Collage: Alexis Waltz
Bereits im Januar begann die Corona-Krise, dieser monströse, existenzvernichtende wie stellenweise tödliche Einschnitt ins gesellschaftliche Leben, rund um den Globus, damit, sich auf die elektronische Musik und ihre Verwertungsabläufe auszuweiten. Immer wieder war noch im Winter von Clubschließungen in zuvorderst asiatischen Ländern die Rede, Italien zog schließlich nach – vor allem den kulturellen Standort Mailand traf es früh. Sukzessive rückte die Epi- und schließlich Pandemie auch im deutschsprachigen Raum in den Fokus, obgleich sie vielerorten verdrängt, schlichtweg nicht wahrgenommen oder ihr Gefahrenpotenzial – „Ist eine etwas schlimmere Grippe” – drastisch unterschätzt wurde. Immer deutlicher zeichnete sich schließlich ab, dass das behelfsmäßige Sammeln von E-Mailadressen und Temperaturmessungen beim Einlass wohl kaum genügen würden.
Dass die gesamte Clubkultur binnen weniger Wochen auf ein verworrenes Knäuel aus zahl- wie endlosen (Live)Streams, verzweifelten Hilferufen von Künstler*innen, Clubs, Festivals, Veranstalter*innen sowie Magazinen und deren Erhörung in eilig lancierten Spendenaktionen komprimiert würde, ließ sich hierzulande besonders deutlich in der zweiten Märzwoche erahnen. Zuerst verkündete das Berghain inklusive Zusammenbruch der Homepage, dass es seine Pforten bis tief in den April hinein schließt. Am Wochenende gab der Berliner Senat dann bekannt, dass das komplette Nachtleben der Hauptstadt bis zum 20. April ruht – eine viel zu optimistische Einschätzung, wie man inzwischen weiß. Nach und nach realisierte schließlich die komplette Szene, wie ernst die Lage ist und ging in den oben beschriebenen Aggregatzustand über.
Zunächst mal wirkt bei der derzeitigen Gemengelage mit täglichen Todesfällen und einem strapazierten Gesundheitssystem auch der wohlformulierteste Spendenaufruf aus der Kultursparte in gewisser Weise zynisch. Dennoch muss der Selbsthilfeversuch für Kulturschaffende angesichts ohnehin prekärer Arbeitsbedingungen – nicht selten freiberuflich – und just vollends erodierender monetärer Infrastrukturen legitim sein. Naturgemäß traf und trifft das Coronavirus die elektronische Musik, in der trotz unbestreitbarer Kommerzialisierung der DIY-Spirit nach wie vor stark ausgeprägt ist, besonders hart; das wurden in den letzten Wochen paradoxerweise auch diejenigen nicht müde zu betonen, die daran einen gewichtigen Anteil haben.
Neue, alte Probleme und die Grenzen des Livestreams
Vertreter*innen aus sämtlichen Sparten des Nachtlebens schilderten ihre Ausfälle oder forderten gar – Expropriation der Expropriateure! – zum Umsturz von unten auf. Die Gründe für den Schlamassel, vor dem die gesamte Szene nun steht, sind aber beileibe keine neuen, die vom einen auf den anderen Tag aus dem Boden geschossen wären; das Coronavirus hat ihre Wirkmacht nur katalysiert. Übertriebener Personenkult, der kleineren DJs größere Kuchenstücke vorenthält, schmerzbefreit vorangetriebene Internationalisierung und folgliche Nivellierung der Szene, Fixierung auf obszön große Festivals mit stets ähnlichen Line-Ups, die in Konkurrenz zu örtlichen Clubs treten und so weiter und so fort. Bereits diese kurze Aufzählung offenbart obendrein, dass sich diese Fehlentwicklungen gegenseitig befeuern.
