Teil 1 der essenziellen Alben im Juni findet ihr hier, Teil 2 hier.
Nick León – A Tropical Entropy (TraTraTrax)
Schade, dass Rosalía nicht auf dem neuen Nick-León-Album singt. Das hätte wunderbar als Kontinuität zu ihrem sensationellen Album Motomami funktioniert. Das aber nur am Rande – und zur stilistischen Einordnung von A Tropical Entropy. Das ist auch ohne den spanischen Star schwer ergreifend. Jeder Track absolut auf der Höhe der Zeit. Global, mit ganz viel Vocals. Und allem, was Latin-Pop und Clubmusik aus Südamerika so modern macht. In Deutschland sind Stile wie Reggaeton leider noch nicht so angesagt und spielen im Club nur eine partielle Rolle.
Im Rest der Welt ist das anders. Reggaeton und seine diversen Spielarten erfrischen mit Takten, die ein gemeinschaftliches Tanz-Erlebnis mit viel Freude im Gesicht hervorrufen. A Tropical Entropy wird Ähnliches anrichten. Und das mit diversen Gesangs-Gäst:innen, wie der kolumbianischen Multiinstrumentalistin Ela Minus, der kanadischen Produzentin Casey MQ, Sängerin Erika de Casier aus Portugal, Nick Leóns Miami-Nachbar Jonny From Space oder dem Berliner Produzenten Lavurn. Die oft durch Autotune verfremdeten Stimmen tanzen, singen, croonen über Liebe und Herzschmerz zu knarzenden EDM-Bässen, Camp-Melodien, digitalen Gitarren, zackigen Dance-Grooves und locker hüpfenden Rhythmen. Ein Longplayer, der Nick León, das Label TraTraTrax und Musik aus Lateinamerika weiter vorne in der internationalen Popmusik platzieren wird. In stilistisch offenen Clubs dürfte das ebenso einschlagen. Und hoffentlich auch hierzulande für Frische sorgen. Michael Leuffen

Niño Árbol – Psiconomimesis (Ssensorial)
Wenn die mexikanische Erde bebt, tanzt sie auf Scherben – so klingt das neue Album von Kevin Martínez alias Niño Árbol. Der Produzent aus Guadalajara, der Bühnen von Mutek bis Berghain bespielte und über hundert Tracks veröffentlicht hat, weiß, wie man Körper hypnotisiert – und wieder aus dem Trance-Zustand herausreißt. Der Opener und Titeltrack gleitet als technoider Feinstaub in den Raum: Träge Kick-Atome zittern, während perlende FM-Flächen wie Nervenzellen feuern. Polyrhythmik als Seismograf: „Las ruinas también tiemblan, lo roto también vibra” lässt Breakbeats splittern, bis sie zu Staub werden. Stimmfetzen flackern, drehen sich rückwärts, verdampfen zu reinen Phonemen. Im Zeitlupen-Dub „El cielo pesa más hoy” gleiten Glocken wie Lichtstrahlen durch Smog; eine Bassdrum schlägt selten, aber wenn, dann wie ein Defibrillator. Klang ist hier kein Ornament, sondern Gewebe. „Grieta de luz” spült Glitch-Granulate durch Delay-Schleifen, bis daraus ein Chor der Fehlmessungen entsteht – tanzbar ist das kaum, doch wer sich fallen lässt, spürt den tektonischen Groove unter dem Noise. „Conectoma” zieht die Schrauben an: IDM-Hi-Hat-Schraffuren erinnern an frühe Warp-Releases, nur fetter produziert, mit körperwarmem Low-End. „Manto aquí no duele” macht Stille hörbar: Pads liegen wie staubige Tücher über vernarbten Beats, eine Melodie blinkt auf – zart wie eine Spieluhr, gleich wieder verschluckt. Ambient ohne Wellness; Trost, der im selben Moment entgleitet. Kurz vor Schluss jagt „Autodisolución” ein 160-BPM-Skelett durch Hallkammern. Snare-Echos rasen wie Lichtspuren, die Kick zerfällt in Filterraspeln – brachiale Eleganz à la Aphex Twin. „Procesamiento” schließt mit geisterhaften Chören, die in Side-Chain-Wellen atmen, bis alles leise verdampft.
Psiconomimesis wirkt wie ein einziger mutierender Organismus: Jeder Track hinterlässt Spuren, die der nächste wieder aufreißt. Niño Árbol verwebt Techno, Bass und IDM zu einem sensorischen Headtrip, der Tanzflächen-Karma ebenso schont wie den Intellekt fordert. Beats zum Festhalten gibt es kaum – doch wer sich auf das Risiko einlässt, findet in den Rissen Licht, und vielleicht auch sich selbst. Liron Klangwart

