Teil 1 der essenziellen Alben findet ihr hier, Teil 2 hier, Teil 3 hier, Teil 4 hier.
Mark Ernestus‘ Ndagga Rhythm Force – Khadim (Khadim)
Manche Musik lässt sich eigentlich gar nicht anhören – sie lässt sich nur betreten. Khadim, die neue LP von Mark Ernestus‘ Ndagga Rhythm Force, ist solch ein Raum – ein Klangraum. Kein Studioalbum im klassischen Sinne, sondern eine rhythmische Séance. Vier Stücke, vier spirituelle Episoden. Alles an diesem Album atmet, trommelt, fleht, flackert. Reduktion ist hier kein Verzicht, sondern ein Dogma: Gitarre? Weg. Ensemble? Ausgedünnt. Was bleibt, ist Essenz – Drums, Chords, Stimme, Raum.
Gleich der Titeltrack steht im Zentrum wie ein musikalischer Monolith. Slow-motion-House, wie er vielleicht einmal begann: ein einfacher Akkord, verhallte Keyboard-Stabs, ein Kickdrum-Herzschlag. Darauf tanzen die sabar-getriebenen Polyrhythmen von Serigne Mamoune Seck mit einer Eleganz, die keine Eile kennt. Mbene Diatta Seck, mehr Prophetin als Sängerin, erzählt, preist, zitiert. Der Song erinnert an Steppers-Reggae, aber ohne Rasta-Pathos; eher eine afrikanische Dub-Vision mit sufitischer Tiefe. Musik als Gebet, Groove als geistige Handlung. Ein House-Track, der betet, nicht pulsiert.
Dabei geht es um mehr als Spiritualität: Khadim ist auch politische Musik. Die Geschichte Cheikh Ahmadou Bambas, des Gründers der Mouride-Bruderschaft, schwingt in jedem Takt mit. Sein Exil, seine poetische Lehre, sein gewaltloser Widerstand – all das wird hier nicht erzählt, sondern körperlich erinnert. Musik als Archiv, als Ritual, als Widerstand. Ernestus gelingt es, all das in ein Setting zu überführen, das weder folkloristisch noch clubkonform klingt. Stattdessen: ein Gefühl von Weite, das sich aufbaut wie eine Prozession in Zeitlupe.
Dagegen ist „Dieuw Bakhul” komplexer, vertrackt, fragmentarischer. Der Beat ringt mit sich selbst, als wolle er sich zerschlagen und neu formieren. Synths winden sich wie dunkle Gedanken, Basslines kriechen unter die Haut. Mbene zersetzt ihre Stimme in Erinnerungsfetzen, in Zwischenrufe und seelische Splitter. Es geht um Verrat, um Enttäuschung – aber ohne Zorn, sondern mit fast zärtlicher Resignation. Und trotzdem: Aus dieser Zerrissenheit entsteht ein seltsames, hypnotisches Momentum. Man verliert sich, aber man bleibt nicht verloren. Die Musik scheint innerlich zu taumeln – aber gerade darin liegt ihre Wahrheit.
Was dieses Album so besonders macht, ist seine dichte, doch transparente Textur. Nichts drängt sich auf, alles ist in sich ruhend, offen für Projektion.
„Nimzat” wiederum ist die Reduktion auf den Rhythmus – und auf das, was über ihn hinausgeht. Stripped down, aber nicht leer. Die Perkussion trägt die Melodie, das minimale Arrangement wirkt wie ein stiller Trance-Loop. Und wieder: die Stimme als Scharnier zum Spirituellen. Sie hebt ab, wie von innen gezogen, fast entrückt. Keine Ekstase, sondern fokussierte Hingabe. Mbene singt nicht für das Publikum, sondern für etwas Höheres – und wir hören nur zufällig mit. Die Musik flackert, der Raum bebt leise, und plötzlich ist da: eine innere Bewegung, die nicht mehr aufhört.
„Lamp Fall” schließlich lässt man am besten einfach laufen. Der Track zieht sich nicht auf – er fließt. Ein langsamer Downshift, der keine Pointe braucht. Die Beats gleiten, die Synths murmeln, Mbene schwebt über allem. Die Hommage an Cheikh Ibra Fall, Gründer der Baye Fall, wird zur klanglichen Meditation. Der Groove ist sanft, aber bestimmend. Der Raum tut den Rest: Hier passiert Magie nicht durch Aktion, sondern durch Geduld. Wer zuhört, wird mitgezogen – ob er will oder nicht.
Was dieses Album so besonders macht, ist seine dichte, doch transparente Textur. Nichts drängt sich auf, alles ist in sich ruhend, offen für Projektion. Khadim ist auch das Dokument eines langen Prozesses. Fast ein Jahrzehnt ist seit dem Vorgänger Yermande vergangen, doch was hier erklingt, ist nicht das Produkt von Stillstand, sondern von Transformation. Live geformt, durch hunderte von Konzerte, geerdet in kollektiver Erfahrung. Die Studioaufnahme ist fast eine Nachzeichnung dieses kollektiven Bewusstseinszustands.
Khadim ist kein Album für die Funktion, eigentlich nicht für den Dancefloor, nicht fürs Radio. Es ist ein Ritual in vier Teilen. Es meint es ernst. Und genau das macht es so dringlich. Mark Ernestus hat hier keine Platte produziert, er hat ein klangliches Gefäß gebaut. Für die Rhythmen. Für die Stimmen. Für den Geist. Für etwas, das bleibt, wenn alles andere längst vergangen ist. Ein Klang, der nicht gehört, sondern durchlebt werden will.