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Zeitgeschichten: Coldcut

Vernünftig mit der Kohle, verrückt mit der Musik

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Vorschaubild: AJ Barratt (Coldcut). Zuerst erschienen in Groove 169 (November/Dezember 2017).

Coldcut verkörpern den interdisziplinären Musikertypus des 21. Jahrhunderts. Mehr noch: Die zwei Londoner haben ihn geprägt wie kaum ein anderer Elektronik-Act. Als Sampling-Pioniere, die seit jeher aus dem gesamten Spektrum der Popkultur schöpfen. Als Visionäre, die schon früh im Computer ein kreatives Instrument sahen. Als Multitasker, die Clubwände in Projektionsflächen verwandelten. Und nicht zuletzt als Gründer eines der langlebigsten Independent-Labels: Ninja Tune. Zum 30. Geburtstag ihres Projekts Coldcut erklären Matt Black und Jonathan More, warum sie sich anfangs als Amerikaner ausgaben, welche Innovationen ihnen Angst machen und weshalb sie sich als Werkzeughersteller sehen.


Wie habt ihr zur Musik gefunden?
Jonathan More: Ich fing mit dem Auflegen während meiner Zeit an der Kunst-Uni in London an. Es war 1979, das New-Romantics-Ding war voll angesagt. Ich ging oft zu Konzerten im Stadtteil Soho. 1984 bekam ich dann die Möglichkeit, einmal monatlich in einem Warehouse Partys zu veranstalten.

Welche Musik hast du damals aufgelegt?
More: Vor allem Funk, Soul, Electro und HipHop. Oder Rap, wie das Genre damals genannt wurde. Im Prinzip Platten, die funky waren und einen guten Break hatten.

Warum fanden deine Partys in Lagerhallen und nicht in Clubs statt?
More: In den etablierten Clubs im West End waren die Drinks zu teuer. Unser Publikum hätte sich die Nächte dort nicht leisten können. Denen war das Kiffen ohnehin lieber. Es lag aber auch an der rassistischen Türpolitik, die in vielen dieser Clubs vorherrschte. Die Warehouse-Szene war offen für alle. Im Vordergrund standen die Musik und das Tanzen.

Warst du auch schon vor Coldcut in der Londoner Musikszene aktiv, Matt?
Matt Black: Ich war hauptberuflich Computerprogrammierer. Nebenbei brachte ich mir das Mixen und Scratchen bei und legte bei Partys auf. Jon war mehr involviert in die Szene als ich.

Wie kreuzten sich eure Wege?
More: Durch eine Platte von Double Dee & Steinski [US-HipHop-Produzentenduo, das schon 1983 mit Sample-Collagen experimentierte, Anm. d. Aut.]. Wir waren süchtig nach HipHop. Vor allem nach Platten aus Amerika, weil es diese Kultur in der Form bei uns nicht gab.
Black: Eines meiner Lieblingslabels, Tommy Boy, veranstaltete damals einen Remix-Wettbewerb, den Double Dee & Steinski gewannen. Ihr Sieger-Track erschien als Promo-Maxi, die in England sehr schwer erhältlich war. Nur mit viel Geld und Geduld konnte man ein Exemplar auftreiben.
More: Die Nachfolgesingle wurde von einem Label namens Disco-Net vertrieben. Der einzige Plattenladen in London, der eine Handvoll Exemplare im Sortiment hatte, war Record Shack in Soho. Wir beide kauften die Single dort unabhängig voneinander – für sündhafte 45 Pfund. Im Plattenladen, in dem Matt damals arbeitete, kamen wir darauf zu sprechen. So lernten wir einander kennen und beschlossen, gemeinsam etwas in die Richtung zu machen.

1987 habt ihr den Plan dann umgesetzt: Eure Debütsingle „Say Kids (What Time Is It?)“ gilt als einer der ersten Tracks, die zu hundert Prozent aus gesampleter Musik bestehen. Angeblich habt ihr bei der ersten Auflage vorgetäuscht, die Platte käme aus Amerika.
Black: Wir hatten Angst davor, verhaftet zu werden. Die Gesetzeshüter machten damals keinen Unterschied zwischen einem Michael-Jackson-Bootleg und Sample-Collagen, wie wir sie produzierten. Wir ließen die Platte in einem zwielichtigen Presswerk im Stadtteil Acton herstellen. Dort sah es aus wie in einer Fabrik aus einem Charles-Dickens-Roman: Fässer voll seltsamer Flüssigkeiten standen herum, dubiose Typen schlichen durch die Gänge. Was wir machten, war illegal. Eine gesetzliche Regelung für Sampling gab es damals nicht.
More: Außerdem waren viele Londoner DJs zu versnobt, um englische Platten zu spielen. Amerika galt damals als Maßstab für Coolness.
Black. Nicht zuletzt konntest du amerikanische Importplatten für fünf Pfund verkaufen. Während englische Scheiben nur zwei Pfund kosteten. Auch das war ein guter Grund, die Platte als US-Import auszugeben.

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