Stream:  Deena Abdelwahed – Rabbouni (Enyang Ha Remix) 

Das musikalische Import/Export-Business boomt. Weitere lebhafte Evidenz ist die Kollaboration der Südafrikaner DJ Lag & Okzharp, von denen letzterer seit geraumer Zeit in London lebt. Sie überbrücken auf ihrer EP Steam Rooms (Hyperdub) die geografische wie stilistische Distanz zwischen Durban House, Gqom und britischem Hardcore Continuum. Sie treffen sich genau da, wo der kondensierte Schweiß der von der Clubdecke tropft. Und es sollte ebenso klar sein, dass elektronische Musik ohne weiteren kulturellen Austausch genauso frisch und zeitgemäß klingen kann. Sogar, wenn sie sich explizit bei der Vergangenheit bedient. Zum Beispiel James Shaw, der als Sigha typisch Berliner Düstertechno in England etablierte und als Faugust ebenfalls auf den Wellen des „Hardcore Continuum“-Zeitgeistes surfend, mit der extrem detailverliebten und exzellent produzierten EP Parallel Rave Fantasies (Our Circular Sound) die aktuell virulente IDM- und Braindance-Nostalgie befeuert. Michael Stumpf alias Faithful bedient sich auf der digitalen EP Timed Imaginations (Prehistorical Silence) ebenfalls dieses Brennstoffs, schiebt ihn aber noch etwas mehr in Richtung von britischem Breakbeat Kontinuum und Grime mit ebenfalls angenehm altmodischem, aber keineswegs zu abgedroschenem Ergebnis. 

Stream: Faithful – Countyrblessings

Richtig schön altbacken und doch so angenehm zeitgemäß sind die Retro-Sound von Mikko Singh alias Haleiwa aus Stockholm. Cloud Formation (Morr) ist eine supersympathische Melange aus sehr spätem und definitiv nicht minimalistischem Dark Wave und Shoegaze, einen Sound, den gegen Ende der achtziger Jahre schon damals tendenziell zu spät gekommene Bands wie Kitchens of Distinction, Lush oder Ride auf das wunderbarste mit neuem Leben füllen konnten. Haleiwa macht das nochmal dreißig Jahre später mit feinherben Songs dann genauso schön. Genau wie die Wiener Berlinerin Rosa Anschütz. Ihre Debüt EP Rigid (Quiet Love) verschiebt die Koordinaten von Shoegaze und New Wave weg vom Miniminalismus hin zu atmosphärischen Sounds, wie nur die allerwenigsten der neueren Minimal-Wave-Retrobands können oder wollen. Das ist mindestens so toll wie die ungleich hipperen Tropic of Cancer. Das Berliner Duo Mueran Humanos setzt auf eine kaum minimale EBM/Dark Wave-Grundierung noch eine von Industrial geerbte Ästhetik des Krassen, die sich gleichermaßen in der kathartischen Affirmation von Albträumen, psychischen Krankheiten, klinischer Morbidität, diverser Körperflüssigkeiten und allerlei Fetischware gefällt, wie zum Beispiel SPK in ihrer Anfangszeit. Dazu kommen vor allem, aber nicht nur auf der musikalischen Ebene Zitate aus Giallo und frühen Splatterfilmen, von Horror, der mal auf dem Index, später Kult und heute ebenso Kulturerbe ist, wie die zugehörigen krautrockenden Synth-Prog Soundtracks von Goblin, Fabio Frizzi oder Walter Rizzati. Hospital Lullabies (Cinema Paradiso Recordings), Soundtrack zum gleichnamigen, selbstverlegten Experimentalfilm der MH-Hälfte Carmen Burguess, clasht die widerstrebenden Elemente mit großer Ernsthaftigkeit zu einem sehr zeitgemäßen, vollelektronischen Post-Industrial Goth-Pop Sound, der trotz der stilistischen Bricolage-Technik erstaunlich leichtfüßig gegen die Gummizellenwände brettert. Der unmüde Berliner Multimusiker Ghazi Barakat kann dagegen jegliche Nostalgie locker abschütteln und dennoch spannenden Retro-Avantgarde Wave-Pop produzieren, er hat ja quasi alles schon mal gemacht, in den Achtzigern und Neunzigern Garagenrock, Hardcore und augenzwinkernden Lo-Fi-Pop (nicht zuletzt bei den Berliner Übereltern des Genres Stereo Total), in den Noughties Electro-Punk und Digital Hardcore. Dabei bleib sein Zugang zu den Genres immer lässig und underground-affin, wie die digital-experimentelle World Music, die er heute als Pharoah Chromium, Crème de Hassan oder im Duo LaBrecque/Barakat produziert. Sein jüngstes Projekt Abstract Nympho mit der ebenfalls sehr multitalentierten Rahel Preisser kombiniert auf der EP Static (Static Age) einige dieser Vergangenheiten zu zeitlos alt-neuem Avantgarde-Pop in angedunkelter Spätwave Atmosphäre. Mit Texten von Serge Gainsbourg und Hawkwinds Robert Calvert (ohne die jeweilige Musik zu covern) und Komposition von Johannes Brahms und selbstgebackenem. Eine aparte Mischung die Post-Punk Avantgardisten wie die Flying Lizards oder Vivien Goldman würdig hommagiert. 

