kaufte eine Wohnung nach der nächsten auf. Wer nicht im völlig überlasteten Gesundheitssystem verreckte oder schlagartig verarmte, floh. Die Reichen nach Brandenburg, die Millennials und Zoomers zurück zu ihren Eltern – nach Stuttgart, nach Barcelona oder nach Mailand. Die Vermieter*innen bekamen kalte Füße und Johns Dad eine Gelegenheit nach der anderen, sein Portfolio zu erweitern. Billig einkaufen, teuer abstoßen: eine alte Faustregel, die selbst unter den neuen Bedingungen ihre Gültigkeit behalten hatte. Das sei auch alles, was der Sohn in den vergangenen drei Jahren gelernt hatte, hatte der Vater bei ihrem letzten Kamingespräch mit einem Lacher gesagt. Und obwohl es schon richtig war, obwohl John nach zehn Semestern Betriebswirtschaftslehre an der Privatuniversität nebenan immer noch nicht seinen Bachelor hat: 

Jetzt jedoch steht er hier, schaut sich um und begreift sofort, dass dieser Abend ein historischer ist. Dass die Clubszene wieder das Leben und damit das Geld in die Stadt bringen wird. Und dass er, wenn sein Vater ihm erst einmal eine Anstellung gegeben hat, nur die Kasse aufmachen muss, damit es herein fließen kann wie der Cuba Libre die Speiseröhre hinunter. Er nimmt einen großen Schluck, atmet aus und spürt seinen Körper vor Elektrizität zittern. Alle um ihn herum sind schön, sexy, einfach besser. Aber niemand kann ihm das Wasser reichen. Das hier ist seine Party und die Musik stimmt. In der Booth lässt die DJ gerade die ersten Synthie-Töne von „Overdrive Healing” aus dem Mix aufsteigen. Es war der Hit der letzten Sommersaison; zumindest dort, wo eine Saison möglich war. Johns Kopf ist wie leer, um ihn herum blitzt es. Er fühlt, wie seine Beine schwerelos werden. Die Faust strebt nach oben. Rave.

Kim

Von der Booth aus schaut Kim auf den Typen im weißen Nadelstreifenhemd, dessen Gesicht sich verzieht. Er reißt den Arm hoch, grölt. Sie weiß, was Sache ist – ausnahmsweise aber freut es sie. Viel zu lange hat sie nur auf großen Privatfeiern in saudi-arabischen Luxusressorts oder in Clubs vor der ostasiatischen Oberschicht aufgelegt. Ankommen, Moët mit superreichen Mittfünfzigern trinken, zwei Stunden Programm, Schaumbad im Fünf-Sterne-Hotel, schlafen, Flughafen. Jetzt ist sie endlich wieder dort, wo alles begann, im Epizentrum des Vibes. Hier, wo die Partys nie ein Ende zu nehmen schienen. Sicherlich, das Publikum ist ein anderes als damals. Die Klamotten sind teurer, die Stimmung nicht dieselbe. Noch nicht. Aber es wird nicht lang dauern, bis der Spirit wieder da ist und die Partys bis zum Montagmittag gehen. Heute noch ist um vier Uhr Sperrstunde. Die Regierung traut sich nicht, den Betrieb wie damals laufen zu lassen. Die Peak Time fällt deshalb auf Mitternacht, danach aber wird es weitergehen. Sie wird sich in ein Taxi schwingen und zu einem Privatclub in Mitte fahren, auf dessen beheizter Dachterrasse mit wenigen geladenen Gästen weitergefeiert wird, bis die Polizei kommt. Endlich wieder zwei Gigs in einer Nacht statt nur pro Monat. 

Kim hatte Glück gehabt, konnte vor der Pandemie ihre Schäfchen ins Trockene bringen – ihrem Investmentberater sei Dank. Sie weiß nicht einmal mehr genau, an welchem Tech-Konzernen sie aktuell wie viele Anteile hat, aber das spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass Musik jetzt wieder zum Hauptgeschäft werden kann. Als überhaupt keine Bookings anstanden, hatte sie sich darauf verlegt, Merch zu produzieren. Auf eine provisorisch zusammengeschmissene Kollektion folgten weitere, nebenbei erschienen auf ihrem Label noch einige Releases. Kein Dancefloor-Material im engeren Sinne, sondern Songs mit House-Beats drunter und hier oder dort sogar ein Ambient- oder IDM-Release. Der Bedarf nach Techno und House war abgeklungen, die Leute brauchten anderen Stoff. „Lockdown-Prozac” nennt ihr Labelmanager das gerne. Nun aber ist wieder Aufputschmittel angesagt. Als die verzahnten Melodien von „Overdrive Healing” zum Crescendo anschwellen, loopt sie zwei Takte, lässt den Blick über die Menge streifen. Zehn Sekunden, vierzig. Dem Nadelstreifentypen rinnt bereits der Schweiß von der Stirn, irgendwer schwenkt eine Flasche Champagner vor der Booth. Sie hält kurz inne und zieht dann mit einem theatralischen Ruck ihres Arms den Bass rein. Der Dancefloor explodiert, die Flasche zerschellt am Boden. Sie lächelt, dreht sich zur Seite um, wo die Nightmanagerin des Clubs steht. Ihr Gesichtsausdruck ist schwer zu entschlüsseln – angespannt wirkt sie, und doch abwesend.

