Teil 2 der essenziellen Alben findet ihr hier, Teil 3 hier.
Biosphere – The Way Of Time (AD93)
Braucht elektronische Musik Worte? Genauer müsste man wohl fragen: Wann gehen elektronische Musik und Text eine günstige Verbindung ein? In manchen Fällen wirken die Worte leicht übergestülpt, was dann auf Kosten der Musik geht, oder sie werden umgekehrt von der Musik in ihrer Kraft geschwächt. Bleibt eine heikle Balance, ungeachtet gelungener Beispiele wie Larry Heards „The Sun Can’t Compare”, Karlheinz Stockhausens „Gesang der Jünglinge” oder DAFs „Der Mussolini”.
Irgendwo dazwischen findet sich das neue Album von Geir Jenssen alias Biosphere. Auf The Way Of Time vertonte er Passagen aus dem 1926 erschienenen Roman The Time of Man der US-amerikanischen Schriftstellerin Elizabeth Madox Roberts. Er verwendet dazu Samples aus einer Hörspielfassung des Buchs mit der Stimme der Schauspielerin Joan Lorring. Zu der wie von fern sprechenden, leicht verwaschenen Stimme kommen Geräusche von Grillen und Zikaden, bei denen nicht ganz klar ist, ob sie aus dem Hörspiel stammen oder von Jenssen hinzugefügt sind, und seine kreiselnden Synthesizer, in einigen Stücken mit dezent bouncendem Beat unterlegt. Der etwas distanzierte Tonfall Lorrings, die stoischen Patterns und die Art, wie Biosphere die geloopte Stimme in seine repetitiven Strukturen einbaut, entfalten nach und nach immer stärker ihren Hypnose-Effekt. Am Anfang mag man sich noch fragen, wozu das jetzt, am Ende hat sich die Frage aber selig in ihre Sinnbestandteile zerlegt. Tim Caspar Boehme

Erika de Casier – Lifetime (Independent Jeep Music)
Boom-Bap-Beats waren in den frühen Neunzigern nicht nur im Hip-Hop beliebt – dort also, wo sie entstanden waren. Sie bildeten auch das Gerüst für viele Songs der Manchester-Bands wie Happy Mondays und Stone Roses und außerdem für einige wunderbare One-Hit-Wonder. Erika de Casier scheint diese geradlinige, klare Produktion von Candy Flips Beatles-Coverversion „Strawberry Fields Forever” oder „Sweet Harmony” von The Beloved auf ihrem neuen Album Lifetime im Kopf zu haben. Die kickenden Beats sind ganz auf Pop produziert. Dabei scheint noch eine andere Referenz der besagten Zeit auf: Die Beats von Future Sound Of London in ihrer futuristischen Transparenz. Etwa fünf Jahre später würden William Orbit und Madonna diesen Sound zum Bestseller-Album Ray Of Light formen.
Ein leichtes Insektenschwirren scheint über „Miss” zu liegen, ein Wähltastenton doppelt die Gesangslinie von „The Chase”, silbrig schillert die Snare in „Delusional”, dazu wiehert ein Pferd, und verträumt lässt die Sängerin Vokale los. Dabei pflegt die in Portugal aufgewachsene de Casier eine absolute Ziellosigkeit. Nichts suchen, nichts wollen, alles ist egal. Dies jedoch in aller Entschiedenheit. All das zusammen macht aus Lifetime ein Sommeralbum. Ein Ideal von einem Sommeralbum und gleichzeitig ein Beispiel für ein Sommeralbum. Welchen Preis erzielen eigentlich Café-del-Mar-Shirts auf Vinted? Christoph Braun

