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Motherboard: Mai 2023

Wir bauen eine neue Stadt. Aus den Knochen von Techno und EBM. Auferstanden aus den Ruinen von R’n’B und Hyperpop. Das erstaunliche Germ in a Population of Buildings (PAN, 5. Mai), zweites Album von Thessa Torsing alias upsammy, ist eine vielschichtige sonische Reflexion über Urbanität, Gentrifizierung und die Heterotopien temporärer Freiräume. Noch mehr als das ist es aber ein entscheidender Schritt der Amsterdamer Produzentin hin zu einem freien elektronischen Ausdruck, der keine spezifische Referenz, keine Genre-Einhegung wie IDM oder Braindance mehr braucht, um einen Platz, eine Leuchtturm-Position zu behaupten in der Post-Übersichtlichkeit.

Einen Brotkrumen-Pfad in die Post-Unübersichtlichkeit baut sich die in Berlin lebende Italienerin Sara Persico auf ihrer lang gereiften Debüt-EP Boundary (Karlrecords, 10. Februar) aus den Materialien der ehemals produzierenden Welt, wo Industrial, IDM und alte Vokal-Avantgarde in die geplante Obsoleszenz rosten. Recycling als neues Leben, ja, sogar als neue Jugend.

Andere Stadt – Brüssel – andere Unübersichtlichkeit. Es war nicht unbedingt zu erwarten, dass eine der Zukunften der Bass Music ausgerechnet aus Belgiens angenehm verschlafener Hauptstadt kommen würde, in der weitgehend musealisierte Art-Deco- und Jugendstil-Traditionen, brutale Gentrifizierung und Geschichte machende Post-Punk-Avantgarde lange das Stadtbild (und damit das Klangbild) bestimmten.

Aber Sagat (nicht zu verwechseln mit Sagat aus Baltimore, dem Lieferanten des immergrünen Hip-House-Klassikers „Fuk Dat”) hat sich halt mal locker zehn Jahre Zeit gelassen, um abseits jedes Szene- und Veröffentlichungsdrucks sein Albumdebüt Silver Lining (Vlek, 8. Mai) zu perfektionieren – was in einer Stadt wie Brüssel und auf einem lokalen Label wie Vlek offenbar einfach besser geht. Aus Artefakten, die von Dubstep und Knister-Rausch-Techno und Bedroom-R’n’B blieben, baut Viktor Sagat fragil wummernde Soundscapes auf halbgeraden Beats im unteren BPM-Bereich. Auf gewisse Weise löst das Album ein Versprechen ein, das Mitte der Nullerjahre einmal in der Luft lag, in den frühen Arbeiten von Actress, Joy Orbison oder Shackleton, aber mit den Jahren zu etwas ganz anderem, Fremdartigem wurde (bei Sam Shackleton) oder einfach schal und uninspiriert. Bei Sagat hingegen ist es noch ganz frisch.

Die Berlinerin Anna Jordan baut mit ihrem Projekt The Allegorist immense, episch erzählende Fantasy-Universen aus sparsamem Techno und dunkler Electronica. Jede EP, jedes Album, jeder Mix und Remix baut auf den vorherigen auf, verfeinert, erweitert den jetzt schon ungemein beeindruckenden Detailreichtum dieser Welten um neue Geschichten, um neue Protagonist:innen und neue Soundfacetten. TEKHENU (Awaken Chronicles, 21. April) ist daher nicht nur die bisher wohl ausschweifendste dieser digital-elektrischen Long-Storys, sie ist als vorläufiger Endpunkt einer Entwicklung auch die überzeugendste und immersivste. Das sind tatsächlich Sounds und Geschichten, um sich darin zu verlieren, die auf das Allerschönste immer in Bewegung bleiben, nie irgendwo ankommen in einer Landschaft endloser Weite. Ein Open-World-Game, das bitte nie zu Ende gehen möge.

Spencer Doran dürfte noch kein Haushaltsname sein, der unmittelbar ein anerkennendes oder auch nur ein wiedererkennendes Ach Ja hervorruft. Das täuscht allerdings gewaltig. Der US-Amerikaner ist eine Hälfte der tollen Visible Cloaks, Teil der Postrocker RV Paintings und nicht gerade nebenbei einer der global profiliertesten Japan-Ambient-Afficionados und war aus dieser Position heraus Kurator des sehr definitiven Box-Sets Kankyō Ongaku. Solo arbeitet Doran seltener, aber wenn, dann ist das Ergebnis von einer beiläufigen Endgültigkeit, wie es sonst eben nur der allerbeste Japan-Ambient erreichte. Wie auf dem Spiele-Soundtrack SEASON: A letter to the future (Original Soundtrack) (RVNG Intl., 5. Mai), der für sich genommen ein brillantes, tiefendurchdachtes Retro-Ambient-Album darstellt, aber eben genauso viel Lust macht, sich mal von einem offenbar ebenso meditativen, untypischen wie außergewöhnlichen Open-World-Pick-up-and-Collect-Spiel ambient ablenken zu lassen.

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