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Mai 2025: Die essenziellen Alben (Teil 4)

Teil 1 der essenziellen Alben findet ihr hier, Teil 2 hier, Teil 3 hier.

Sinnthese – Sünder Und Sinnstifter (Storage Records / Stanze Fredde)

Man kann diese Platte nicht hören, ohne dass sie zurückschaut. Sünder Und Sinnstifter, das Debütalbum des Hamburger Exil-Wieners Jakob Henneken alias Sinnthese, ist ein Spiegelkabinett zwischen NDW-Rückgriff, Dark Wave und einem dezidiert nervösen Zeitgefühl. Songs wie Überreste – oder besser: Trümmer – eines Deutschlands, das nie ganz weg war, aber auch nie ganz angekommen ist.

Der Einstieg „Wachstumsschmerzen” ist eine Art NDW-Manifest der neuen Ungeduld: Ein treibender Wave-2.0-Banger, der mit respektloser Lust auf Zerstörung durchmarschiert. Textlich ein kindlicher Totalitarismus, ironisch, böse, klug: „Wenn ich groß bin, werd’ ich Steuerhinterzieher, euer kleiner Führer, kniet nieder!” – das ist nicht nur satirisch, sondern ein Porträt unserer kulturindustriellen Narzissmen. Dazu: Stakkato-Drumcomputer, schiefe Synths, ein Bass, der mehr droht als groovt. Alles treibt, aber nichts erlöst.

Dagegen „Feinstaub”: eine drone-getränkte NDW-Nummer, die sich durch dunkle, staubige Luft arbeitet. Henneken deklamiert zwischen Vitrine, Platine und Getriebe – ein Maschinenlied für unsere toxische Gegenwart. Die 606 zischt, die Stimme kratzt, der Text zerbricht in Slogans. Man spürt: Hier wird nichts repariert, nur erinnert. „Und die Zahnräder schrein” – fast ein Mantra.

Am weitesten entfernt vom klassischen Songverständnis liegt „Tryptichon”: ein verwischter, ambienter Flickerteppich aus dissonanten Loops, versprenkelten Alltagsfetzen und sprachlich-performativer Zerlegung. Der Track gleicht einem verstörten inneren Monolog im Neonlicht: „Waschmaschine, Föhn, Rasierapparat. Tanzt euch warm!“ – das alles wirkt wie eine dekadente Werbewelt, durch einen beschädigten Filter gezogen. Ambient, ja – aber nicht beruhigend, sondern restlos zersetzt.

Und doch ist die Platte mehr als eine klanggewordene Sozialkritik. Sünder Und Sinnstifter oszilliert zwischen Dystopie und Witz, zwischen Soundkunst und Pop – ohne sich je festzulegen. Der Referenzraum ist klar: Der Plan, Kubin, frühe Palais Schaumburg, aber auch Chris Imler. Gleichzeitig ist hier eine neue Sensibilität am Werk: körperloser Ausdruck, dadaistisches Erzählen, synthetische Emotionalität. Sinnthese hat mit diesem Album ein Statement abgegeben – nicht laut, aber unausweichlich. Die Produktion ist minimalistisch, aber tief, das Songwriting dekonstruiert, aber präzise. Und die Sprache? Radikal trivial. Ein Kind sagt: „Ich bin riesig.” Und meint: Ich bin alles, was ihr verdrängt habt. Liron Klangwart

Some Other People – Voices In My Head (Violent Drum) [Reissue]

1992 war für Rave ein Jahr, in dem viel los war. Es passierte viel auf einmal, aber noch nicht so sehr in parallelen Welten. Der vielbeschworene universale Spirit des britischen Sommers von 1989 war irgendwie noch greifbar, die immer weitere fortschreitende Verästelung nahm aber schon ihren Lauf. In diesem Jahr erschien mit Voices In My Head ein Album, das den damaligen Vibe ziemlich gut zusammenfasst. Some Other People war ein Trio, dessen Mitglieder aus ganz unterschiedlichen musikalischen Ecken kamen. Es trafen sich ein klassisch ausgebildeter Musiker, ein DJ und ein Rockgitarrist und wussten eigentlich noch nicht so richtig, wie Clubmusik funktioniert. Mark Lord, Matt Frost und Steve Jueno hießen die Drei. Mit Infinite Mass gründeten sie ein Label, zunächst für ihre eigenen Produktionen.

Ihr erstes Album Voices In My Head, das gerade wiederveröffentlicht worden ist, greift so ziemlich alles auf, was 1992 und in den paar Jahren davor angesagt war. Italo-Pianos sorgen für gute Laune. Es bleept ein bisschen, es hüpfen Breakbeats, die mehr Fools Gold als UK Hardcore sind. Man ist auf dieser Rave-Hippie-Suche nach spiritueller Tiefe oder Überhebung. Seinerzeit nannte man diesen Wald-und-Wiesen-Rave-Sound Trance, mit dem späteren Genre hat das allerdings wenig zu tun. Im gleichen Zuge wurde House progressive. Das erste Album von The Future Sound Of London erschien im selben Jahr und taugt als guter Vergleich. Eine Inspiration für Some Other People war ganz sicher auch William Orbits Label Guerilla. Sucht man im Netz nach Infinite Mass, dem Label von Some Other People, stolpert man sehr schnell über die Information, dass es zeitweise in einer Liga mit Warp spielte. Das ist ein Mythos, der vermutlich gestreut wurde, um die Wiederveröffentlichung dieses schönen Zeitdokuments noch interessanter wirken zu lassen. Voices In My Head macht Spaß, eben weil es nicht zeitlos ist. Holger Klein

Steve Bicknell – Several Streams Of Thought (KR3)

Steve Bicknells neues Album beginnt nicht leise, nicht langsam, sondern roh und industriell. 2023 begann er mit Reissues früherer Werke, wie Why? And For Whom? von 1996. „The Power Pyramids” vom neuen Album klingt dem sehr ähnlich. Drumherum reden kann man also nicht, die markanten Züge des Tresor-Residents kommen auch auf dieser LP zum Vorschein: dominante, schnelle Hi-Hats, geloopte Hauptelemente, die von Anfang bis Ende bleiben, und ab und zu noisy Texturen. So Techno, so gut. Wie die Faust aufs Auge passt auch der Titel des Albums. Das musikalische Bild von Several Streams Of Thought zeichnet sich von Track zu Track deutlicher ab: ein kontrolliertes Durcheinander von Gedankenströmen.