Carla

Auch Carla hatte Glück gehabt. Ende 2019 konnte sie nach langen Jahren, in denen sie als Bookerin auf Rechnung gearbeitet hatte, einen Vertrag bei einem der beliebtesten Clubs der Stadt unterschreiben. Nach Pandemiebeginn ging sie in Kurzarbeit und konnte das erste Jahr überstehen, während viele ihrer Bekannten aus der Szene sich in den ersten Monaten von einer Finanzspritze für Solo-Selbstständige zur nächsten hangelten oder, wenn sie nur als Minijobber*innen beschäftigt waren, gleich einen neuen Job suchten. Nur wenige von ihnen wurden fündig, die meisten hatten schließlich ihr halbes Leben in der Szene oder der Gastronomie verbracht. Kein Lebenslauf, mit denen ein Quereinstieg ohne Weiteres möglich wäre. Carla aber hatte es geschafft, dabei zu bleiben, auch wenn ihr Vertrag mittlerweile ausgelaufen war. 

Als eine der wenigen Nightmanager*innen der Stadt, die in den vergangenen zwei Jahren tatsächlich ihren Job ausgeübt hatte, war es ein Leichtes für sie gewesen, bei einem der zwanzig verbliebenen Clubs zumindest als Freelancerin unterzukommen. Doch obwohl sie sich glücklich schätzt, es geschafft zu haben, obwohl sie einen Moment wie diesem nach all den Eiertänzen zwischen temporären Lockdowns und Open-Air-Partys mit strengen Hygienekonzepten, später auch experimentellen Indoor-Events mit in Sektoren unterteilten Dancefloors zwei Jahre lang herbeigesehnt hatte: Ganz so wie früher fühlt es sich nicht an. Denn nicht nur bleibt das mulmige Restgefühl – was, wenn der Impfstoff doch eine Schwäche hat, das Virus mutiert ist, alles für die Katz war? –, sondern auch eine gewisse Enttäuschung. Die Clubszene der Stadt war massiv dezimiert worden, als die Stadt ihre Unterstützung einstellte und sich auf die Erhaltung der als essentiell erachteten Branchen konzentrierte. Und diejenigen Clubs, welche diese zwei harten Jahre überstanden hatten, konnten dies nur, weil hinter ihnen die eine oder andere Art von Großkapital stand. Großkapital, wie es Carla nicht mit ihrem Verständnis von Rave vereinbaren kann. 

Der Club, dessen Treiben sie gerade überschaut, steht schließlich wie kein zweiter für den Widerspruch zwischen progressivem Selbstanspruch und buchstäblich konservativer Realpolitik, mit welchem sich die Szene schon bereits vor der Pandemie arrangieren musste. Erst von seinem ursprünglichen Standort vertrieben, siedelte er während der ersten Pandemiemonate auf ein Grundstück über, das von einem Investoren aufgekauft worden war. Eine halbe Milliarde Euro hatte der bis heute dafür investiert, aus dem Gebiet ein Schlaraffenland für Besserverdienende zu machen. Ein Hotelkomplex, Edelrestaurants, zwei große Wohnblöcke, in denen für 25€ pro Quadratmeter micro living angeboten wurde, sogar eine Privatuniversität für Kinder reicher Eltern – derselbe Scheiß also, den sie damals als Erasmus-Studentin in London gesehen hatte, damals nach der ersten großen Finanzkrise dieses jungen Jahrhunderts. Und jetzt steht sie hier, mittendrin in ihren erfüllten Träumen einer wiederauflebenden Clubkultur, und kann sich nicht recht daran erfreuen. Zur Afterhour wird sie nicht in die kleine Kaschemme im Herzen von Kreuzberg düsen, um dort einen Absacker zu trinken und Nachwuchs-DJs zuzuhören, wie das noch vor zwei Jahren ihr wöchentliches Ritual war. Die Bars, die kleinen Clubs: Sie sind verschwunden. 

