Teil 1 der essenziellen Alben findet ihr hier, Teil 3 hier.
Eli Keszler – Eli Keszler (LuckyMe)
Nach der Musik ist vor der Musik. In jener sensiblen Nach-Zeit, irgendwo zwischen Clubausklang und Straßenleere, zwischen Morgengrauen und geistiger Zerfaserung, entfaltet sich Eli Keszlers neues Album wie ein rätselhaftes Postskriptum zur Nacht. Eli Keszler ist Ambient Jazz für die Afterhour: ein Zustand, kein Genre; eine diffuse Emotion, kein klarer Beat.
Schon der Opener „Wild Wild West” weckt Erinnerungen an Jarmusch’sche Filmräume: staubtrockene Atemzüge, hallende Gitarren im Hintergrund, Klangfetzen wie aus einem schäbigen Motel-TV. Es ist Musik, die durch die Wände sickert – ein Western, der sich selbst vergessen hat. Keine Pose, sondern Fragmente von Erinnerung. Und irgendwo dazwischen: ein Schlagzeug, das nicht schlägt, sondern tastet. Mit „Ever Shrinking World” zieht Keszler die Fäden weiter auseinander. Hier betritt er die Sphäre des Ambient Jazz in seiner abstraktesten Form – kein Rhythmus, keine Harmonie, nur Interaktionen zwischen Raum und Zeit. Ein saxofonisches Raunen, das sich auflöst wie ein Gedanke beim Einschlafen. Der Track ist mehr Landschaft als Musik: ein leerer Platz mit einer entfernten Lichtquelle. „We Don’t Need the Weather” schließlich wirkt wie das perkussive Echo eines Innenlebens. Die Trommeln sind nicht gebaut, um zu treiben, sondern um zu verweilen. Granulare Texturen zerfallen, strukturlose Rhythmen flirren wie Lichtmuster hinter geschlossenen Lidern. Keszler macht hier das Schlagzeug zum Stimmungsträger – körperlich, aber nicht greifbar; bestimmt, aber nie dominant.
Überhaupt ist dieses Album kein klassisches Statement, sondern ein lose vernetzter Gefühlsraum. Songs erscheinen wie Erinnerungen, kurz aufblitzend und gleich wieder verblassend. Mal noir, mal spirituell. Jazz taucht auf, nicht als Stil, sondern als Haltung: offen, prozesshaft, entgrenzt. Ambient wirkt hier nicht beruhigend, sondern wie eine Frage ohne Antwort. Die Musik verlangsamt die Welt, ohne sie zu stoppen. In dieser Nachklang-Zeit zwischen Club und Stadt, zwischen Nachtleben und Lebensnacht, ist Eli Keszler genau das richtige Album: eine zerbrechliche Konstruktion aus Intimität, Dissonanz und melancholischem Auflösen. Afterhour-Musik für Menschen, die nicht heimkommen, sondern weitergehen wollen – in sich hinein. Liron Klangwart

Elli – Elli (Horisontal Mambo)
Elli ist eine Meisterin der Reduktion, alles auf ihrem selbstbetitelten Debütalbum ist richtig dosiert: Romantik, Melancholie, Abgründe, Zuckerguss. Nichts wirkt übertrieben, nichts aufdringlich, alle Stücke bleiben komplett frei von Hysterie und Produktions-Terror. Eine Art „kosmischer Synthie-Pop”, wie das Label ihre Musik beschreibt, trifft auf ambiente, instrumentale Kleinode, die wie musikgewordene Emojis (oder für die Älteren unter euch: Poesiealbum-Verse) wirken. Ganz nebenbei streut sie in ihre Tracks ungewöhnliche harmonische Wendungen ein, die man selten im Electro-Pop-Whatever-Kontext zu hören bekommt.
Und dann covert sie auch noch „Mother Of Pearl” von Roxy Music und hat selbstverständlich den Mut dazu, den Song nur als Ahnung, als sonisches Destillat ohne Werktreue zu inszenieren – tschüss, Rockism. Was ihre darauf folgende Arpeggio-Meditation „Lunar” umso strahlender und letztlich einfallsreicher erscheinen lässt. Das ganze Album besitzt eine unterschwellige Sogkraft wie eine gute Gen-Z-Serie, wie eine Kammerspielversion von Euphoria minus Soft-Porno-Ausrutscher – nicht umsonst kommt der Begriff „Euphorie” zweimal im Pressetext vor. Die euphorischen Gefühlsausbrüche finden allerdings unter einer gemütlichen Decke hinter zugezogenen Gardinen statt. Songtitel wie „Nostalgia”, „Sky Secrets”, „One Last Time” oder „Free Fall” zeugen nicht gerade von Extrovertiertheit im Hier und Jetzt, Ellis Musik aber trotzdem von Selbstbewusstsein und einer sympathisch-unaufgeregten Lebensfreude. Subtext und Motto könnten lauten: „My home (studio) is my castle”. Mathias Schaffhäuser