Um die Apokalypse abzuwenden, der darbenden Szene und verständlicherweise auch sich selbst unter die Arme zu greifen, wurden schließlich verschiedenste Hilfsprojekte initiiert und realisiert. Die Clubcommission stampfte in Rekordzeit die Kampagne United We Stream aus dem Boden, Ticketing- und Szenemotor Resident Advisor wandte sich in einem offenen Brief mit dem Motto „Save Our Scene” an die Öffentlichkeit und startete den virtuellen Rave Club Quarantäne. Weitere große Namen der Industrie wie Boiler Room, das in Zusammenarbeit mit den Whiskey-Aficionados von Ballantines insgesamt 100.000 Pfund an Kollektive auszuschütten plant, oder Beatport, das in einem 34-stündigen Livestream die großen Namen der Szene versammelte und den sie zugrunderichtenden Starkult in Kollektivwohl umzumünzen suchte, blieben nicht tatenlos.
Der gute Wille dabei ehrt die Initiator*innen dieser Aktionen. Die offenkundig alternativlose Erhebung des Livestreams zum musikalischen Leitmedium der Isolation bringt aber gleich mehrere Probleme mit sich. Zum einen ersetzen die gestreamten Sets, so liebevoll sie auch konzipiert sein mögen, eine tatsächliche Cluberfahrung nicht im Ansatz; die dem Raven inhärente Körperlichkeit bleibt auf der Strecke, akustisch macht eine Anlage im Club deutlich mehr her als die Bluetooth-Boxen am WG-Tisch. Die bloße Präsentation der Livestreams ist aber definitiv nicht das Kernproblem. Denn zum anderen verpflanzt die Szene die massive Übersaturierung, die sie bereits im analogen Festival- und Clubzirkel lähmte, nun kurzerhand ins Digitale.
„Feststeht: Der Status Quo ist weder wünschenswert noch zukunftsträchtig.”
In der Flut aus abertausenden Streams, die Künstler*innen aus Clubs, Wohnzimmern oder Veranden ins Netz senden, geht ein Großteil zwangsläufig unter. Jede Institution, jede*r Akteur*in schickt eigene, oft mehrstündige Fundraiser in den Äther. Das Resultat dürfte, ohne das bereits verifizieren zu können, das altbekannte bleiben: Die großen Player und Namen profitieren, lokale und kleinere Projekte gehen größtenteils leer aus. „Profitieren” ist in diesem Fall ohnehin eine fragwürdige Vokabel. Zwar generieren Streaming-Kampagnen mitunter eine breite Aufmerksamkeit, Klickzahlen und Zugriffe sind in einer Szene, die sich nach wie vor gerne als unabhängig bezeichnet, aber alles andere als eine nachhaltige Währung – besonders für Künstler*innen mit kleinerem Publikum. Die Ermüdungseffekte, die sich nach den ersten Spendenmarathons unvermeidlich einstellen, gänzlich außer Acht gelassen.
Großflächige Ungleichheiten und prekäre Verhältnisse dominieren die elektronische Musik und ihre Szene also selbst in ihrem Überlebenskampf. Shawn Reynaldo beispielsweise erachtet sie in dieser Form daher als schlicht nicht zukunftsfähig. Diese fatalistische Ansicht ist zwar wohlbegründet, der vorgeschlagene Neustart mittels neuer Strukturen, einer Konzentration auf lokale Netzwerke und dem vielerorten herbeigesehnten Selbstreinigungsprozess dürfte sich aber als immens schwierig gestalten – keiner weiß schließlich, wie die Dinge im Sommer Herbst oder sogar Winter aussehen, was übrig bleibt. Ob dann der Zeitpunkt gekommen ist, alte Gewohnheiten abzulegen und eine neue Bescheidenheit zu propagieren, ist fraglich.
Feststeht: Der Status Quo ist weder wünschenswert noch zukunftsträchtig. Sich auf den guten Willen von Clubgänger*innen und sonstigen Gönner*innen zu verlassen ist kein adäquater Notfallplan, ebensowenig seine Geschicke in die Hände großer Firmen zu legen. Das wird jetzt noch schmerzvoller klar als im regulären Kunst- und Kulturbetrieb ohnehin schon. Natürlich zeigt Bandcamp mit dem Verzicht auf Verkaufserlöse an zuerst zwei Tagen, in Zukunft an jedem ersten Freitag des Monats zugunsten eines direkten Geldflusses an die Künstler*innen eine schöne Geste. Die Plattform steht aber auch nicht gerade im Ruf, sich der Independent-Szene gegenüber schädlich zu verhalten und bewusst Abhängigkeiten herzustellen.
