Definitiv nicht mehr ganz so Synthese-orthodox agiert die Berlinerin Aimée Portioli, die sich Grand River nennt. Blink A Few Times To Clear Your Eyes (Editions Mego, 4. September) bringt Cutting-Edge-Synthesizer-Avantgarde zwischen dramatisch sirenenhaft opulent und neoklassisch mit minimal wavigem Synthpop auf völlig unproblematische und entspannt lässige Weise zusammen.
Bad Stream Sonic Healing (Antime, 4. September) bedient sich ähnlich wie Twinkle3 den Figuren und der Instrumentierung des halbwegs freien Jazz, macht so mehr als reine Synthesizer-Musik und bleibt doch ganz pur synthetisch.
Sind Ambient und angrenzende Genres die Kopf- oder Bauchschmerzensmusik larmoyanter mitteljunger weißer Männer, hetero und cis, westlicher, vorwiegend europäischer und US-amerikanischer Provenienz? Nun, die Evidenz spricht nicht selten dafür.
Es ist allerdings eine Verallgemeinerung, die nicht den Kern des Problems trifft. Wenn man etwa die Kompilation Exhibition #100 (Audiobulb, 1. September – 4. Oktober) betrachtet, die sich Audiobulb zum 100. Release gegönnt hat, lassen sich die Rahmenbedingungen mit etwas schlechtem Willen so lesen. Die 35 Singles, ein Release pro Tag, ergeben zusammen ein Mega-Best-Of des Labels aus Sheffield im Bereich Glitch-Ambient und IDM-Minimalismus. Das Verständnis von Ambient als Raum- und Umgebungsmusik in den Sounds ist allerdings wesentlich diverser, etwa in der Verwendung extrem hoher Frequenzen bei den japanischen Künstler*innen. Und doch klingen sie im Zusammenhang der Kompilation nicht deplaziert oder exotisch. Repräsentation und Identität innerhalb von Sound bleibt also schwierig. Schönheit und Ästhetik können das eventuell ausgleichen.
Ich möchte behaupten: ja. Zum Beispiel dann, wenn der Sachverhalt explizit thematisiert wird. Wie bei Taylor Deupree und Federico Durand, den beiden alten Männern des Glitch-Ambient, die sich als This Valley of Old Mountains zusammengefunden haben, um eine vorgestellte Wurzelmusik eines unbekannten Landes zu machen. Ein subtropisches Inselreich, das definitiv irgendwo in der Nähe von Ambient-Japan liegt. Weil sie auf This Valley of Old Mountains (12K) den Aspekt des Imaginären von Identität betonen, weil sie bekanntlich zu genuiner Schönheit fähig sind (wie übrigens nicht wenige Beiträge von Exhibition #100), möchte ich sie explizit von oben gestellter Frage freistellen.
Was aber, wenn eine Compilation, die sich zum Ziel genommen hat, eine sehr kleine, lokal konzentrierte Szene zu repräsentieren, doch diverser und größer erscheint und sowohl musikalisch als auch sonst differenzierter wirkt? Das von ZULI und Rama zusammengestellte Did You Mean: Irish? (Irsh, 25. September) stellt das Label irsh aus Kairo, Ägypten vor. Mit Acts aus der (gefühlten) Nachbarschaft, einigen bereits bekannten Namen wie Kareem Lotfy, 3Phaz oder Abdullah Miniawy und ebenso vielen internationalen Newcomer*innen, die lokal durchaus prominent sein dürften. Spezifisch der arabischen Musiktradition zuordnen lässt sich hier allenfalls der metallische Sound der hiesigen Percussion, der so gar nicht nach Sheffield-Steel-Industrial klingt, sondern zu einer avancierten wie gut tanzbaren Post-Club-Elektronik mutiert.
Es ist definitiv keine Regel, aber eben oft genug wahr, dass Musiker*innen, die vom Rand der Mainstream-Wahrnehmung aus operieren, oftmals die interessanteren Arbeiten machen, selbst wenn sie ihren Außenseiterstatus nicht explizit thematisieren. Wie passt es dann zusammen, dass der junge afrikanische Produzent Joseph Kamaru alias KMRU auf Peel (Editions Mego) einen Sound fabriziert, der dem von Celer zum Verwechseln ähnlich scheint? Macht es einen Unterschied, wenn ein junger Produzent aus Kenia einen oberflächlich ähnlich warmen Drone-Ambient mit einer ähnlichen Arbeitsweise (verrauschte Tape-Ästhetik, Synthesizer-Loops, zu Flächen gefilterte Field Recordings) fabriziert wie der in Japan lebende USA-Expat Will Long? Definitiv tut es das, denn die Erfahrung, die in die Produktionen eingeht, könnte kaum unterschiedlicher sein. Es ist der Vorsatz, den innersten Geheimnissen statischer, sich kaum verändernder Soundwellen bis ins Subtilste nachzuhören, der beiden Akteuren gemein ist. Jenseits ihrer so verschiedenen Biografien. Und dazu braucht es jeweils ein immenses Maß an Selbstbewusstsein und Stärke. Will Long hat übrigens seine jüngsten Celer-Tapes und One-Offs wie etwa Optimism is the Killer (Two Acorns) digital als Name Your Price verfügbar gemacht.