FaltyDL – Neurotica (Planet Mu)
Großes Jubiläumsjahr für Planet Mu. Da geben sich alle ein wenig mehr Mühe. Der New Yorker Produzent Drew Lustman alias FaltyDL gehört schon lange zum Kreis der Künstler:innen des Labels, wobei sein letztes Album (unter eigenem Namen) dort zehn Jahre zurückliegt. Auf Neurotica geht es jedenfalls mit laserstrahlartig gebündelten Kräften voran, stilistisch zwischen innovationsfreudig verspultem Techno und drogeneuphorischem Hyperpop die Beatzahl in höhere Umdrehungen treibend. Die hochgepitchten Computerstimmen passen gut zu dieser Ekstase. Unerhört mag das vielleicht nicht immer klingen, doch auf ansprechende Weise zuversichtlich und konsequent drüber.
„By Your Side” hat neben seinem straighten Drive obendrein eine Melodie, die praktisch zum Mitsingen ist. Womöglich ist bei der Angelegenheit irgendwo ein verzweifelter Optimismus am Werk, immerhin deutet der Titel der Platte eine Ahnung von psychischen Nöten an. Im passend „Fix Me” benannten Track klingt die bearbeitete Stimme eine Spur persönlicher als sonst auf der Platte, was zusammen mit kaputten Breaks und kurzen Momenten von A-cappella-Stille für einen der bewegendsten Momente sorgt. Vom Tanzen braucht einen das alles nicht abzuhalten. Könnte im Zweifel sogar helfen. Tim Caspar Boehme

Holden & Zimpel – The Universe Will Take Care Of You (Border Community)
Schon 2023 setzte James Holden mit seiner VÖ Imagine This Is A High Dimensional Space Of All Possibilities einen Meilenstein, und nun geht es so weiter: The Universe Will Take Care Of You von Holden & Zimpel ist ein Portal – ein Klangkorridor in einen Schwebezustand, in dem Synthesizer-Arpeggien wie Sternschnuppen verglühen und Klarinettenflirren die Luft vibrieren lässt.
James Holden, einst Trance-Wunderkind, mittlerweile feinsinniger Modular-Druide, trifft auf Wacław Zimpel, Free-Jazz-Klarinettist und Grenzgänger zwischen Carnatic-Ragas und Shackleton-Bass. Zwei Biografien, die unterschiedlicher kaum sein könnten – und doch von derselben Sehnsucht nach Trance, Wiederholung, Selbstauflösung erzählen. Ihre sechs Improvisationen wurden live eingespielt, jede Session trägt das Datum ihrer Entstehung wie eine astronomische Koordinate. „You Are Gods”, das Ur-Knattern: Gleich der Opener entfesselt eine Fontäne 32stel-Arpeggien. „Arpeggio-Clouds” nennt Holden das trocken. Es klingt wie ein mitternächtliches Feuerwerk in einer Sternwarte. Zimpels Klarinette jagt dazwischen wie ein ionisierter Sonnenwind, mal Vogelruf, mal Sirene. Das Tempo: hoch, die Atemtechnik: außerirdisch. Wer hier nicht gleich den Halt verliert, ist schon mittendrin im Gravitationsfeld dieser Platte. „Sunbeam Path” senkt die Drehzahl, badet die Szenerie in honiggoldenes Tremolo. Zimpel tauscht das Rohrblatt gegen Lap Steel, die Töne schmelzen wie erhitztes Glas, während Holden behutsam ein Neu!-artiges Motorik-Flimmern unterlegt. Es ist Musik, die atmet, ein langsames Ausdehnen des Raums, eine Einladung, die Uhr zu vergessen. Polyrhythmisches Geröll. „Time Ring Rattles“ klappert und scheppert wie eine Steinlawine in einer Metallröhre. Percussions, die an Gnawa-Qraqeb erinnern, prallen auf Synth. Der Track ist ein Labor für fraktale Grooves: jeder Loop legt einen weiteren frei, bis sich ein hypnotisches Geflecht über den Hörraum spannt. „Sparkles, Crystals, Miracles” tanzt auf der Grenze zwischen identifizierbarem Klang und verwaschener Textur. Kalimba-artige Zupfer blitzen auf, ein gestrichener Geigen-Hauch verschwindet wieder im Side-Chain-Nebel. Man hört und hört nicht, eine audio-optische Täuschung, die an Gerhard Richters verschwommene Farbbahnen erinnert. Der zehnminütige Titelsong gleitet als leiser Reed-Loop an, wächst zu einem majestätischen Orgel-Strahlenkranz, bis alles in einem sanften, aber monumentalen Drone kollabiert. Musik als vertrauensbildende Maßnahme: „Das Universum wird sich kümmern”, flüstern die Schwebungen, und man glaubt es ihnen.
Holden & Zimpel beweisen, dass Improvisation nicht Chaos bedeuten muss, sondern ein präzises Suchen nach kollektiver Ekstase sein kann. Sie schnüren Free Jazz, Minimal-Kraut und modulare Elektronik zu einem tranceinduzierten Reiseritual. Dabei ist nichts akademisch, nichts verkopft: Es pulst vor Neugier, vor kindlicher Wunderlust. Reduktion ist hier kein Verzicht, sondern ein Dogma: Jeder Klang muss leuchten dürfen. The Universe Will Take Care Of You ist kein Album, das man nebenbei auflegt. Es ist ein Zustand, ein Selbstexperiment; zugleich warmherzig, verspielt und radikal. Selten klang Improvisation so überschwänglich und doch so geordnet wie hier – ein kosmisches Versprechen, eingelöst im Hier und Jetzt. Liron Klangwart

