Cheers to the Queers: In der „Stadt aus Eisen” Ferropolis feierte die internationale LGBTQI+-Szene beim fünften Whole Festival drei Tage lang ihre radikale Vielfalt. Da bleiben Reibungen und Meinungsverschiedenheiten nicht aus. Trotzdem bleibt das Whole die beste aller möglichen Welten. Unsere Autorin Laura Aha hat sich vor Ort umgesehen.
Das Whole Festival ist eine Utopie im eigentlichen Wortsinn: ein Nicht-Ort, der bislang nur in der Vorstellung existiert. Ein Gegenentwurf zur vorherrschenden Gesellschaftsordnung. Eine alternative Realität, die zu schön erscheint, um wahr zu sein. Vom 28. bis 31. Juli wurde diese Utopie Wirklichkeit: 8000 Queers und Allies kamen auf der Halbinsel Ferropolis in der Nähe von Gräfenhainichen zusammen, um zu feiern, sich miteinander zu verbinden oder einfach nur zu existieren.
Denn das ist auch 2023 noch ein radikaler Akt. In Zeiten, in denen Rockstars auf Bierdosen schießen, nur weil diese Werbung mit einer Transfrau machen. Läden boykottiert werden, weil sie Pride-Flaggen aufhängen. Und auch in Deutschland immer noch darüber diskutiert wird, ob schwule Männer Blut spenden dürfen. Umso euphorischer war die Stimmung in Ferropolis. Trotz schlechter Prognosen meinte es die Wettergöttin gut mit dem Whole am Freitagabend, und so wurde der Fußweg zum Festivalgelände am Ufer des Baggersees im ehemaligen Braunkohleabbaugebiet zum Catwalk verschiedenster Gender-Expressions.
Leather Daddies und eine Meerhexe auf Acid
Bärige Leather Daddies in Harnesses, Twinks in Netzstrumpfhosen und schimmernden Mesh-Oberteilen, Dykes mit Schildkappen und Muskelshirts und Queens mit Fächern und perfektem Make-up – der spielerische Wettbewerb um das beste Outfit, realness der Selbstinszenierung und Perfektion der Performance gehört spätestens seit der Ballroom-Szene der Achtziger und ihren kompetitiven Vogueing Balls zur queeren Underground-Dance culture.
Klar, dass der Freitagabend auf der Performance-Stage direkt mit einer an Ru Paul’s Drag Race angelehnten Talentshow namens Whole’s Got Talent eröffnete. In 90-sekündigen Blitzauftritten zeigten die Kings and Queens vor den Augen einer kritischen Jury, was sie draufhaben: Es wurde im roten Kleid und mit blonder Perücke zu Kylie Minogues aktuell unvermeidbarer Gay-Anthem „Padam Padam” gelipsynchet, zu Beyoncé gevoguet und Puppy Play zu „Who Let the Dogs Out?” performet. Queer joy at its best.
Auch das Booking auf den fünf Hauptbühnen hätte jedem Talentwettbewerb standgehalten. Sedef Adasï brachte den kühlen Baggersee an der Beach Stage am Freitagabend mit ihrer Mischung aus Acid, House-Klassikern und spacigem Disco zum Brodeln. Die Bühne, deren DJ-Booth auf einem Holzpodest im Wasser im Mund der offensichtlich auf Acid trippenden Meerhexe Ursula aus Disneys Arielle, die Meerjungfrau platziert war, war eines der gestalterischen Highlights des Whole.
Ferropolis is Burning
Hier fackelte das Power-Duo aus Cormac und fka.m4a am Samstagabend ein Feuerwerk aus Italo-Disco-Hits, Patrick-Cowley-Ära-San-Francisco-Vibes und längst vergessenen Bangern wie „Let Me Think About It” von Ida Corr und Fedde Le Grand ab. Leider ist Disco einfach kein Open-Air-Sound. See und Wald schluckten einiges an Frequezen und ließen die Energie über die ersten paar Reihen hinweg nicht so recht überspringen. So gut die Trackauswahl und so herrlich es anzuschauen war, wäre das Duo auf der Hauptbühne Arena Stage eventuell besser platziert gewesen.