Seven Davis Jr. – Don’t Crash Out Challenge (Secret Angels)
Eigenständigkeit im House-Kontext zu erreichen und auch über einen längeren Zeitraum zu bewahren, geht das noch? „No way!”, ruft der Chor der Kultur-, pardon, Club-Pessimist:innen. Samuel Davis alias Seven Davis Jr. gehört zu der zugegeben nicht allzu großen Schar an House-Künstler:innen, die diese Schwarzseherei seit Jahren ad absurdum führen. Ein Grund dafür ist definitiv seine Offenheit für Elemente jenseits der reinen House-Lehre. In der Vergangenheit rettete er regelmäßig das Erbe von Prince für den Underground, sprich: verarbeitete dessen Essenz unter Ausklammerung von Pomp und Plüsch.
Auf Don’t Crash Out Challenge sind davon noch verwischte Spuren zu hören, dafür treten ähnlich entschlackte Reminiszenzen an Frühachtziger-No-Wave und -Indie-Pop in den Vordergrund. Tatsächlich sind es weniger klar benennbare Elemente, die an die genannten Genres erinnern, sondern ist es eine gewisse Ausstrahlung der Musik, eine erahnte Haltung. Konkret wird die Basis seiner Tracks oft von kurzen Beat- und Bass-Strukturen gebildet, die ohne abgefeilte Ecken roh und selbstbewusst vor sich hin knallen, sehr loopig und funktional. Darüber entwickeln sich aber durch den Gesang und die Textstrukturen die songorientiertesten Stücke, die Davis in letzter Zeit abgeliefert hat – auf seine ureigene, alle Einflüsse abstrahierende Art natürlich. Da kann ein Instrumentalteil zwischen zwei Strophen wie im Titelsong statt aus altbekannten Chops oder Pads auch aus noisigem Synthierauschen und -geblubber bestehen; straight outta Houstons und Texas‘ Abwasserkanälen und jenseits jeden Rattenrennens um die fetteste High-End-Produktion. Mathias Schaffhäuser

SOPHIE – Product (Numbers) [Reissue]
Zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung feiert Numbers SOPHIEs Erstlingswerk Product in Form von drei Spezial-Editionen: als Vinyl, CD und als Speichermedium im EC-Karten-Format.
Die schottische Produzentin und Musikerin, deren tragischer Unfalltod im Jahr 2021 die Musikwelt erschütterte, begann ab den frühen Zehnerjahren auf SoundCloud von sich reden zu machen. Product war strenggenommen keine LP, sondern eine Kompilation jener in den Jahren zuvor privat veröffentlichten Titel. Numbers, wo Karrieren von einschlägigen Musiker:innen wie Jamie XX oder Jessie Ware ihren Anfang nahmen, wurde auf SOPHIE aufmerksam, deren Songs „Lemonade” oder „Vyzee” sich bereits zu veritablen SoundCloud-Phänomenen entwickelt hatten. Die orchestrierte Veröffentlichung ihrer Musik auf einem einschlägigen Label versetzte SOPHIE den letzten nötigen Schwung, um in die Höhen der Popwelt katapultiert zu werden. Es folgten Produktionen für Charlie XCX und Madonna, 2019 ist SOPHIEs erstes richtiges Album Oil Of Every Pearl’s Un-Insides für einen Grammy in der Kategorie Best Dance/Electronic Album nominiert.
Musik kann bisweilen überfordern, spätestens wenn es darum geht, eine deskriptive Sprache für sie zu finden. SOPHIEs Product ist hierfür ein Paradebeispiel: Was lärmt und schrebbelt da so? Das soll Pop sein? Oder gar Spaß machen und ein gutes Gefühl erzeugen? Um SOPHIEs Musik zu klassifizieren, wird von Dance-Pop gesprochen, von Bass Music, Trap, Hyperpop, Deconstructed Club, Bubblegum, Abstract, Experimental. Die Musik sei hyperreal, futuristisch, metallisch. All das ist zutreffend, und in all dem ist sie stilbereitend: Der Einbruch radikalerer, aggressiverer Soundmotive in den Pop – ohne SOPHIE undenkbar. Vor allem aber, und vielleicht ist das noch viel wichtiger als ihr Einfluss auf den durchkommerzialisierten Pop, ist diese Kompilation, diese Musik nicht weniger als ein Manifest für die radikale Befreiung der Körper. Weil dies in der unsrigen Welt nicht widerstandsfrei passieren kann, braucht dieser Soundtrack Wut, Wucht, Kraft. „Let your Body get higher!” – Product ist kein Album, es ist ein zeitloser Imperativ. Nathanael Stute

SW. – TekkNOthing I & II (SWOB)
Acid Test aus Los Angeles von Oliver Bristow: Schwergewichte der elektronischen Musikszene wie Tin Man, Pepe Bradock, John Tejada, Marcellus Pitman oder Donato Dozzy veröffentlichten auf dem Label seit den früher Zehnerjahren. Stefan Wust alias SW. betreibt das nicht minder bekannte Berliner Label SUED ebenfalls seit 2011. Vor einem Monat starteten beide ihr neues Label SWOB. Im Mai kam als 15-Track-Kassette SW.s TekkNOthing I & II heraus.
Euch erwarten Rave-Cosmic-Dub („daREALDEal”, „6oneSOUL” und “kinu94ATAR!8”), roher, nach vorne geshuffelter Techno („viscousHEAT”), Pumpen-Kompressor-Techno („nuclearFALLoutX”), geisterhaft verhexte, psychotische Deep-House-Synth-Basslines („paslolESsmess”, „lookLOOK” und „sonicENdo”) und klassischer Detroit Techno („DU”NEhowSE#1takeÄ”). Allerdings haben SW.s Klangsignatur und Frequenzgänge recht wenig mit den einstigen Vorbildern elektronischer Musikgenres gemein. Es klingt eher so, als würde die künstliche Intelligenz das Kassettentape unserer Großeltern verfluchen. Die natürliche, analoge Kompression trifft auf künstlich-dichte Hohlheit. Im Juni wurde nun der Fünf-Tracker TekkNOthing III als Vinyl-EP veröffentlicht. Wie das klingt, wenn die – sich selbst generierenden – Algorithmen in der Vinylrille eingesperrt werden? Da ist für jede:n etwas dabei. Mirko Hecktor
