Richie Hawtin wirkt enttäuscht. Lange Minuten spricht der DJ in nachdenklichen Sätzen in seine Handykamera: Heute sei einer der traurigsten Tage unserer Clubkultur, sagt er. Die Szene könne ohne Solidarität nicht existieren. Und: Ohne die Musik gebe es auch keinen DJ.
Manche seiner 800.000 Instagram-Follower werden an diesem Tag das erste Mal von Aslice hören – ein DJ-zahlt-Producer-Service, der 2022 startete. Sein Ziel: DJs sollten einen kleinen Teil ihrer Gage an jene Produzierenden zahlen, deren Songs sie spielen. Man nannte es fairere Verteilung, andere sagten Spende dazu. Und immer wieder hieß es auch: Hier wird die Musikszene revolutioniert.
Inzwischen ist die Revolution gescheitert. Aslice funktionierte, rechnete sich aber nicht. Auch wenn in Timelines und Kommentarspalten viele DJs aus Techno und House dabei gewesen sein wollen – am Ende haben zu wenige mitgemacht. Und etwas losgelöst, das Aslice schon früher gebraucht hätte: eine Diskussion über die Verantwortung der sogenannten Szene.
Hände hoch, das ist kein Überfall!
Der „Szene” fehle es an „Solidarität”, heißt es. Sie, die „Solidarität”, reiche nämlich nur bis zur eigenen Brieftasche. Und wenn nur ein paar mehr einen Teil ihrer Gage gespendet hätten – ja, dann wäre wohl alles besser geworden.
Allerdings lässt sich Solidarität schwer erzwingen. Dass „die Szene” auf „Peace, Love & Unity” gründe, wie Hawtin meint, ist bestimmt richtig. Vielleicht für manche ein immer noch ehrlicher Glaube. Allerdings darf man inzwischen eher hoffen, dass St. Pauli Meister wird als dass hier alle mit allen können.
Das merkt man auch, wenn man die Perspektive verschiebt. Weg von Aslice, weg von der DJ-Producer-Beziehung. Hin zu jener, die kurz vor der Tür beginnt, an der Garderobe entlangführt und am Dancefloor endet: die Perspektive des Clubs mit den Gäst:innen.
„Was wir heute Clubkultur nennen, hat mit Solidarität so viel zu tun wie eine Begegnung in der Berghainschlange”, sagt Lea*. Sie ist Kulturmanagerin in Berlin und nebenberuflich im Eventmanagement eines mittelgroßen Clubs beschäftigt. Außerdem heißt Lea eigentlich anders. Sie will anonym bleiben, aber über ihre Erfahrungen reden.
„DJs sind Unternehmer – mit dem Unterschied, dass sie am Wochenende ihr Geld verdienen müssen.”
Das Ende von Aslice zeige nämlich ein Symptom der Szene, gerade wenn man das Thema größer betrachte, sich nicht nur auf die DJs fokussiere. „Manche Clubs stehen unter massivem wirtschaftlichem Druck. Sie haben enorm gestiegene Betriebskosten. Die Mieten sind in den letzten Jahren durch die Decke gegangen. Dazu: gestiegene Löhne für die Crew. Und nach der Pandemie kämpfen sowieso alle um ihr Überleben”, so Lea.
„Aber wenn selbst größere Clubs sich kaum mehr über Wasser halten können, wird es schwierig, allen gerecht zu werden.” Schließlich komme es nicht nur auf Solidarität an, sondern auch auf „harte ökonomische Realitäten”. Denn, Lea: „Viele vergessen, dass Clubs nichts anderes sind als Unternehmen und DJs oftmals Unternehmer – mit dem Unterschied, dass sie am Wochenende und nachts ihr Geld verdienen müssen.”
Gekommen, um zu gehen
Lea spricht an, was sich in Zahlen niederschlägt. Allein in Berlin trägt die Clubszene jährlich etwa 1,5 Milliarden Euro zur lokalen Wirtschaft bei. Der zum UNESCO-Kulturerbe erkorene Techno beschäftigt Tausende, von DJs bis zum Dosensammler. Dazu kommen weiterhin Millionen zum Feiern in die Stadt und sorgen für Aufruhr auf Airbnb.