Dort lieferte Curses am Sonntag den Pornceptual-Signature-Sound aus trancigem Italo, Dark Wave und Achtziger-Hits wie Kim Wildes „Keep Me Hanging On”. Nene H rehabilitierte Pop-Edits, die sich einem langsam formierenden Hass ausgesetzt sehen, mit einer perfekt platzierten Version von Florence and the Machines „You’ve Got The Love”. Und Juliana Huxtable und JASSS trieben die Bühne am Sonntagabend mit trancigem Peak-Time-Techno zu ihrem energetischen Höhepunkt.
Auf dem riesigen Betongelände, wo während des Splash Festivals Superstars wie Kendrick Lamar spielen, schaffte es das Whole auf beeindruckende Weise, mithilfe von Metallcontainern eine überzeugende Clubatmosphäre herzustellen. Vor der Kulisse der dystopischen Kräne fühlte man sich zwischendurch wie in einem Science-Fiction-Film. Vor allem, als an einem Morgen der Himmel in leuchtendem Pink erstrahlte, als stünde die Welt in Flammen.
Ass Worship und die Entkriminalisierung von Sexarbeit
Eine Besonderheit des Whole Festivals ist, dass es von 16 queeren Kollektiven aus Berlin kuratiert wird (u.a. Herrensauna, Lecken, Puti Club, Emergent Bass und Lunchbox Candy), die sich dort austauschen und verknüpfen. Zusätzlich wurden 15 queere Kollektive aus der ganzen Welt eingeladen, unter anderem aus Instanbul (Sirän), Brasilien (Batekoo), Tokio (Waifu) und Chengdu (Seafood). Das sorgte neben dem vorherrschenden Four-to-the-floor-Sound für eine Vielzahl anderer musikalischer Facetten: Bass Music, Funk und Reggaeton auf der Crane Stage und experimentellere Dance-Entwürfe auf der Antenna Stage.
Dass Narciss und DJ Fuckoff dort zeitgleich mit Cormac und fka.m4a gebucht waren, war zwar eine kleine emotionale Zerreißprobe. Doch sobald man sich vom Timetable-Diktat gelöst hatte und einfach durch den verzauberten Wald streunte, hatte man ohnehin die schönsten Perlen entdeckt. Denn auch auf außermusikalisches Programm wie Panels, Workshops und Performances wird beim Whole großer Wert gelegt.
Es gab Workshops für Lapdances, Ass Worship und DIY-Fetish-Gear. Das Berlin Strippers Collective und Black Sex Worker Collective räkelten sich grazil an den Poles und setzten sich dabei lautstark für die Entkriminalisierung und die Rechte von Sexarbeiter:innen ein. Eris Drew sprach auf der Ambient Stage über den Motherbeat und das spirituelle Potenzial von Rave als widerständige, queere Überlebenspraxis, Camille Barton alias AfroOankali vom Berliner Kollektiv Emergent Bass über die Wurzeln von Dance Music in queeren, nicht-weißen Communitys und deren Repräsentation in und Zugänglichkeit zu diesen Räumen.
Privilegiencheck: Wenn Geld Realitäten schafft
Emergent Bass hat eine Residency im Berliner Club Mensch Meier, der vor wenigen Tagen verkündet hat, den Betrieb Ende des Jahres einstellen zu müssen – vor allem aufgrund gestiegener Betriebskosten. Für Camille Barton ist das Thema Geld daher gerade eines der drängendsten, wenn es um den Status Quo der Clubkultur geht: „Clubbing wird immer weniger zugänglich für Menschen aus der Arbeiter:innenklasse”, sagt Camille bei einem Interview im Backstage. „Das bereitet mir Sorge, weil es viele Menschen gibt, die keinen Zugang zu mentaler Gesundheitsvorsorge haben und Clubs als Therapieersatz nutzen. Als Ort der politischen Mobilisierung und des Widerstandes. Diese Räume müssen vor allem für queere und BiPoC-Menschen zugänglich bleiben, als Orte, um Kraft zu schöpfen, für Trauerarbeit, Feiern und die Community.”
Das Whole tut nicht nur mit seinem Booking schon einiges dafür: Es gab ein separates BiPoC-Zelt und ein Solidaritätsprogramm im Vorfeld, das es 100 Menschen aus der Community ermöglichte – insbesondere Geflüchteten, BiPoCs, Trans-Menschen und Menschen mit Behinderung – kostenlosen Zugang zum Festival zu erhalten.
