Illustration: Super Quiet

Nachdem ich im Rewind 2016 zehn erste Katalognummern neuer Labels vorgestellt hatte, bleibe ich auch dieses Jahr beim Thema Erstveröffentlichung(en), nur für das größere Format: Zum Jahresende blicke ich auf 2017 anhand von zehn bemerkenswerter Debütalben zurück. Selbstredend sind die zehn LPs nicht die besten Langspieler – na gut, mein Lieblingsalbum des Jahres ist dabei –, trotzdem stehen sie hier in keiner besonderen Rangfolge. Schlichtweg zehn Debütalben, die aus den beschriebenen Gründen nochmals Erwähnung finden sollten.

Mehr Rückblicke findet ihr hier.

10. Artefakt – Kinship (Delsin)

Das niederländische Duo Artefakt nennt seine Musik „melancholic, hypnotic voodoo music“, und so verkehrt ist das nicht. Was die EPs für Delsin und Field Records bereits eindrucksvoll andeuteten, breitet Kinship in einer aufregenden Extended-Variante weiter aus. Neben einigen Field Recordings setzt Artefakts Sci-Fi-Techno-Approach vor allem Atmosphäre, die sich mit ausschweifenden Texturen und changierenden Sounds zwar sehr gleichmäßig und trotzdem dicht präsentiert. Oder re­fe­ren­ti­ell gesprochen: Kinship verbindet den semi-exzentrisch Techno der Motor City mit den Warps Artificial Intelligence-Sound mit Ambient á la William Basinski. Das deepe Ergebnis ist bei allen Ausschweifungen ein tolles Debüt, weil es sowohl im Club als auch auf der Couch funktioniert.

9. François X – Irregular Passion (Dement3d)

Einen Langspieler von François X konnte man nicht unbedingt erwarten, nachdem der Franzose auf Labels wie Taapion, MDR oder Obscura in den vergangenen Jahren gerne einen Track für Various-EPs beizusteuern. Der Pariser DJ und Produzent sagt über Irregular Passion selbst, sie thematisiere alle Faszinationen des Nachtlebens: “euphoria and melancholy, spotlights or incognito, sexual contact or lonely voyeurism” – und zudem sei es stark von Blade Runner inspiriert. Über eine Stunde hinweg kreiert François X ein atmosphärisch dichtes Album, das sich mit seinen vielen Pads und Effekten nicht nur zwischen die Stühle Ambient und Techno setzt, sondern mit „Under Your Spell“ auch eine poppig-wavige Facette präsentiert.

8. Jasss – Weightless (iDEAL)

Dass Debütalben gerne mal das eigene Künstlern-in-Genreschubladen-Stecken ad absurdum führen können, bewies Weightless von Silvia Jiménez Alvarez. Unter dem Alias Jasss veröffentlichte die Spanierin Techno-EPs mit Industrial- und EBM-Einschlägen auf Mannequin und Anunnaki Cartel, die deutlich Floor-fokussierter daherkamen als ihr erster Langspieler. Weightless offenbart ein größeres Panorama an musikalischer Vision, ist das heutzutage wohl gemeinhin als Experimental Music abgestempelt Album aus Throbbing-Gristle-Industrial, iDEAL-typischer Noise-meets-Jazz-Mentalität sowie technoider Schlieren eine der LP-Überraschung des Jahres.

7. Joachim Spieth – Irradiance (Affin)

Irradiance hat es in diese Liste geschafft, weil es sicherlich eines der eher unterschätzten und vielleicht übersehenen LPs des Jahres ist. Dabei ist nicht das erste Album des Stuttgarter Produzent Joachim Spieth, doch aber sein erstes auf dem eigenen Label Affin. Irradiance ist an sich eine unspektakuläre Angelegenheit, doch darin liegt gerade seine große Stärke: Spieth wandelt zwischen kontemplativem Ambient und Deep-Techno, inklusive den genretypischen Soundscapes-Schichten, mit einer derart handwerklichen Potenz, das Körper und Geist mit perfekter Balance befriedigt werden.

6. Max Loderbauer & Jacek Sienkiewicz – End (Recognition)

End, das gemeinsame Kollaborationsdebüt von Max Loderbauer und Jacek Sienkiewicz, besteht im Kern aus Stücken, die die beiden Sounddesigner bei ihrem gemeinsamen Live-Set auf dem Atonal-Festival 2015 präsentierten. Die neun Stücke kommen nicht nur ohne Groove aus, sondern fügen – in bester Drone-Tradition – Schicht auf Schicht zu diesen meist puristischen Soundscapes zusammen. Die von Tobias. in der Post-Produktion verfeinerte Album ist eine freigeistige, improvisierte Angelegenheit „im erweiterten Resonanzraum der Clubmusik“