Weltweit wird die elektronische Musikindustrie, zu der auch die Clubkultur gehört, sogar auf über 10 Milliarden Euro geschätzt. Manche sehen Techno schon länger als „neuen EDM”. Und bald werden wir alle jemanden kennen, der schon mal zum Boutique-Festival gejettet ist. Trotzdem bleibt das Geld offensichtlich nicht im Club, bei den DJs und Producer:innen, den vielen, die hinter den Kulissen arbeiten, sich ehrenamtlich betätigen.
Das hat Gründe: Die Krisen der jüngeren Vergangenheit haben viele Clubs nachhaltig verändert. Manche mussten schließen. Andere sehen sich mit einem Dreiklang aus Inflation, Verdrängung und zu wenig Leuten auf dem Dancefloor konfrontiert. Etwas, das auch Locations und Veranstalter:innen zunehmend stärker zu spüren bekommen.
Selbstdarstellung statt Solidarität
Man bewege sich in einer Ellenbogengesellschaft, wo alle permanent so tun, als würden sie die Hand ausstrecken, sagt Thomas*. Seit den frühen 2000ern ist er als Techno-DJ aktiv, hostete jahrelang Partys und „kann von der Sache” inzwischen leben. Unter Klarnamen will er mit GROOVE allerdings nicht reden, weil er „nicht als Nestbeschmutzer” rüberkommen möchte, wie er sagt.
„Es gibt diesen Mythos der Einheit in der Techno-Szene. Das hat sich besonders in Berlin gehalten, aber schon damals kaum gestimmt. Selbst wenn es nach dem Mauerfall so gewesen sein sollte. Heute ist diese Gemeinschaft nur noch Illusion.” Die Realität sei der Profit. Für so etwas wie solidarisches Verhalten habe hingegen kaum noch jemand Ressourcen. „Weder finanziell noch sozial – eben weil der Druck so enorm geworden ist, einen Teil des Kuchens abzubekommen.”
Thomas sagt Sätze, die auch aus Richie Hawtins Videobotschaft stammen könnten: „Wieso gibt es keine Unterstützung aus der Szene. Warum fressen die Großen die Kleinen. Wie einfach soll man die Möglichkeit für Support noch machen.” Der DJ stellt hinter diese Sätze kein Fragezeichen. Er betont sie so, als seien sie ein Appell. Als müsste er sich rechtfertigen für alle, die „nicht eine bessere Basis für alle schaffen wollen, obwohl sie von dieser Basis profitieren”, wie Thomas meint.
„Früher”, sagt er, „haben sich die Leute im echten Leben zusammengetan. Um Clubs zu retten oder gegen falsche Entwicklungen zu protestieren. Heute kämpfen die meisten allein, weil sie Angst haben, dass sie selbst darunter leiden, wenn sie helfen”, so der DJ. „Alternativ postet man halt irgendwas auf Instagram und gaukelt Solidarität vor, während man sich eigentlich selbst profiliert.”
Tausche Herz gegen Faust
Die allgemeine Stimmung in „der Szene” habe sich geändert, sagt Lea. Bei vielen merke man eine Müdigkeit, so etwas wie einen „langen Kater”, der nicht vergehe. Man habe das in den Techno-Trends bemerken können. Alles sei schneller und härter geworden. „Selbst wenn man da nicht mitgezogen ist, war man betroffen. Jetzt sind die Leute drained, auch weil sie den Glauben an den Zusammenhalt verloren haben”, meint die Kulturarbeiterin.
Das höre sich zwar pathetisch an, aber eigentlich, sagt Lea, stimme es schon: „Früher war Techno Widerstand. Heute ist er ein Lifestyle-Produkt.” So etwas wie Solidarität werde dadurch zu einem Marketing-Wort. Es gebe einen Widerspruch zwischen den Werten, die nach außen hin präsentiert werden. Und dem tatsächlichen Handeln innerhalb der Szene, so Lea.
„Das bringt den Produzierenden auch keine soziale Absicherung, oder?”
„Statt echter Veränderung begnügen sich viele mit symbolischem Aktivismus”, führt die Eventmanagerin weiter aus. „Solidarität wird so zum inhaltslosen Image-Tool, das den Anschein von Gemeinschaft und Zusammenhalt erweckt, obwohl der Einsatz in der Praxis fehlt.”