Doch es wird auch grooviger. „The Telecommuters”: nicht weniger dicht, aber anders fokussiert. Geröll in einem Tal begleitet den Rhythmus. Passt ganz gut. Dieser Vibe wird mit in den nächsten Track „Easing Into Tomorrow” genommen. Doch der Titel trügt. Entspannt ist hier nichts. Und trotzdem funktioniert er: mit Wucht und Klarheit.

Anschließend bleiben wir in der gewohnten Stimmung, aber neue Details treten in den Vordergrund: Ein mythisches Wesen, gepaart mit Sci-Fi-Pistolenschüssen sowie einem zischenden Geräusch, das an ein Gasleck erinnert. Im abschließenden 15-minütigen Ambient-Track „Scene Two” bleibt der Rhythmus zwar aus, aber die Gasleitung an – als würde sie den letzten Druck entweichen lassen. Als Überraschung kommen noch, fast schon versöhnlich, wohlklingendes Klirren und fast Glöckchen dazu. Jacob Runge

Surgeon – Shell~Wave (Tresor)

„Was bedeutet Techno für dich?” ist eine Standardfrage in Interviews, mit der Journalist:innen Artists oder DJs etwas Persönliches entlocken und Leser:innen Anknüpfungspunkte bieten wollen. Vielleicht fühlen wir ja ähnlich wie die Gefragten. Aber was soll Mensch darauf sagen? Surgeon ist da auch immer ratlos und beantwortet diese Frage nun mit einem neuen Album. Shell~Wave ist der vielsagende Titel, mit dem er die Sounds, die Techno für ihn bedeuten, definiert.

Untrennbar damit zusammen hängen Produktionstechniken und -mittel wie Waveshell, eine bekannte Software. Im Deutschen kann man „Shell” mit „Hülle” übersetzen, und Hüllkurven prägen den Sound. Aber der englische Fachbegriff heißt hier „Envelope”. Eine „Shell” ist auch der äußerste Teil eines Computersystems, mit dem die User auf die darunter liegenden Systemteile zugreifen. Und eine „Wave(form)” ist die sichtbar gemachte physikalische Schwingung, die wir als Musik hören. Im Albumtitel verbindet das Ungefähr-Zeichen Tilde diese beiden Elemente. Techno ist etwas Maschinistisches, das nur ungefähr mit dem zusammenhängt, was wir erfahren, auch wenn die Waveform physikalisch festgesetzt ist. Oder anders: zwischen Maschine und Natur hängt der Mensch mit seinem subjektiven Hörerlebnis. Doch die meisten Menschen haben kein Wissen über Produktionstechniken und denken bei diesem Wortpaar vielleicht eher an eine Muschel, die von einer Welle in Form eines Tildezeichens gewogen wird. Und wie klingt das jetzt? Nach Techno in reiner Form, wie auch immer er in Ohren und Herzen ankommt. Minimalistisch in der Fokussierung auf wenige Elemente, die sich entwickeln. Abwechslungsreich in der Auswahl dieser Elemente, von Rhythmen bis Echos. In die Mitte des Albums setzt Surgeon einen Ruhepol mit dem Ambient-Dub-Track „Dying”. Wo keine Bassdrum, da kein Techno. Trotzdem gehören Ambient und Hallflächen dazu. Martina Dünkelmann

Wrecked Lightship – Drained Strands (Peak Oil)

Peak Oil ist ein Label für experimentelle elektronische Musik, auf dessen Veröffentlichungen sich oft abstrakte rhythmische Elemente mit Tropen aus Techno und Ambient mischen. So auch auf den LPs von Wrecked Lightship, einem Duo aus UK-Urgestein Appleblim und seinem Kollegen Adam Winchester alias Wedge. Die beiden basteln seit 2022 gemeinsam an dekonstruierter Clubmusik und verwischen die Spuren von Drum’n’Bass und Dub mit mystischen Anleihen und gleichzeitig futuristischem Sounddesign.

So geht die Reise auch auf ihrem mittlerweile vierten Langspieler Drained Strands von Footwork und Jungle bis zu Dub Techno und wirft dabei allerlei neue Fragen auf: Wo hört Ambient auf und fängt Dance Music an – oder andersherum? Der Titeltrack etwa fordert mit diversen Polyrhythmen aufmerksames Zuhören, während „Delinquent Spirits” auf tiefenentspannten Subs wabert und die Headz davonschweben lässt. Droniger und texturierter sind die Mittelstücke „Ultra Red” und „Reeling Mist”, Letzteres von dichten Synth-Chords vernebelt, die an Boards of Canada erinnern. „Lagoon” schlägt die Brücke zum Dancefloor als rootsiger Stepper mit eisig schimmernden Ambient-Soundcapes, bevor der Schlusstrack „Somnium Sands” wieder zurück zum ätherischen Klangebilde führt, dessen Kopfkino eine dichte Atmosphäre irgendwo zwischen Sci-Fi-Futurismus und vorzeitlicher Höhlen-Meditation schafft.
Leopold Hutter

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