5. Pessimist – Pessimist (Blackest Ever Black)

Das selbstbetitelte Debütalbum von Pessimist gehört zu den besten Album des Jahres. Der Kerl hinter dem nihilistischen Alias, Kristian Jabs aus Bristol, gilt gemeinhin als Drum’n’Bass-Produzent. Das ist auch richtig. Und doch geht seine Vision über das Genre hinaus. Ich würde sogar soweit gehen und behaupten, dass Pessimists narrativer Signature-Sound tatsächlich als unique deklariert werden muss. Mir fällt niemand ein, der auf LP-Format die Fusion von Drum’n’Bass und Techno derart de­kon­s­t­ruk­ti­vis­tisch auf ein neues Level heben konnte. Pessimist ist voll mit Hybriden, die sich auch mit Hilfe von Drone und Industrial erbarmungslos dem Primat der Dunkelheit unterwerfen. So entsteht eine Intensität, die bei jedem neuen Stück die Neugier, Spannung und Dramatik konstant hochzuhalten versteht – eine der vielen Prämissen zeitloser Alben, die Pessimist erfüllt.

4. Radio Slave – Feel The Same (Rekids)

Es war ziemliches gutes Jahr für Matt Edwards alias Radio Slave. Ein Beispiel wäre etwa “Another Club”, der im Jahresrückblick von den uns befragten DJs zum besten Track 2017 gewählt wurde. Ein weiterer wäre die erste Radio-Slave-Album Feel The Same, das wohl zu den besseren Techno-LPs des Jahres. Der Rekids-Chef war jetzt zwar noch nie ein Vertreter des Autorentechno, dafür beweist der erfahrene Brite seit einigen Jahren immer wieder, dass er die Rezeptur von Dancefloor-Hits kennt und auch umzusetzen versteht. Das Besondere an Radio Slave ist, dass seine Retro-Nummern irgendwie langsamer altern als das Gros der Dance-Releases. Und genau dieses Gespür für die richtige Halbwertszeit macht ihn zu einem Masters des Fachs.

3. Rod Malmok – Back To Square One (Rod Malmok)

Während der Niederländer Benny Rodrigues in seiner Heimat quasi Ikonen-Status genießt, dürfte er international vor allem durch seine Technoproduktionen als ROD auf Klockworks, Balans oder Figure bekannt sein. Als Rod Malmok erschien 2017 auf dem gleichnamigen Label die erste LP des Mannes aus Rotterdam: Back To Square One ist kein hoch konzeptuelles Album und angenehmerweise auch nicht das für Debüts typische Allerlei mit den obligatorischen Interludes. Stattdessen ist es eine Liebeserklärung an den Groove, an Arpeggios, an Melodien. Zehn Tracks, die sich an den Eigenschaften von Techno ergötzen, die dem Isolationsmus und Bierernst des Genres gegenüberstehen. Und genau dieser Spaß überträgt Back To Square One mit jeder Klang.

2. Sampha – Process (Young Turks)

Der Producer im Hintergrund wagt den Schritt ins Rampenlicht – die Geschichte von Sampha Sisay ist nicht neu. Doch mit seinen Writing-Support und/oder Kollaborationen für Künstler wie Frank Ocean, FKA Twigs, Drake oder Jessie Ware war der 29-jährige Brite nicht unbeteiligt an der Entfaltung des neuzeitigen R’n’B im Allgemeinen und der einen oder anderen Karriere im Speziellen. Nur allzu verständlich, dass sein eigenes LP-Debüt Process genau jenes Instrument in den Vordergrund rückt, das bereits die zwei SBTRKT-Alben veredelte: seine Stimme. Ob zart und still eingebettet in der wundervollen Pianoballade „No One Knows Me Like The Piano“, eine Hommage an seine verstorbene Mutter, oder verzweifelt, fast schon kreischend wie bei „Blood On Me“ – Samphas Songwriting ist äußerst persönlich und weil das Arrangement ebenfalls mithalten kann, wird der Mann aus South London sehr bald in die Riege der großen Popstars aufsteigen.

1. Staffan Linzatti – The Dynamic Dispatch (Field)

Schon seit geraumer Zeit beschwere ich mich gerne über Alben, die länger als 45 Minuten sind – eine Demarkationslinie, weil Überlängen nur in den seltensten Fällen tatsächlich mit einem Mehr an Qualität einhergehen. Nun ist The Dynamic Dispatch, der erste Langspieler des Schweden Staffan Linzatti, mit seinen 20 Tracks doppelt so lang und trotzdem in dieser Liste. Warum? Weil diese Ausnahme bestätigende Regel weniger Listening- denn DJ-Material-LP ist. Hypnotische, meist retro-futuristische Technotracks á la Jeff Mills gibt es in Hülle und Fülle. Dass The Dynamic Dispatch trotzdem mehr ist als lediglich eine Ansammlung von Tools und Loops liegt in erster Linie an den Skills Linzattis seine bisweilen komplexen Konstruktionen genau mit der richtigen Mischung aus Melodie, Abstraktion und Narration zu versehen.

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