Woche für Woche füllen sich die Crates mit neuen Platten. Da die Übersicht behalten zu wollen, wird zum Fulltime-Job. Ein Glück, dass unser Fulltime-Job die Musik ist. Zum Ende jedes Monats stellt die Groove-Redaktion Alben der vergangenen vier Wochen vor, die unserer Meinung nach relevant waren. Im ersten Teil des Januar-Rückblicks mit Aril Brikha, Legowelt, Men With Secrets und fünf weiteren Künstler*innen – wie immer in alphabetischer Reihenfolge. Hier geht’s zum zweiten Teil unter anderem mit Mr. G, Phase Fatale und Legowelt.

Andras – Joyful (Beats In Space)

Andras – Joyful (Beats In Space)

Es gibt auch positive Nachrichten aus Australien. Das von Tim Sweeney kuratierte New Yorker Label Beats In Space veröffentlicht dieser Tage das Debüt des in Melbourne lebenden Teenagers Andrew Wilson. Es heißt Joyful und es klingt joyful. Unter dem Künstlernamen Andras vermischt Andrew Wilson sein Faible für die im Acid House der frühen Neunziger gebräuchlichen hüpfenden Basslines mit atmosphärischen Melodien. Kolportierten Aussagen zufolge finden sich in seiner Schallplattensammlung die Musik von Ian Van Dahl neben der von John Fahey und William Orbit neben Shira Small. Eine echt krude Mischung – und in diesen 36 Minuten auch nicht eins zu eins nachzuvollziehen. Vielleicht sind Ähnlichkeiten zu William Orbits Reworks von Madonnas Ray Of Light feststellbar. Ansonsten erinnern die sieben Tracks in Sound und Habitus zuerst an die Arbeiten von Jimmy Tamborello als James Figurine oder Dntel. Auch Caribou, Looper oder sein Landsmann Clue To Kalo kommen einem in den Sinn. Zudem hat Joyful einen so lebensbejahenden Grundton, wie ihn nur der Welten versetzende Optimismus eines unter Zwanzigjährigen hervorbringen kann. So verwundert es dann auch nicht, dass Teile des Erlöses an den Invasive Species Council in Australien fließen. #FolktronicaForFuture. Sebastian Hinz

Aril Brikha – Dance of a Trillion Stars (Mule Musiq)

Aril Brikha – Dance of a Trillion Stars (Mule Musiq)

Transmat, Peacefrog, Kompakt: Schon zu Beginn seiner Karriere um die Jahrtausendwende hatte Aril Brikha so ziemlich alle legendären Labels abgehakt. Zu Beginn des letzten Jahrzehnts orientierte er sich dann um und belieferte zwischen den Jahren 2010 und 2013 erst sein eigenes Imprint Art Of Vengeance mit Material, bevor er schließlich bei der japanischen Institution Mule Musiq anheuerte. Auch wenn die Grooves in mehr als zwei Dekaden etwas weniger fordernd geworden sind, zeigte schon die letztjährige EP Pattern Recognition des vormals in Stockholm und mittlerweile in Berlin lebenden Assyrers, dass er sein Funkverständnis im Techno-Bereich nicht abgelegt hat. Dance of a Trillion Stars ist erst seine dritte LP insgesamt und verzichtet weitgehend auf Kickdrums. Ganz im Sinne der für ihn prägenden Detroit- und UK-Einflüsse widmen sich die acht Stücke eher weitschweifigen Electronica-Sounds, die in der Tradition von Produzent*innen wie John Beltran oder B12 stehen. So weit, so viel music for armchair traveling. Was Brikhas Ansatz indes besonders macht, sind die feinen rhythmischen Impulse, die seinen Ambient-Exkursen eine schwebende Dynamik verleihen – ein Track wie „Thru My Sober Eyes” erinnert dann auch gleich an eine abgespeckte Version dessen, was Barker zuletzt mit einer EP und seinem Album Utility auf Ostgut Ton in Perfektion durchexerzierte. Und nachdem Dance of a Trillion Stars mit „Everything Was Here First” und „She’s My Everything” mit seinem pumpenden Groove in der zweiten Hälfte dann doch in Richtung Floor kugelt, steht endgültig fest: Dieses Album ist als Warm-Up-Set konzipiert, hebt langsam aber stetig das Energie-Level an. Kristoffer Cornils

Bufiman – Albumsi (Dekmantel)

Bufiman - Albumsi (Dekmantel)