Ihr Telefon reißt Carla aus ihren Gedanken: Backstage haben sie Essen bestellt. Als sie dem Lieferanten den Hintereingang öffnet, stockt sie kurz. Das Gesicht hat sie schonmal gesehen, in einem früheren Leben.

Hakan

Hakan sieht am Stirnrunzeln Claras, dass sie ihn nicht sofort zuordnen kann. Kein Wunder. Es ist lange her, dass er zuletzt auf einer ihrer Partys gespielt hat. Immerhin, sagt er sich, während er ihr wortlos die zwei Papiertüten in die Hand drückt, fällt der Smalltalk also aus. Als er den Auftrag auf seiner Lieferando-Watch angezeigt bekommen hatte, stockte sein Herz für einen kurzen Moment. Was für eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet er ausgerechnet heute, wo die Clubs wieder ihre Türen öffnen, den verdammten rich kids in ihrer Enklave am Stadtrand ihr Essen auf Rädern anliefern muss. 

Er hatte die ganzen Oberschichtenkids und Pseudo-VIPs schon immer gehasst und sich geschworen, niemals so wie sie zu werden. Musik nur wegen der Musik zu machen, der Menschen und nicht des Ruhmes wegen aufzulegen. Das war damals, als er nach dem Abi nach Berlin zog. Keine Ausbildung, kein Studienplatz, aber ein Herz für Techno, zwei gut bestückte USB-Sticks und ein prall bepackter UDG. Der Job im Second-Hand-Plattenladen bezahlte die Miete für sein WG-Zimmer in Friedrichshain, ab Mitte der Zehnerjahre konnte er sich selbst mit seiner Partyreihe im Keller eines Clubs am Maybachufer als DJ einen Namen machen. Harter, schneller Techno mit Trance- und Gabber-Elementen: Es war der Sound der Stunde, mitgeprägt wurde er von ihm und seiner Clique. Im Jahr 2018 gründeten sie ein Label, mit Erfolg. Zwölf Releases erschienen in kurzer Folge, die jeweils 500 Exemplare der Vinyl-Version waren in der Regel nach zwei Monaten ausverkauft. Bei Spotify und YouTube akkumulierten sich die Plays, auch wenn davon nur wenig bei ihnen und den Artists ankam. Wichtiger war schließlich, dass sie alle gebucht wurden. In Kopenhagen zuerst, dann Tbilisi, schließlich Südamerika. 

Im Januar 2020 hatte er zum ersten Mal in seinem Leben gewusst, wie sich der Rest des Jahres gestalten würde. Ab März 2020 dann aber nicht einmal mehr, wie er im Folgemonat die Miete seines WG-Zimmers bezahlen sollte. Die wenigen Booking-Anfragen für Open-Air-Raves schlug er aus – er ist Asthmatiker, seine Freundin Diabetikerin. Risikogruppen, über die in Deutschland so gut wie nie gesprochen wurde. Nichtstun und Vorsicht waren geboten, während die Zahlen nach dem Jojo-Prinzip alle paar Monate herunter- und dann wieder hochschnellten. Sie konnte von zu Hause arbeiten, er war zum Nichtstun verdammt. 

Eine Weile halfen die Finanzspritzen für Solo-Selbstständige, dann die Kredite der Landesbank. Doch irgendwann wurden die Intervalle zwischen den Hilfspaketen größer, häuften sich die Zinsen. Hakan war nicht dumm. Ab Anfang 2021 hatte er mit angesehen, was in Großbritannien passierte. Reihenweise verschwanden die Posts von DJs aus seiner Timeline, immer weniger Produzent*innen veröffentlichten zu den Terminen des bis Ende 2022 laufenden Bandcamp Fridays noch mehr Musik, und nachdem sich einige kleinere Labels schweigend verabschiedeten, fielen bald die großen wie Kartenhäuser in sich zusammen. Die meisten aus der Szene hatten umgeschult, griffen im Strudel der Ereignisse nach dem nächstbesten Strohhalm. Er also auch. 