Gleichzeitig mache es die öffentliche Betonung von Solidarität schwieriger, auf wirkliche Widersprüche und Ungerechtigkeiten hinzuweisen, sagt Lea. „Man wird als Störfaktor wahrgenommen, wenn man sagt, wie es ist. Eben weil sich alle schon für irgendwas solidarisiert haben und glauben, mit ihrer Story einen Beitrag für eine gerechtere Zukunft getan zu haben.”
Am Beispiel von Aslice habe man das sehr gut verfolgen können, sagt Lea. Während der operativen Phase des Dienstes habe sie keinen einzigen DJ gesehen, der das Projekt öffentlich beworben hätte. „Plötzlich ist es vorbei und alle wollen tränenreich dabei gewesen sein. Sie posten ein Faust-Emoji und ein Herz. Aber das bringt den Produzierenden auch keine soziale Absicherung, oder?”
Treffen, reden, heilen
Online-Aktivismus sei häufig einfache, schnelle Selbstbestätigung, aber letztendlich auch immer Entfremdung von politischer Arbeit, schreibt die Soziologin Veronika Kracher. Praktische Arbeit möge hingegen anstrengend, aber sehr viel effektiver sein. Denn politische Hoffnung werde nicht über Instagram-Slides vermittelt, so Kracher. Sie drücke sich in der konkreten Erfahrung von Solidarität aus.
Die Soziologin meint damit Demonstrationen und Streiks, Vorträge oder auch nur eine „Soli-Party” – jedenfalls analoge Erfahrungen, die man im direkten Austausch mit einem Gegenüber macht. Denn diese „physische Erfahrung” von Zusammenkommen mit Menschen, die für das Gleiche einstehen, könne zur „heilsamen Erfahrung” werden.
Es zeige sich dadurch nicht nur, dass man nicht alleine sei. Der direkte Austausch ermögliche vor allem die eigene Reflexion. Die Auseinandersetzung im echten Leben vermittle nämlich Empathie, Kritikfähigkeit und Geduld. Etwas, das sich in verkürzten Posts und Timeline-Diskussionen niemals umsetzen lässt, weil dort Widersprüche ausgeblendet werden, so Kracher.
Darmwind auf dem Dancefloor
An der Stelle mögen manche einwenden: Die größten Demonstrationen der Welt sind Techno-Feiern. Und das mag für manche auch stimmen. Aber was bleibt zwischen Open-Air-Kicks und der nächsten Nase wirklich hängen, wenn man dort was von Liebe und Freiheit ins Mikro stammelt?
Thomas hat dazu eine klare Meinung. „Viele vertauschen Solidarität mit Sendungsbewusstsein.” Das sei reine Selbstdarstellung und habe mit Solidarität so viel zu tun „wie Darmwind auf dem Dancefloor: Sie vergiftet das Klima und erzeugt Druck, sich andauernd äußern zu müssen.”
Gerade Touring-DJs seien inzwischen wie Marken, so Thomas. „Zwischen Tourplan und Morgenroutine postet man politische Statements. Je nachdem, in welche Richtung die Fahne weht, von der man sich Gewinn erhofft. Weil, so Thomas weiter: „Gewinnen wollen alle. Das geht aber nur, wenn du das Spiel spielst. Und dieses Spiel lässt keine echte Solidarität zu.”
„Menschen sind soziale Wesen, sie sind empathisch”
Weniger pessimistisch sieht das Lea. Auch wenn die Kulturarbeiterin „eine veränderte Szene” wahrnimmt: „Solidarität ist nicht tot, sie sieht nur anders aus.” Und müsse sich an die neuen Bedingungen anpassen. Das sei vor allem eine Herausforderung an die Szene, wie Lea sagt.
„Wir dürfen nicht einfach zurückgucken und meinen, alles sei verloren. Wir müssen neue Wege finden, wie wir uns unterstützen können – finanziell, kreativ, aber auch durch persönliche Vernetzung”, so die Eventmanagerin.
Gegenwärtig zeige sich das noch zu selten, dennoch: „Menschen sind soziale Wesen, sie sind empathisch”, sagt Lea. „Vielleicht einigen wir uns darauf, dass Solidarität nicht immer sichtbar sein muss, um solidarisch zu sein. Dass sich also echte Zusammenhalt nicht in den Vordergrund drängen muss, sondern einfach gelebt wird. Denn unsere Szene ist vieles. Aber da hat Hawtin schon recht: Ohne Musik ist sie nichts.”
*Namen sind der Redaktion bekannt.