Dennoch zeigt sich anhand der Zusammensetzung der Besuchenden, dass sich leider auch in einer bestmöglichen Utopie wie dem Whole bestehende gesellschaftliche Machtverhältnisse nicht einfach mit gutem Willen aushebeln lassen: Der Großteil der Gäste waren cis-männliche, weiße Männer. Das ist bei den aktuellen Festivalpreisen logisch, verfügen diese traditionell über mehr finanzielles Kapital und gesellschaftlichen Einfluss als queere FLINTAs. Es ist kein Zufall, dass es in Berlin keine einzige explizit lesbische Bar und kaum rein FLINTA-fokussierte Partyreihen gibt, dafür aber zahllose schwule Bars und Partys. Kapital schafft Realitäten.
Wünschenswert wäre, wenn sich einige dieser schwulen Männer ihrer eigenen Privilegien mehr bewusst wären. Natürlich werden auch sie gesamtgesellschaftlich marginalisiert, und es ist es wichtig, dass es geschützte Räume gibt, in denen schwule Männer sich frei und sicher ausleben können, wie etwa in den Cruising Areas. Auf den Dancefloors machte sich jedoch im Verlauf des Festivals und mit steigendem G-Konsum eine zunehmende Rücksichtslosigkeit breit, sodass Menschen unter 1,80 Meter Körpergröße und 80 Kilogramm Körpergewicht teilweise aggressiv aus dem Weg gerempelt wurden und offensichtlich kaum Bewusstsein dafür herrschte, wie viel Raum man gerade einnimmt.
Der ewige Kampf um Safer Spaces
Überhaupt, das Thema G. „There is no G in Club culture”, verkündete die Clubcommission in einem Statement 2021. In der Realität ist das eher ein frommer Wunsch. Die Hype-Droge ist aus dem Clubkontext kaum noch wegzudenken und sorgt aufgrund der schwierigen Dosierbarkeit regelmäßig für kollabierende Raver:innen an der Grenze zwischen Leben und Tod. Auf dem Whole gab es zwar Warnschilder, nicht zu früh nachzudosieren und genug Wasser zu trinken – ausreichend Wasserstationen in Nähe der Dancefloors waren jedoch Fehlanzeige. Generell waren Zugänglichkeit zu Essen und Wasser eines der größten organisatorischen Versäumnisse des Festivals. Immerhin gab es über die Festival-App einen SOS-Knopf, über den man die Awarenessteams im Notfall erreichen konnte – das sollte auf allen Festivals zukünftig Standard sein.
Das Thema safer space ist das alte Problem der Clubkultur. Wie schafft man inklusive Räume, in denen sich möglichst alle sicher fühlen können? Wie findet man dabei die Balance zwischen Einschluss und Ausschluss? Und wie sorgt man dafür, dass niemand übersehen wird? Ein Refugium war der Pillow Palace, ein designiertes Zelt für SLINTA (das „S” steht für „sapphic”, also vereinfacht gesagt „Frauen, die auf Frauen stehen”). Hier gab es erotische Lesungen, Workshops wie „Darkroom for Beginners” und einfach einen weichen, bequemen Ort, der an die Darkroom-Bedürfnisse von SLINTAs angepasst war. Lange Schlangen vor dem Eingang des Zelts zeugten davon, dass dieser Orte nächstes Jahr bitte größer und durchgehend geöffnet sein darf. Und zusätzlich fehlte ein Raum, an dem bisexuelle Opposite-Sex-Pärchen sich vergnügen konnten, ohne den Cruising-Vibe oder SLINTA-Space zu stören.
Das Whole Festival ist eine Utopie. Auch wenn diese so viel besser ist, als die Welt da draußen, ist sie nicht perfekt. In politischen und aktivistischen Räumen muss Platz für Diskussionen, Reibungen, Meinungsverschiedenheiten sein. Es wird nie einen Raum geben, der für alle perfekte Bedingungen bietet. Wichtig ist, dass das nicht dazu führt, dass bestimmte Positionen strukturell ausgeschlossen werden und gar nicht mehr zu Wort kommen. In einer kaputten Welt ist das Whole Festival die beste aller möglichen Realitäten. Der Traum von einer alternativen Realität, die für kurze Zeit Wirklichkeit geworden ist.