Dass er irgendwann mal lauwarmes Curry durch die Gegend fahren würde, hätte er nicht gedacht. Dass Lieferando fast die gesamte Restaurantszene Berlins aufkaufen und in Franchises umwandeln würde, auch nicht. Aber hier ist er jetzt, das ist sein Leben. Und schon wieder blinkt die Watch auf: Eine Ladung Falafel will abgeholt und ans nächste Ziel verfrachtet werden. Die Adresse kommt ihm bekannt vor. Nach wenigen Sekunden fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Diesmal wird er den Smalltalk nicht vermeiden können.

Ignacio

Die Schläfen pochen, das Piepsen im Innenohr scheint lauter als zuvor. Ignacio versucht sich zu konzentrieren, sich an seine Meditationsübungen zu erinnern. Er hat immer geglaubt, dass der Geist über den Körper triumphieren kann; immer gewusst, dass er, wenn er 40-Stunden-Raves und Wochenenden ohne Schlaf im EasyJetSet durch die Welt durchhält, schon noch jedes andere Wehwechen mit der Kraft seines Verstandes besiegen kann. Der Tinnitus aber widerspricht, und zwar lautstark. Vor seinen Augen verschwimmt das Projekt, an dem er arbeitet. Das, was aus den Studiomonitoren dringt, erreicht ihn nicht. Es ist Zeit für eine Pause. Er nimmt sich eine Zigarette aus der Schachtel neben dem Controller und verlässt den Raum. 

Draußen vor der Tür des Studiokomplexes ist es kalt, endlich jedoch herrscht dort wieder Leben. Über die letzten drei Jahre war hier recht wenig los gewesen. Der imposante Gebäudekomplex aus DDR-Zeiten diente als Veranstaltungsort, seitdem ihn vor einem halben Jahrzehnt ein Investorenduo aufgekauft hatte. Heute findet zum ersten Mal seit März 2020 ein Konzert im großen Saal statt, die Live-Premiere eines Netflix-Soundtracks. Der Komponist, ein unscheinbarer Pianist, hat auch sein Studio hier, veröffentlicht pro Jahr drei Alben und gut ein halbes Dutzend Soundtracks. Er hat triumphiert. Ignacio entscheidet sich, das als gutes Omen zu werten: Er selbst schraubt gerade an Filmmusik. Techno hat er schon lange nicht mehr produziert, zumindest nicht für sich selbst. Hier und dort gab es ein paar Aufträge als Ghostproducer, zwischendurch wurde er als Engineer für größere Pop-Produktionen gebucht. 

Aber da war ja noch der Tinnitus, mit dem er sich seit Jahren geplagt hatte, und der ab Herbst 2020 an Intensität zunahm. Sein Arzt hatte ihm gesagt, dass es mit COVID-19 zu tun hätte, dass das nicht ungewöhnlich sei und es ihm leid täte. Ignacio hatte ihn ausgelacht. Carajo, was für ein Trottel. Er wusste Bescheid. Als seine abuelita im Mai starb, nachdem ihr Pflegeheim in der Nähe von Valencia vom Personal im Stich gelassen wurde, war das sicherlich traurig. Aber sie war auch alt gewesen. Und sowieso: Vielleicht war sie mit COVID-19 gestorben, sicherlich aber nicht an der Krankheit. Es gab genug echte Expert*innen, die über YouTube und andere Kanäle über den großen Beschiss an der Weltbevölkerung aufgeklärt hatten. 

Den ganzen Sommer über hatte er Gigs gespielt, ob legal oder nicht. Der dritte Summer of Love, hatte eine DJ-Kollegin die Zeit genannt. Raves wurden wieder aufregend, die Crowd feierwütiger. Jeder Gig war ein besonderer, ein spirituelles  und kollektives Erlebnis von Menschen, die sich nicht von einem besseren Schnupfen ins Bockshorn jagen ließen. Das Gefühl, etwas Illegales zu tun, verlieh dem ganzen einen originären Rave-Vibe. Eine gute Kickdrum heilt auch, sagte er damals lachend, wenn ihn jemand davon überzeugen wollte, dass er irgendetwas Falsches täte. Was oft passierte, weil so viele Schiss vor ein paar Viren hatten und sich wie verängstigte Schäfchen nach allem richteten, was ihnen ihre Regierungen auftrugen. Nicht er. Immer noch ist er stolz darauf, dass er sich trotz all der lächerlichen Social-Media-Hetzjagden auf seine Person nicht verbogen hat. 