Ob als Wolf Müller, Bufiman oder unter seinem bürgerlichen Namen Jan Schulte, der Düsseldorfer Producer ist für einige der aufregendsten Platten der vergangenen fünf Jahre verantwortlich. Albumsi ist sein Debütalbum als Bufiman und bereits bei Erscheinen ein Fall für die Abteilung Future Classics. Die zehn tendenziell eher epischen als radioformatkurzen Nummern schwanken zwischen den knapp sechs Minuten des Auftakts „Galaxy” und des letzten Tracks „Rave The Forest”, die auch als inhaltliche Klammer die Pole des hier ausgebreiteten Universums zwischen frühem HipHop, New Age und Proto House markieren, und den dreizehneinhalb Minuten des Acid-Tracks „Pantasy”. Sie klingen, als hätten Quiet Village ein Italo Disco-Balearic-Album in den Compass Point Studios ausgenommen. Durchflutet von einer unwiderstehlichen Synthese aus suchtstoffhaltigen Vintagebeats und organischen Percussion-Drumsounds zitiert sich Schulte vornehmlich durch die Dancefloors der 80er-Jahre, aber so geschickt, dass stets etwas Eigenes entsteht, das sich souverän aus der Abhängigkeit vom Original befreit. So hallt in „Sara Sara” ein Echo von Supermax’ „Love Machine” wider, während im bereits erwähnten „Pantasy” Yello anklingt. Manch Vogelstimme ist zu vernehmen, auch an Reminiszenzen an Genreklassiker wie Manuel Göttschings E2-E4 mangelt es nicht. Trotzdem verfügt Schulte über ein Maß an Originalität, das auch viele Künstler, die weniger Sample-basiert arbeiten, nur selten erreichen. Oft genug wirkt Albumsi wie ein Soundtrack zu Claude Lévi-Strauss’ anthropologischem Jahrhundertwerk Traurige Tropen. Auch Balearic-Liebhaber, die sich nur einen Longplayer pro Jahr zulegen möchten, sollten die Anschaffung von Albumsi erwägen. Harry Schmidt

E.R.P. – Exomoon (Forgotten Future)

ERP – Exomoon (Forgotten Future)

Startet Gerard Hanson die Triebwerke, heißt es einsteigen, anschnallen und sich mit ordentlich Bumms von der Erde verabschieden. Für Hanson, der seit den Neunzigern als E.R.P. und Convextion abwechselnd in Electro- und Dub-Techno-Sphären seine Kreise zieht, zeigt die Mission in Richtung Zukunft – und damit in eine Zeit, in der sich die Menschen bereits die Köpfe eingeschlagen haben. Exomoon diagnostiziert der Vergangenheit also genügend Metastasen im Oberstübchen, dass einem beim Gedanken an ein Leben auf dem Mars keine Gegenargumente mehr einfallen. Auch egal, Kartoffeln schmecken eh zu allem. Den Soundtrack für die Reise liefert Hanson außerdem mit Electro, dem die kleinen Zehen wegen der moralischen Kälte schon vor ein paar Jahren abgefroren sind. Wo Drexciya zuerst nach Atlantis abtauchten, überspringt der in Dallas lebende Produzent das Planschen bei Poseidon und steuert sein Model 500 auf direktem Weg in die Umlaufbahn des Saturns. Heißt: Man umschippert das Teil zwei oder dreimal, nimmt ein paar Videos auf und postet die Dinger unter dem Hashtag #SpaceIsThePlace bei TikTok. Geile Sache, hätte sich Sun Ra nicht aus dem Jenseits eingeschaltet und die Solar-Antenne neu ausgerichtet. Das Teil blendet Hanson im Cockpit, er verzieht den Steuerknüppel – und crasht das Shuttle ins intergalaktische Cybotron. Immerhin: Die Platte hat’s überstanden. Wenn jemand nachfragt: Das ist der Sound aus der Vergangenheit, der in der Zukunft noch immer funktioniert! Christoph Benkeser

HSXCHCXCXHS – AÅÄ (Rösten)

HSXCHCXCXHS – AÅÄ (Rösten)