Stream: Rosa Anschütz – Diopter

Was aktuell als „post“ oder gar „dekonstruierte“ Clubmusik und Post- oder Neo-Industrial für den Hausgebrauch firmiert, ist da natürlich durchaus sehr anschlussfähig und ebenfalls nicht gänzlich ohne Retrophilie zu bekommen. Wie diese allerdings umgesetzt wird, macht den Unterschied. Das vierte Album des Schweizers Samuel Avenberg a.k.a. S S S S arbeitet vorbildlich heraus wie es glücken kann. Die Beats von The Walls, The Corridors, The Baffles (Präsens Editionen)  sind knusprig und brillant produziert, sie klopfen allerdings unrund geloopt, wie von einem alten Industrial Tape gezogen. Die Produktion ist trennscharf und clean und zischelt und rauscht doch wie frühe IDM Elektronik. Wenn das unglückliche und überbeanspruchte Präfix „Post“ seine Berechtigung hat, dann hier. Und weirder geht immer. Der kaputte Post-IDM (oder Post-Digital Hardcore?) von Mike Meegan aus Chicago setzt hier Maßstäbe. Das zweite RXM Reality Tape DEViL WORLD WiDE (Hausu Mountain) lässt keinen Beat auf dem anderen und findet doch immer zu einem seltsamen Anti-Groove. Ebenfalls ganz schön beeindruckend und „Post“ alles mögliche. 

Stream: S S S S – The Walls, The Corridors, The Baffles

Die extreme Reduktion der Mittel und Sounds, die seit vielen Jahren auf stilprägenden Labels wie Raster-Noton stattfindet, wirkt in der Konfrontation mit den immer all ihr Material auf einmal in den Ring werfenden neueren Retro-Entwürfen dann erst mal echt altmodisch. Das Duoprojekt von Kyoka und Lakker-Hälfte Eomac, die sich (nicht?) nach der schwedischen Sixties-Chanson-Sängerin Lena Andersson benannt hat, praktiziert minimalistische IDM-Electronica in Extra-Dry. Söder Mälarstrand (Raster – Artistic Platform) besteht praktisch ausschließlich aus mehr oder minder verzerrten crunchy Beats ohne Beat aus einem Buchla-Analogsynthesizer heraus improvisiert. Dahinter und darüber zwitschern allerhöchstens einmal subtile Field Recordings, aber vor allem Freiraum und Leerstellen. Wenn man den Charakter der Duopartner betrachtet, dann hat der konzeptuelle Wille zum minimalistischen Experiment Kyokas klar Eomacs eher funktional ausgerichtetes Verständnis von elektronischer Musikproduktion überstimmt. Dass die beiden dennoch so gut zusammenarbeiten und ihre kristallenen Sounds organisch zusammenbringen, ist ein kleines Mysterium. Und es geht tatsächlich noch minimalistischer: die SD-Karte Construct (Kasuga) des Projekts MINIM hinter dem die Produzentin/Komponistin Diana Dulgheru aus Bukarest steckt, schafft es in der Tat noch strenger, noch reduktiver, noch sinnentleerter zu arbeiten. Im Gegensatz zu Thomens anderen Projekten wie dem Action Sound Painting Orchestra, welches die Zwischenräume von freier Komposition und gesteuerter Improvisation erforscht, stehen bei MINIM die Zwischenräume im Fokus, und eben nicht mehr die klanglich-kompositorischen Inhalte, die diese Zwischenräume definieren. Purer und klarer kann elektronische Musik nicht werden – und konkreter auch kaum. Bei MINIM wie bei Lena Andersson geht es vor allem anderen um Sound als Gegenstand, als direkt greifbare Entität, was ebenso für den gefriergetrockneten Postrock des Augsburger Duos Schnitt gilt. Das Projekt und das Debütalbum Wand (Alien Transistor) irritiert erst mal mit der ungewöhnlichen Besetzung aus Bassklarinette und einer Vinylschneidemaschine, überzeugt auf längere Frist in der Spannung von Improvisationskunst und glücklichem Zufall, also sowohl gespielten wie den Launen der Schneidemaschine geschuldeten Sounds.

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