Und heute? Ist er immer noch im game. Und die gallinas? Fahren jetzt Essen aus, schießt es ihm durch den Kopf, als er Hakan sieht, der ihm mit versteinerter Miene seine bestellten Falafel reicht. Noch so jemand, mit dem er gerne früher B2B aufgelegt hat und der irgendwann zu einem unerträglichen Besserwisser wurde. Ignacio grinst ihn an und beschließt, nach dem Essen das Studio Studio sein zu lassen und sich zur Feier des Tages ein Uber zu rufen. Kim hat ihn für ihren ersten Gig in Berlin auf die Gästeliste geschrieben. Wenn er schon nicht selbst gebucht wurde, sollte er doch zumindest dort vorbeischauen.

Nhi

Nhi versteht die Europäer*innen nicht. Zwei Jahre lang blamieren sie sich mit ihrer Stümperhaftigkeit und jetzt zieht sich das Arschloch auf der Rückbank eine Line von seinem Telefon, als wäre niemals etwas gewesen. Er atmet tief aus und sie weiß schon, was als Nächstes kommt: Er will reden. Wie sie hieße? Vera, sagt sie. Ja, doch, wirklich. Aha, okay, und woher sie denn komme, warum sie hier sei? Aus Vietnam, zum Studieren, lügt sie. Wie ihr die Stadt gefällt? Super, spult sie ihr Programm weiter ab. Jetzt können wir ja alle endlich wieder richtige Freiheit genießen. Sie sagt es absichtlich in gebrochenem Englisch, Betonung auf „freedom!”. Sie weiß, dass der Begriff immer auf fruchtbaren Boden fällt. Und richtig: Der Typ mit der Hahnenkammfrisur grinst verschwörerisch und beginnt einen Monolog darüber, wie viel es davon früher einmal gab und dass es jetzt wieder richtig losginge. Er sei ja selbst DJ gewesen und… Sie müht sich ein Lächeln ab, sie hat diesen Sermon allein heute schon zweimal gehört. Das Gefasel von Typen, die sich für den Nabel der Welt halten, obwohl sie nicht einmal als Zahnrädchen das Getriebe mit am Laufen halten. Sie lässt ihn ein paar Meter vor dem Club heraus und schaut ihm dabei zu, wie er sich feixend an der Schlange entlang drückt. 

Sie beugt sich zu ihrem Telefon über, drückt den Aufnahmeknopf und wispert: „Sie bilden sich dermaßen viel auf ihre kulturelle Fortschrittlichkeit ein, dass sie keinen Gedanken dran verschwenden, in welche Richtung sie eigentlich laufen.” Sie beendet die Aufnahme, lässt die Worte in ihrem Kopf nachhallen. Rund klingt das nicht, aber das wird sich schon am Schreibtisch zurechtrütteln. Noch hat sie zwei Wochen, um die Reportage einzureichen, für die sie aus Ho-Chi-Minh-Stadt herübergeflogen wurde. Den Neustart einer Gesellschaft soll sie dokumentieren. Das aus der Perspektive einer Uber-Fahrerin zu erzählen, war ihre Idee. Die Leute lieben es, sich chauffieren zu lassen, vor allem von einer Asiatin. Der können sie schließlich immer etwas von ihrer „freedom” erzählen in der Annahme, Nhi hätte keinen Begriff von diesem Wort. Und jetzt feiern sie alle, dass sie wieder in Clubs feiern können, als wäre das bei ihr zu Hause mit Ausnahme einiger kritischer Monate nicht immer Teil der Normalität geblieben. 

Nhi checkt die Nachrichten. Der Dow Jones befindet sich schon wieder auf dem tiefsten Punkt seiner Geschichte, der Ho Chi Minh Stock Index weiterhin auf dem Zenit. Wie sich die Dinge doch innerhalb kürzester Zeit ändern können. Das Telefon vibriert und reißt sie aus ihren Gedanken. Der nächste Gast will abgeholt werden, er kommt direkt aus dem Club. Sie mustert sein Profilbild, dreht sich um und da steht er schon, die Hand am Griff der Beifahrertür. „Hi John, I’m Mary”, sagt sie und kann schon an seinem verklärten Blick ablesen, was er ihr gleich erzählen wird.


Dieser Text ist Teil unseres Jahresrückblicks REWIND2020. Alle Artikel findet ihr hier.

Vorheriger ArtikelSepehr: Trackpremiere von „Crown Jewel”
Nächster ArtikelDie Platten der Woche mit Etch, Nikki Nair und Overmono
Kristoffer Cornils war zwischen Herbst 2015 und Ende 2018 Online-Redakteur der GROOVE. Er betreut den wöchentlichen GROOVE Podcast sowie den monatlichen GROOVE Resident Podcast und schreibt die Kolumne konkrit.