Ok, ganz ruhig. Tief durchatmen. Nachdem sie mit Linear S Decoded wahrscheinlich mit Links die durchdachteste Synthese aus Ambient-, Dub- und Industrial-Techno der 2010er produzierten, anschließend dann noch mal zwei Ausnahme-Alben und vier EPs hinterherdrückten, haben die beiden Schweden mit dem maximal frikativen Namen jetzt das Vokaldreieck für sich entdeckt. AÅÄ ist wie alle ihre vorigen Arbeiten durch vielgliedrige Beatsequenzen und eine virtuose Produktion geprägt, verschiebt den Fokus nun aber stärker denn je auf surreal modulierte Sprachsamples aus der Zwischenwelt. Techno mit Gesang? Nicht im Geringsten. Es sind viel mehr besessene Iterationen von „HEM” „AOO”, „AOE” „UEA” oder eines simplen „AAA”, die im Schriftbild kaum bis gar nicht dargestellt werden können und im Verlauf dieses Albums eine zunehmend geisterhafte Dringlichkeit beschwören. Die Stimmung: Einerseits angespannt, andererseits kathartisch. Was auf AÅÄ erst anflutet, kreiselt rückwärts wieder davon und verschwindet kurz vor dem Aufprall in azurblauem Rauschen. Dass der Techno von SHXCXCHCXSH seit jeher eine kryptische Linguistik verfolgt, schien bereits auf den ersten EPs von 2012 offenbar und wurde immer wieder durch Tracks und deren Titel untermalt. Doch was das Duo nun als HSXCHCXCXHS abzieht, ähnelt schon fast einem Beat-getriebenen Gebetszyklus, einer Sammlung dämonischer Mantras, unter Datura-Einfluss aus dem späten Mittelalter gechannelt und in acht hypermodernen Cuts festgehalten. Für dieses entrückte Sounddesign, das sich nicht weniger um Tanzbarkeit scheren könnte, bedarf es zwar der richtigen Stimmung. Erst mal dekodiert, entfesseln aber quasi undurchdringliche Texturen in jedem einzelnen Track eine komplett eigentümliche Faszination und demonstrieren die Lust dieses Projekts, die etablierte Techno-Signatur ein ums andere Mal durch neue Metamorphosen zu zwingen. Was zu beweisen war: Die Typen sind sämtlichen Mitstreitern im Bereich dekonstruierten Technos nach wie vor mindestens vier Schritte voraus. Nils Schlechtriemen

Jorge Caiado – Time & Space (Groovement)

Jorge Caiado – Time & Space (Groovement)

Das Cover des Albums Time & Space auf dem Groovement-Label aus Lissabon erinnert an brasilianische und afrofuturistische Fusion-Scheiben der 70er- und 80er-Jahre. Es zeigt eine Parabolantenne auf einem Betondach mit einer Art Schiffsreling als Geländer, dahinter Wald und darüber blauer Himmel. Jazzfunk-Futurismus, ein Klassiker! Aus dieser musikalischen Ecke kommen sicherlich auch die hübschen, leicht schwebenden und jazzig wischenden Besen auf der Hi-Hat, die swingenden Latin-Shaker und die ausgiebige Verwendung des Fender Rhodes Pianos in jedem Track, die zu statisch im Reverb-Panning klingen und deshalb irgendwie nach Emulation. Zu statisch passt auch zu den 808-Clap-Samples, den New Yorker Strictly Rhythm-Snare-Rimshots, die ein paar Jahre später auch im Westlondoner Brokenbeats-Kontext auftauchten. Das ist nicht gerade die psychedelische Qualität des originalen Fender Rhodes-Klangs, einer analogen TR-808 und von Sample-Tracks der 90er-Jahre an der Schnittstelle von Fusion, Latin Jazz, Garage House oder Breakbeats. Die Titelnamen und das Conga-Getrommel lassen sich ebenfalls in die bereits beschriebene Richtung lesen. Begriffe wie Dexter Wansel, jazzy Deep House, Azimuth, Rainer Trüby Trio, Root Down, SABA MPS, ECM Records oder Lounge schwirren einem durch den Kopf. Als hätte man ein Zeitreise-Ticket ins Jahr 1998 mit Michael Reinboths Münchner Compost Records gelöst. Defender Records aus London haben 1997 auch diese Art Sound produziert. Wer eigentlich nicht? Ganz Wien, Versatile in Paris, Jazzanova oder Sonar Kollektiv in Berlin und sogar Dixon hat eine Zeit lang in der Gegend gewildert. Als er noch seinen Frühstückskaffee auf der Kastanienallee hatte. Nach dem dreimaligen Durchhören von Jorge Caiados Album klingt jeder Track absurd gleich – sehr beruhigend? Mirko Hecktor

Legowelt – Secrets After Dreams (Mystic & Quantum)

Legowelt – Secrets After Dreams (Mystic & Quantum)