Johannes Albert – Private Dancer (Permanent Vacation)
Sagen wir so. Es gibt schlechtere Platten, um in Tiefkühltruhenbüros von der Amalfiküste zu träumen. Oder von neonpinken Flamingos, die in dünnen Drinks rumstochern. Und einen ganz behutsam besoffen machen. Bis dann die weißen Seidenhosen rumschlackern, auf der sogenannten Tanzfläche. Na ja, das ist jetzt ein bisschen eine falsche Vorstellung, weil: Johannes Albert ist eher weniger im Schickeriaschlagschatten unterwegs, dafür lebt er zu lange in Berlin. Außerdem macht er mit Frank ein Label, auf dem er bisher den übermächtigen Anteil seiner Musik einfach selbst rausgewuchtet hat. Weil das geht. Oder weil es muss. Bis dann irgendwann Sonnenfreunde wie die von Permanent Vacation ein Fax rüberlöten. Und ein Album wollen. Und mit Private Dancer eins bekommen, das ambitionierte Kulturschreiberlinge in reichweitenstarken Qualitätsgazetten unter Umständen als Instant Classic, mitunter gar als absolut tanzbar oder ganz einfach als eine wunderbare Sommerscheibe bezeichnen dürfen. Christoph Benkeser

Lyra Pramuk – Hymnal (pop.soil)
Lyra Pramuks künstlerischer Ausdruck geht wesentlich aus ihrer Stimme hervor, jedoch ohne sich vieler Worte zu bedienen. So als würden sie dem nicht gerecht, was sie ausdrücken möchte. Und es stimmt, sie sagt mit ihrer Stimme ungleich mehr, als in Worten beschreibbar wäre. Doch wie dann darüber schreiben? Es braucht große Bilder, um ihr gerecht zu werden. Blicken wir in die lebendige Natur, erkennen wir ein unendliches Wechselspiel von Wiederholung und Differenz. Keine zwei Samenkörner sind gleich, kein Mensch wie der andere. In Pramuks Musik überlagern sich bearbeitete Vokalfragmente (Differenz) in Loops (Wiederholung) zu einer komplexen Gesamtheit. Das Album als Verdichtung einer Vielzahl von Welten, in denen ihre Stimme verschiedenartige Verkörperungen findet.
Auf Hymnal wird die Klangpalette ihrer digital bearbeiteten Stimme um Streicher ergänzt, was dem Album ein Neoklassik-Flair verleiht. Vor allem steht Pramuk aber in der Tradition von Vokalistinnen wie Laurie Anderson. Während diese die Regelmäßigkeit des maschinellen Rhythmus brutalistisch exponiert („O Superman”), fließen Lyra Pramuks Klangebenen wie Landschaften ineinander („Oracle”). Sind frühere Tracks wie die Tundra, etwa „Mirror” auf dem Debüt Fountain von 2020, gleichen sie heute eher einem dichten Wald. Doch kann man sich beides nebeneinander vorstellen, denn Lyra Pramuk hat als Künstlerin, wie man so sagt, ihre Stimme gefunden — wobei es in diesem Fall natürlich heißen muss: ihre Stimmen gefunden. Philipp Gschwendtner