Emptyset – Dissever (Thrill Jockey)
Wie weit können, wie weit sollten experimentelle Ansätze getrieben werden? Wann wird der Hang zum Transgressiven eher stilistischer Ballast als Vehikel für Konventionsbrüche? Aufgenommen während einer Handvoll Sessions in Mat Sampsons Bink Bonk Studio, schälen sich die sieben Tracks auf Dissever wie zischende, dröhnende Verhandlungen dieser Fragen aus den Boxen und sind dabei vor allem eines: lazy. Dabei klangen die letzten Arbeiten von Emptyset geradezu ikonoklastisch. Während auf Borders (2017) jede reguläre auditive Ausgestaltung eines Dancefloors zu feinen Sedimenten pulverisiert wurde, war das letzte Album Blossoms (2019) eine der ersten Iterationen generativer Musik zwischen Post-Industrial, Power Noise und elektroakustischen Experimenten, die tatsächlich wie das Erwachen einer gänzlich außerirdischen Maschinenintelligenz klangen. Etwas Vergleichbares war bis dahin schlichtweg nirgends zu hören. Vieles hätte sich also aus diesem minimalistischen und dennoch geradeheraus verstörenden Sounddesign ziehen und entwickeln lassen. Equipment, Erfahrung und Skill haben James Ginzburg und Paul Purgas ja mehr als genug.
Stattdessen begnügt sich das Duo jedoch auf Album Nummer sechs mit einer Sammlung sägender Distortions, die in Sinuskurven an Intensität gewinnen und verlieren. Vom pulsierenden „Gloam” über das irgendwie ebenfalls pulsierende „Lucent” bis zum, nunja, abermals durchpulsenden „Dawn” ist es ein kontinuierliches An- und Abschwellen noisiger Drones, die stellenweise durchaus mal bedrohlich, maschinell und vielleicht auch irgendwie artsy klingen können. Vermutlich soll dieses Album auch gar nicht mehr sein. Eine Begleitmusik für Kunstgalerien, in denen die Geschichte menschlicher Technologien und ihre kulturellen Auswirkungen zur Disposition gestellt werden. Kann man machen. Taugt vielleicht sogar als Soundcheck für neue Speaker, aber darüber hinaus? Eine Rückbesinnung auf den viszeral brodelnden Minimal Techno ihres genialen Debüts hätte Emptyset sicher besser zu Gesicht gestanden. Weniger ist oft genug eben weniger. Nils Schlechtriemen

Kara-Lis Coverdale – From Where You Came (Smalltown Supersound)
Ah, toll. Mit anzusehen, mit anzuhören, wenn eine Künstlerin weitergeht, immer dichter layert, und am Ende kommt doch mehr Vitalität heraus, mehr Eigensinn, mehr Freiheit, mehr. Kara-Lis Coverdale sagt inzwischen Dinge wie „Die Stimme liegt jenseits des Menschlichen”, und das ist „Habitat” anzuhören. In seinen gleitenden, öffnenden Flächen, hergestellt aus allen möglichen Tasteninstrumenten. Auch „The Placid Illusion” bewegt sich wie ein Ahornbaum im Frühlingswind am lauen Abend, die Dinge kommen ins Schweben.
Coverdale ist in Kanada aufgewachsen, hat schon im Alter von 13 Jahren Kirchenorgel gespielt und Chöre dirigiert, dann Musik studiert. Nach diversen Alben- und Soundtrack-Veröffentlichungen konnte sie Aufenthaltsstipendien etwa in Paris und Stockholm ergattern. Das Wunderkindhafte ist zwar irgendwie da in From Where You Came, etwa in „Offload Flip”, wo schabende, fauchende Beats mit verträumten Kristallklängen koalieren. Doch wie hier oder im berauschenden „Flickers In The Air Of Night” gewinnt das Losgelöste, die Abwendung von den Regeln, die sie ja kennt. Und es tauchen auf: Neugierige Erkundungen mit Witz. Die Frage könnte lauten, wie wohl heute Ambient klingen mag. Christoph Braun

loscil – Lake Fire (Kranky)
Vor vier Jahren landete Scott Morgan alias Loscil einen Ambient-Hit mit Clara, einem Album, das sein Material aus drei Minuten Streichermusik bezog, die Morgan selbst schrieb und von einem Orchester einspielen ließ, um sie danach zu bearbeiten, zu loopen oder zu verfremden. Auf Lake Fire geht er bescheidener vor, was auch mit den Umständen zu tun haben könnte, unter denen das Album entstand. Die neun Tracks beendete Morgan unter dem Eindruck der Waldbrände in Kanada 2023, die er, unterwegs in den Bergen von British Columbia, sogar aus der Nähe erlebte. Seinen früheren Plan, ein Album für Elektronik und Ensemble zu machen, gab er wieder auf und arbeitete die schon begonnenen Stücke noch einmal völlig um. Statt schwerelosen Klängen meint man, sich langsam verschiebende Flächen von einigem Gewicht zu hören, die Sounds knirschen leicht, wenn sie sich durch die Zeit bewegen, haben Schichten von Verzerrer-Patina angesetzt. An einigen Stellen kommen Ansätze von Dub hinzu, einzelne Instrumente wie Klavier oder Kontrabass lässt Morgan sich hier und da aus den Krusten von getragenem Rauschen herausschälen. Man meint, ihm beim Nachdenken über den Verlust um sich herum zuzuhören, mit leichter Wut, zugleich aber dem Staunen über die Gewalt entfesselter Natur. Tim Caspar Boehme