Danny Wolfers steuert den ersten Part zur Spellweaver-Serie für Victor Ramos’ Mystic & Quantum bei. Seit der Gründung im Jahr 2013 vertritt das spanische Label eher weniger prominente Namen wie San Laurentino, Francis Juno oder Elektrobopacek, tut sich dabei aber stets als recht stilsicherer Hafen für nostalgische Synthesizermusik mit Hang zu Sci-Fi-Themen hervor. Es war also eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis der erste Legowelt-Release hier hofiert wird, zumal sich Wolfers und Ramos schon länger kennen. Darüber hinaus kultiviert der Mann aus Den Haag genau diese Ästhetik seit nun mehr als fünfzehn Jahren und hat zwischenzeitlich im Rahmen von Projekten wie Occult Orientated Crime, Smackos oder Nomad Ninja das, was progressive Elektronik diesseits der Achtziger alles sein kann, fast im Alleingang neu definiert. Secrets After Dreams steht dementsprechend in der Tradition dieser und vieler anderer Pseudonyme von Wolfers – Twilight Moose, Sammy Osmo, Saab Knutson, Bontempi 666, um nur einige zu nennen. Schummrig wie der Soundtrack eines sauber programmierten Amiga-Adventures, das besonders abends bei Dämmerlicht seine volle Sogwirkung entfaltet, sind das einleitende „Once At The In & Out Burger Academy” oder „Oberheim Blockade Runner” Zeugnisse der Skills, die Wolfers mit seinem mittlerweile hunderte Geräte umfassenden Synthese-Arsenal entwickelt hat. Diesem zollt er gerne immer wieder Tribut. So auch dem ersten Sampler-Keyboard von Sequential Circuits aus dem Jahre 1985, das in „Prophet 2000 A Powerful 12 Bit Sampler” einen kurzen, aber eindrücklichen Beweis seiner Möglichkeiten erbringen darf. Zwar markiert das über neunminütige „Don’t Let Your Life Go By On Automatic Pilot” durch seine Länge und die aufwendige Sequenzierung den Höhepunkt dieser Platte und erinnert nicht selten an Pete Namlook, doch sind auch die verträumt minimalistischen Loops im abschließenden „Vesper Sprites” für das langsame Wegdriften nach einer langen Nacht gut geeignet. Warum Secrets After Dreams allerdings unter dem Legowelt-Banner und nicht als einer von Wolfers Projektentwürfen für sein Nightwind-Label erscheint, bleibt im Dunkeln. Nils Schlechtriemen

Men With Secrets – Psycho Romance & Other Spooky Ballads (The Bunker New York)

Men With Secrets – Psycho Romance & Other Spooky Ballads (Bunker NY)

Machen wir uns nichts vor, für ein richtig gutes Minimal-Wave-Album muss schon wirklich einiges zusammenkommen. Um mit einem Genre, das mehr als jedes andere von obskuren DIY-Schlafzimmeraufnahmen aus den 80ern und 90ern lebt, in 2020 zu begeistern, ist es mit Tape-Hiss-Romantik auch nicht getan. Bunker NY, Donato Dozzy und seine beiden guten Freunde Lino Monaco und Nicola Buono alias Retina.it sind mit der Veröffentlichung des Longplayers als Men With Secrets also durchaus ein Risiko eingegangen. Die selbsterklärte Hommage an Cabaret Voltaire, Dopplereffekt und The Human League beginnt mit „The Misfortunes Of Virtues” zumindest vielversprechend. Eine nasty Bassline und spooky Synthies lassen schon erahnen, wohin der Weg gehen wird. „Cabaret” hakt dann mit catchy Vocoder-Vocals und heiterem Lo-Fi-Beat gleich weitere Checkboxen einer jeden gelungenen Minimal-Wave-Scheibe ab. Auch „Dramantic” ist stimmungsvoll und solide, die bis ans Limit gezogene Snare pfeffert ordentlich rein. Von den Socken reißt es einen dann aber erst mit dem (viel zu kurzen) „Elle Est Nihiliste”. All die vorangegangen Charakteristika kommen in diesem Track schnell mal auf Steroiden oder Amphetaminen zusammen und werden noch durch Handshaker, die durch geschicktes Panning von links nach rechts wandern, und elegante Synth-Strings ergänzt. Mit „Angelus Novus” folgt dann die obligatorische Dancefloor-Nummer des Albums, deren elektroider Charakter vor allem Fans von DJ Stingray oder Helena Hauff anspricht. Die Sounddesign-Expertise der drei Italiener hört man übrigens besonders in „Ruins on Ruins” heraus, welches das Album beschließt. Prognose: Wenn Veronika Vasicka in plus minus 20 Jahren noch Minimal-Wave-Compilations veröffentlicht, wird sie nicht drum herumkommen, die LP der drei Männer mit Geheimnissen zu würdigen. Andreas Cevatli

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