Genau diese teils alternativlosen Abhängigkeiten sind es aber nunmal, die Kreativen aller Sparten in schwierigen Zeiten mit voller Wucht auf die Füße fallen. Solange die Maschinerie gut geölt läuft und es zu keinen Interessenkonflikten oder – angesichts der aktuellen Lage von größerer Bedeutung – finanziellen Engpässen beim Geldgeber kommt, mag dieses Modell mitunter hervorragend funktionieren. Quasi unbegrenzte Ressourcen für Inhalte, Musik oder Partys, eine solide finanzielle Grundlage – die dennoch von einem Moment auf den anderen entzogen werden kann. Das betrifft selbstredend nicht diejenigen, die aufgrund ihres Erfolgs über genug Rücklagen verfügen, um Krisenzeiten unbeschadet zu überstehen. Es betrifft die breite Masse, das monetär schwache Rückgrat der Dance Music.
Mäßigung statt Pseudokommunismus
Das Plädoyer, das daraus resultiert, sollte dennoch kein voreiliges, pseudokommunistisches sein. Die Szene lebt schließlich von Kooperation, von Vernetzung. Was wirklich helfen würde, und das, wie gesagt, nicht erst seit dem Ausbruch des Virus, wäre Mäßigung. Es ist schlichtweg nicht vonnöten, Unsummen für Gigs extrem teurer DJs zu bezahlen – weder auf Seite der Promoter*innen noch der Raver*innen. Es soll in vielen Städten genug fähige DJs geben, die für deutlich weniger Aufwand und mit größerer Leidenschaft ebenso zu begeistern imstande sind. Und, noch besser: Wirklich populäre Bookings würden dann wieder zu etwas Besonderem.
Dass das in dieser Gestalt wohl kaum passieren wird, ist aber auch klar. Zu festgefahren ist der Techno-Kapitalismus inzwischen, zu hoch der vermeintliche Standard, an den man sich in der Branche vielerorts gewöhnt hat, zu viel steht auf dem Spiel. Dass die Kombination aus Solidarität und Mäßigung aber ein gangbarer Weg ist, beweist beispielsweise die Nation of Gondwana. Seit Jahren hat das Hippie-Mekka nahe Berlin ein treues Stammpublikum, das mit ihm gewachsen ist, und seine Kapazitäten nicht ins Unvernünftige getrieben. Auch im Line-Up des Festivals tummeln sich – klar, neben einigen prominenten Acts – jedes Jahr wieder Künstler*innen, die zum Inventar gehören.
Als sich die Betreiber*innen am 20. März mit der Bitte an ihre Community wandten, mit Solitickets das Fortbestehen der Nation zu sichern, wurde das durchweg positiv aufgenommen. Die in diesen Tagen häufig aufkeimende Häme – man erinnere sich an die Entrüstung, die etwa über das Discwoman-Kollektiv nach seinem inzwischen gelöschten Spendenaufruf hereinbrach, die gemischten Reaktionen auf Resident Advisors Save-Our-Scene-Kampagne – blieb aus.
Ein Grundstock an Unterstützer*innen, eine Besinnung auf und ein Vorleben der Werte, die diese Szene qua Selbstdefinition von Anfang an ausmachen und wie sie neben der Nation auch weitere Clubs und Festivals vorleben, scheint sich also doch zu lohnen. Im Sinne des Business Techno könnte man es auch anders formulieren: Von einer gelungen Kundenbindung profitieren Veranstalter*innen und Gäste, streamende DJs und deren Fans. In weniger rosigen Zeiten wie diesen macht sich das besonders bemerkbar.